Wenn das Tröpfeln versiegt…

In seinem neuen Buch Eine kurze Geschichte der Gleichheit fasst Thomas Piketty wichtige Erkenntnisse aus seinen bisherigen ökonomischen Studien zusammen und beschäftigt sich mit der Messung von Ungleichheit basierend auf Daten diverser Staaten aus mehreren Jahrhunderten. Dabei bezieht er nicht nur klassisch ökonomische Maße wie Einkommens- und Vermögensverteilung heran, sondern lenkt ebenfalls den Fokus auf politische Faktoren wie Bildungszugang, Sklaverei, Wahlrecht oder gesetzliche Gleichstellung.

Die simultane Betrachtung all dieser Faktoren erscheint sinnvoll, da die Geschichte der Vermögensgleichheit auch die Geschichte der Demokratisierung ist. Trotz aller Probleme mit sozialer Ungleichheit war es noch nie in der Geschichte der Menschheit so gut um die Gleichheit (de jure) zwischen den Menschen bestellt wie heute. Der Schutz des Eigentums und der Rechte des Einzelnen von heute ist kaum zu vergleichen mit der rechtlichen Lage in den letzten Jahrhunderten. Beispielsweise in Großbritannien existierten diverse Gesetze zur Zeit der industriellen Revolution, die explizit die Lage armer Menschen verschlechtern sollten. Der Black Act (1723) verschärfte den Diebstahl von Holz zum Heizen sowie das Schießen von Kleinwild und stellte beides unter die Todesstrafe. Der Enclosure Act (1773) verschärfte die Arbeitslosigkeit drastisch. Das Gesetz sah vor, dass arme Bauern Gemeingrund nicht länger als Weideland für ihr Vieh nutzen konnten. Außerdem existierte bis 1875 eine Regelung namens Master and Servant Act, die sämtliche Rechte auf Seiten des Arbeitgebers verortete und diesem die Macht gab, die Löhne mehr oder weniger beliebig zu verringern (Piketty, 2021).

Wenig überraschend waren die Verhältnisse in den Kolonien noch drastischer. Auf Haiti bestand die Bevölkerung Ende der 1780er Jahre zu 90% aus Sklaven. Auf vielen anderen Inseln, die als Sklaveninseln bekannt waren, war der Anteil der Versklavten nicht deutlich geringer. Auch nach Abschaffung der Sklaverei blieb in den Kolonien Unterdrückung an der Tagesordnung. Die Sklaverei wurde von der Zwangsarbeit abgelöst und existierte bis 1946 fort (Piketty, 2021).

Die Entwicklung sozialer Gleichheit in Europa kann also nicht isoliert vom Kolonialismus betrachtet werden. Oder, um die Worte von Mephisto in Goethes zweitem Teil von Faust zu gebrauchen:

„Krieg, Handel und Piraterie,

Dreieinig sind sie, nicht zu trennen.“ (Goethe, 1832)

1. Auf dem Weg in eine gerechtere Moderne

Der entscheidende Schritt hin zu einer egalitären Gesellschaft erfolgte am 4. August 1789, als im Zuge der Französischen Revolution die Adelsprivilegien abgeschafft wurden. Frankreich reagierte damit auf den wachsenden Druck durch soziale Unruhen, die sich im Sturm auf die Bastille und in den Bauernaufständen entluden, bei denen Bauern die Schlösser stürmten und Eigentumstitel zerstörten. Doch der Adel büßte zunächst nur einen Teil seiner Privilegien ein, während er in den darauffolgenden Jahren durch das Zensuswahlrecht weiterhin einen Großteil seines Einflusses wahren konnte (Piketty, 2021).

Interessant an der Französischen Revolution ist vor allem, auf welche Weise sich die Vermögensumverteilung im Zuge der Revolution vollzog. Zwar wurde das gesamte Kirchenvermögen Frankreichs zusammen mit beinahe 25% des Immobilien- und Grundvermögens des Königreichs verstaatlicht, jedoch wurde es anschließend an diejenigen versteigert, deren Mittel für den Erwerb ausreichten. Man kann dies durchaus als eine der ersten kapitalistischen Privatisierungswellen bezeichnen. Infolge dieser Umverteilung verzeichneten sowohl der Adel als auch die bürgerliche Schicht einen großen Zuwachs an Eigentum, während die von der Kirche bereitgestellte soziale Infrastruktur in Form von Krankenhäusern, Schulen oder Armenküchen fast gänzlich entfiel. Die Bilanz dieses gesellschaftlichen Umbruchs fällt gemischt aus: Zum einen waren die Bürger nicht länger der Willkür ihrer adligen Herren ausgeliefert und profitierten von einem vereinheitlichten Rechtssystem. Gleichzeitig nahm die Einkommenskonzentration bei den oberen 1% der französischen Gesellschaft kaum ab und stieg schließlich zwischen 1800 und 1910 wieder an (Piketty, 2021).

In diesem Prozess vollzog sich auch ein Wandel der Ideologie. Während im Feudalismus die Existenz der Stände noch durch ihre gesellschaftliche Funktion gerechtfertigt war, wurde diese nun allmählich durch die Logik der Profitmaximierung ersetzt. Im Feudalismus bestand die Aufgabe der Kirche schließlich zu einem erheblichen Teil in der karitativen Funktion, während für den Adel mit all seinen Rechten und Reichtümern die Verantwortung anfiel, die gesellschaftlichen Strukturen stabil zu halten (Piketty, 2021). Dieser Gedanke einer bestimmten sozialen Verantwortung entfiel in der Moderne. Dieser Strukturwandel von der feudalen zur modernen Gesellschaft wurde bereits von Marx und Engels erkannt:

„Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckige Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Menschen und Mensch übriggelassen, als das nackte Interesse, als die gefühllose »bare Zahlung«.“ (Marx & Engels, 1848)

Marx und Engels verfassten diese Zeilen vor dem Hintergrund des Liberalismus, einer ökonomischen Strömung, die von der industriellen Revolution vorangetrieben wurde und sich vor allem gegen den Merkantilismus richtete. Diese Weltanschauung entzog das Vermögen vollständig der Sphäre des Öffentlichen und rückte es auf die Seite des Privaten, ohne Verantwortung oder eine bestimmte soziale Rolle von den Besitzenden zu verlangen. Es sei jedoch anzumerken, dass Marx und Engels keineswegs die befreiende Kraft des Kapitalismus negierten, die den Feudalismus zum Einsturz brachte.

Dennoch sollte dieser ideologische Kern, der zwischen Menschen nichts weiter als Interessen sieht, im Neoliberalismus eine noch deutlichere Ausprägung finden. An dieser Stelle müssen wir begrifflich präzise sein. Wenn heutzutage über Neoliberalismus gesprochen wird, ist damit in der Regel eine ganz bestimmte Wirtschaftsauffassung gemeint, die maßgeblich von Friedrich August von Hayek und Milton Friedman geprägt wurde. Im heutigen Verständnis steht dem Neoliberalismus der Ordoliberalismus gegenüber, der in der sozialen Marktwirtschaft eine mögliche Ausprägung hat. Allerdings ist dieser Gegensatz eine neuere Entwicklung. Denn als der klassische Liberalismus in eine Krise geriet, waren es zunächst ordoliberale Konzepte, die sich darum bemühten, ihn neu zu begründen. Zentral sind dabei die ökonomischen Konzepte der Freiburger Schule (Walter Eucken, Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow) zu nennen. Doch nicht nur in Deutschland wurde mit dem Begriff auf eine sozialdemokratische Auffassung von Wirtschaftspolitik verwiesen. Der amerikanische Präsident Franklin Delano Roosevelt fasste die Politik des New Deals (die unter anderem die Regulierung der Finanzmärkte und die Einführung von Sozialversicherungen umfasste) unter dem Begriff des Liberalismus zusammen. Allerdings war es gerade dieses Verständnis des Neoliberalismus aus der Mitte des letzten Jahrhunderts, das sich weltweit als einheitliche Auffassung durchsetzte. Die Neoliberalisierung der westlichen Welt fand insbesondere im Thatcherismus in England und in der Reagan-Revolution in den USA ihre deutlichste Ausprägung (Biebricher, 2012). Mit dieser Ausprägung des Neoliberalismus, die sich dezidiert in Opposition zum Ordoliberalismus versteht, trat auch eine neue, radikale Vorstellung von Freiheit auf. Freiheit wurde nicht mehr als Möglichkeit, etwas zu tun, verstanden, sondern ausschließlich als Abwesenheit von Einmischung. In diesem Sinne bestand besagter Begriff der privaten Freiheit unabhängig von jeglichem sozialen oder ökonomischen Kontext (der durch eine intervenierende Politik aufzubrechen sei). Diese radikalisierte Vorstellung der privaten Freiheit wurde vom Begründer des Monetarismus, Milton Friedman, Anfang der 60er Jahre wie folgt formuliert:

„Für den freien Bürger ist sein Land jedoch die Versammlung der Individuen, die es bilden, nichts außerhalb oder gar über ihm Stehendes. (…) Der freie Bürger wird weder fragen, was sein Land für ihn tun kann, noch was er für sein Land tun kann.“ (Friedman, 1962)

In der Paraphrasierung von Margaret Thatcher lautet die Weisung dann bekanntermaßen:

„They are casting their problems at society. And, you know, there’s no such thing as society. There are individual men and women and there are families. And no government can do anything except through people, and people must look after themselves first. It is our duty to look after ourselves and then, also, to look after our neighbours.“ (Thatcher, 1987)

Das, was unter den Begriffen Neoliberalisierung oder (in der konkreten Politik) als Thatcherismus bezeichnet wird, fasst Piketty unter dem Begriff der konservativen Revolution zusammen (Piketty, 2021). In den USA berief sich Ronald Reagan, der von 1981 bis 1989 das Präsidentenamt für die konservative Partei innehatte, auf dieselben Wirtschaftsvorstellungen. Die damit einhergehende Sozial- und Wirtschaftspolitik hatte einen deutlich messbaren Einfluss auf die soziale Gleichheit.

2. Warten auf den Fahrstuhl

Basierend auf den Erfahrungen wachsender Egalität nach Ende des zweiten Weltkrieges, wurden in den 80er Jahren diverse Theorien über den Anstieg sozio-ökonomische Gleichheit entwickelt. Eine davon ist der vom Soziologen Ulrich Beck geprägten Begriff des Fahrstuhleffekts, den er als charakteristisch für die Moderne sah. Beck nimmt an, dass sich die Einkommensunterschiede zwischen Ober- und Unterschicht nicht wesentlich seit dem zweiten Weltkrieg verändert haben. Die Erhöhung des materiellen Wohlstands, die Bildungschancen und der Zugang zu medizinischer Versorgung sind über allen Bevölkerungsschichten hinweg angestiegen. Es sind also alle, unabhängig von ihrer Startposition, nach ,,oben gefahren“ (Beck, 1986). Das gesellschaftliche Versprechen, was in dem beschriebenen Effekt lag, fasste der Ökonom Simon Kuznets wie folgt zusammen:

„Growth is a rising tide that lifts all boats.“1

Ein weiterer bekannter Effekt (der aber keine ökonomische Theorie im eigentlichen Sinne ist) ist der von der Chicagoer Schule popularisierte Trickle-Down-Effekt. Die Grundidee dieses Effekts besteht darin, dass politische Maßnahmen, von denen zunächst vor allem die Wohlhabenden und Großkonzerne profitieren, letztendlich (z.B. durch Investitionen) allen anderen zugutekommen. In den 1980er Jahren popularisierte die Chicagoer Schule diesen Effekt und prägte unter anderem die Steuerpolitik Reagans (Boas & Gans-Morse, 2009; Plumpe, 2010).

Die Idee, dass mit gesamtwirtschaftlichem Wachstum der Wohlstand aller Menschen ansteigen würde, schien damals nicht aus der Luft gegriffen. In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg schien sich nicht nur dieser Satz zu bewahrheiten, sondern es konnte gleichzeitig eine Reduktion der ökonomischen Ungleichheit beobachtet werden. Aufgrund dieser sinkenden Ungleichheit bezogen schließlich die reichsten 10% der Bevölkerung in kapitalistischen Ländern nicht mehr als 30%-35% des nationalen Einkommens. Doch hielt dieser Trend nicht lange an. Ab den 1970er Jahren wuchs die ökonomische Ungleichheit erneut. So entsprach zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Ungleichheit wieder dem Stand der 1920er Jahre des vorherigen Jahrhunderts; 45%-50% des nationalen Einkommens fielen dem oberen Zehntel der Bevölkerung zu (Piketty, 2021). Betrachtet man außerdem den Anstieg des durchschnittlichen Haushaltseinkommens innerhalb wirtschaftlicher Wachstumsperioden (Abbildung 1), so zeigt sich, dass in den 1950er und 1960er Jahren das durchschnittliche Einkommenswachstum der unteren 10% deutlich höher war als das der oberen 10%. Doch mit jeder weiteren Wachstumsperiode war das Einkommenswachstum deutlich ungleicher verteilt, bis schließlich in den 1980er Jahren das Einkommenswachstum der oberen 10% deutlich über dem der unteren 10% lag. Noch mehr hatten die unteren 10% in der ersten Hälfte der 2000er Jahre fast gar nicht mehr am Wirtschaftswachstum teil, und seit 2009 schrumpfte ihr Einkommen sogar noch in Perioden der Expansion, während das Einkommen der oberen 10% sich im selben Zeitraum mehr als verdoppelte (Tcherneva, 2014; Bivens, 2014).

Abbildung 1: Verteilung des Wachstums des Durchschnittseinkommens währen ökonomischen Wachstumsperioden (1949-2012)

Anmerkung. Abgebildet ist die durchschnittlichen Einkommenswachstums während jeder Nach-
kriegsexpansion (vom Tiefpunkt bis zum Höhepunkt) und seine Verteilung zwischen den reich-
sten 10% und den untersten 90% der Haushalte. Das Einkommenswachstum ist mit jeder wei-
teren Expansion in der gesamten Nachkriegszeit ungleicher verteilt. Während der Expansion 
von 1950 - 1953 profitierten die unteren 90% vom gesamten durchschnittlichen Einkommens-
wachstum der Wirtschaft. Seitdem erwirtschaften die oberen 10% der Haushalte einen immer 
stärker wachsenden Anteil des Einkommenswachstums. In der jüngsten Expansion haben sie über
115% des Einkommenswachstums für sich beansprucht, während die Einkommen der unteren 90% 
der Haushalte ein negatives Einkommenswachstum aufwiesen (Tcherneva, 2014; Bivens, 2014).

Im Verlauf dieser wachsenden Ungleichheit und der zeitlich einhergehenden Deindustrialisierung sowie der Kürzung der Sozialleistungen verdienten im Jahr 2017 gemäß einer Studie von Oxfam 8 Milliardäre so viel wie die untere Hälfte der Weltbevölkerung. Das obere Prozent der Weltbevölkerung besaß in diesem Jahr 50,8% des weltweiten Vermögens (Handelsblatt Online, 2017). Der amtierende US-Präsident Joe Biden konstatierte im vergangenen Jahr, dass der Tickle-Down-Effekt noch nie funktioniert habe (Elliott, 2021).

Wie sieht es nun mit der Entwicklung der Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland aus (Abbildung 2)? Unmittelbar nach der Wiedervereinigung im Jahr 1991 betrug der Gini-Koeffizient der verfügbaren äquivalenzgewichteten Haushaltsnettoeinkommen in Westdeutschland 0,245 Punkte. Zunächst stieg die Ungleichverteilung noch langsam an, doch ab 1999 beschleunigte sich der Anstieg der Ungleichheit. Von 1999 bis 2007 erhöhte sich der Koeffizient auf über 0,29. Diese Phase war von hoher Arbeitslosigkeit und schwacher Lohnentwicklung geprägt, während im selben Zeitraum die Kapitalmärkte hohe Renditen generierten. In der Mitte der 2000er Jahre endete der drastische Anstieg der Einkommensungleichheit. Zunächst sank der Gini-Koeffizient sogar leicht bis 2009, blieb jedoch deutlich über dem Niveau der 1990er Jahre. Seitdem ist jedoch erneut ein Anstieg der Einkommensungleichheit in Deutschland zu beobachten. Im Jahr 2019 erreichte der Gini-Koeffizient einen neuen Höchstwert (WSI, 2022).

Abbildung 2: Entwicklung der Ungleichverteilung in Deutschland (1991-2020)

Anmerkung. Unter Gini-Koeffizient versteht man einen statistischen Verteilungskoeffiziente
einer Ausprägung in einer Population. In der Ökonomie quantifiziert er das Ausmaß, in dem 
die Einkommens- oder Vermögensverteilung in der Bevölkerung von der vollkommenen Gleich-
heit abweicht. Normalerweise wird der Gini-Koeffizient als Wert zwischen 0 und 1 darge-
stellt, wobei 0 für vollkommene Gleichheit (jeder hat das gleiche Einkommen/Vermögen) und
1 für vollkommene Ungleichheit (eine Person hat das gesamte Einkommen/Vermögen). Wie man 
sieht, ist die Ungleichverteilung der verfügbaren Haushaltseinkommen in Deutschland seit 
1991 kontinuierlich angestiegen (WSI, 2022).

Aufbauend auf Pikettys Analyse lässt sich festhalten, dass Becks Annahme, es könnte einen anhaltenden Anstieg des Wohlstandes bei gleichbleibenden Einkommens- und Vermögensunterschieden geben, falsch zu sein scheint. Der Zugang zu Bildung, medizinischer Versorgung und anderen Gütern wurde gerade dadurch demokratisiert, dass eine Umverteilung der Vermögen (z.B. durch Steuerprogression) und der Macht durch den Staat vorgenommen wurde. Man denke in diesem Zusammenhang einmal an die Diskussion über die Patentfreigabe der Impfstoffe für den globalen Süden in der Corona-Pandemie. Ebenfalls ist einzuführen, dass der allgemeine Zugang zu Bildung in der Bundesrepublik so stark wie noch nie vom Einkommen der Eltern abhängig ist (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2021).

In der nicht-westlichen Welt sieht die Lage noch deutlicher aus. Die forcierte Deregulierung und Handelsliberalisierung treffen vor allem die ärmsten Staaten der Erde. Schaut man sich die Steuereinnahmen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt an, sieht man, dass sie in den Jahren 1970-1980 und 1990-2000 zurückgegangen sind. Dieser Einnahmeneinbruch ist vor allem auf das Wegfallen von Zöllen zurückzuführen, da der Abbau von Zöllen innerhalb eines kurzen Zeitraums durchgesetzt wurde, der den Staaten nicht ausreichend Zeit zur Einführung neuer Einnahmequellen ließ. Notwendige Investitionen in Bildung und Gesundheit lassen sich damit nur schwer finanzieren (Piketty, 2021). Ein besonderes Instrument zur Durchsetzung des Washington-Konsenses besteht in der Entwicklungshilfe. Der Träger des Alfred-Nobel-Gedächtnispreises, Angus Deaton, wies darauf hin, dass der Strom der Hilfsgelder die Effektivität der Politik schwächt, da die Geber die Hilfsgelder an Vorgaben über politische Maßnahmen koppeln, die eigentlich in die Souveränität der betroffenen Länder fallen sollten (Deaton, 2013).

Auffällig ist, dass die Argumente, die gegen jede Form der Unterstützung anderer Staaten angeführt werden, denen ähneln, die im Inhalt vorgebracht werden, um den Sozialstaat in Misskredit zu bringen. In beiden Fällen wird argumentiert, die Hilfe würde eben jenes Verhalten fördern, das in erster Linie für die Armut der Betroffenen verantwortlich ist (Deaton, 2013). Diese Argumentation kann nur dadurch aufrechterhalten werden, dass die Zwangslage, in der sich Individuen oder Staaten befinden, ignoriert wird. Die vor allem in den USA vorkommende konservative Kritik am Sozialstaat geht sogar noch weiter. Sie interpretiert eben jene politischen Maßnahmen, die der Umverteilung dienen, zur tatsächlichen Abhängigkeit um.

3. Was tun?

Betrachtet man das Land Schweden, so kommt man nicht umhin, sich die Frage zu stellen, ob sozialdemokratische Politik nicht deutlich mehr zur Gerechtigkeit in einem Land beitragen kann, als man es zunächst annehmen möchte. Denn innerhalb nur weniger Jahre verwandelte sich Schweden von einem stark inegalitären proprietaristischen Gesellschaftssystem zu einem Land, das zu den egalitärsten der Welt gehört.

Von 1865 bis 1911 existierte in Schweden ein Zensuswahlrecht. Die Bürger verfügten bei Wahlen über Stimmen, deren Anzahl von ihrem Grundbesitz, ihrer Steuerhöhe und ihrem Einkommen abhängig war (Bengtsson, 2019). Gerade einmal 20% der Männer im Land waren reich genug, um bei Wahlen ein Stimmrecht zu haben. Die ärmsten dieser Männer hatten gerade einmal eine einzige Stimme, während die Reichsten bis zu 54 Stimmen hatten. Bei Kommunalwahlen kam es bisweilen vor, dass eine einzige Person über mehr als 50% aller Stimmen verfügte. Außerdem waren bei Kommunalwahlen Aktiengesellschaften ebenfalls stimmberechtigt (Piketty, 2021).

Vor Beginn des Ersten Weltkrieges war die Einkommenskonzentration in Schweden vergleichbar mit der in Frankreich und Großbritannien. Gleichzeitig hatte Schweden aber die Koppelung politischer Macht an das Vermögen deutlich stärker in der Verfassung verankert als andere europäische Länder. Das politische System Schwedens war wie folgt organisiert: Das Oberhaus wurde von den reichsten Großgrundbesitzern (insgesamt weniger als 1% der schwedischen Männer) bestimmt. Das Unterhaus hingegen wurde von einer ebenfalls nach dem Zensuswahlrecht gewählten, jedoch deutlich größeren Minderheit (ca. 20% der Männer) besetzt. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde die Einkommensbedingung für Männer bei Wahlen vollständig abgeschafft, und 1921 wurde das allgemeine Wahlrecht für Frauen eingeführt (Piketty, 2021). Anfang der 1920er Jahre kamen schließlich die Sozialdemokraten an die Macht, nachdem Arbeiterschaft und Gewerkschaften intensiv für sie geworben hatten. Sie führten eine progressive Einkommenssteuer ein, um der Bevölkerung einen in dieser Zeit egalitären Zugang zu Gesundheit und Bildung zu ermöglichen. Bis 2006 waren die schwedischen Sozialdemokraten fast ununterbrochen in der Regierung, und heute zählt Schweden zu den egalitärsten Ländern der Welt (Piketty, 2021). Inzwischen steht Schweden auf dem siebten Platz (vor Deutschland) der am weitesten entwickelten Ländern der Welt (Conceição, 2022).

Der Fall Schweden zeigt zum einen, was sozialdemokratische Politik leisten kann und wie sehr unser heutiges Verständnis eines demokratischen Rechtsstaates von den Kämpfen geprägt ist, durch die die Konzentration von Eigentum, Macht und lebensnotwendiger Ressourcen zu nicht unerheblichen Teilen aufgelöst wurde. Allerdings sind selbst die egalitärsten Gesellschaften der Gegenwart noch weit davon entfernt, allen Bürgern dieselben Möglichkeiten und Ressourcenzugänge zu ermöglichen. Wie bereits erläutert, steht insbesondere die ökonomische Umverteilung und progressive Einkommenssteuer im Fokus des Angriffs durch die konservative Revolution. Insbesondere der Einfluss von kapitalstarken Interessensgruppen auf Parteien und meinungsbildende Institutionen wie Thinktanks oder Medien stellt eine Bedrohung für die sozialstaatliche Demokratie dar. Das Finanzierungsproblem, so Piketty, wurde trotz all dem Fortschritt nie hinreichend gelöst. Daraus schließt er folgendes:

„Grundsätzlich hätte es auf der Hand gelegen, das allgemeine Wahlrecht um ein System zu ergänzen, in dem jeder Bürger über die gleiche Summe verfügt, um Parteien und politische Bewegungen zu unterstützen, verbunden mit dem absoluten Verbot von Großspenden und der strikten Begrenzung von Wahlkampfausgaben, um allen Kandidaten und allen Wählern die gleichen Bedingungen einzuräumen. Und man könnte sich sogar vorstellen, dass die damit hergestellte politische Gleichheit von der Verfassung garantiert und mit der gleichen Entschlossenheit verteidigt würde wie das allgemeine Wahlrecht selbst.“ (Piketty, 2021).

Folgt man Piketty, so lässt sich der Weg in eine gleichberechtigte Gesellschaft nur dann fortsetzen, wenn die Steuerprogression und Umverteilung gegen die Angriffe der konservativen Revolution verteidigt werden und die radikale Parteien-, Wahlkampf- und Medienfinanzierung durch staatliche Maßnahmen drastisch eingeschränkt wird. Um allen Ländern der Welt eine Entwicklung in eine egalitäre Richtung zu ermöglichen, müssen außerdem den Staaten Maßnahmen zur unabhängigen Generierung von Staatseinkommen gewährt werden, welches genutzt werden kann, um den Bürgern einen gerechten Zugang zu relevanten Ressourcen wie Bildung und medizinischer Versorgung zu ermöglichen.

4. Kritische Würdigung

Thomas Piketty ist zweifellos einer der wichtigsten ordoliberalen Ökonomen der Gegenwart. Sein neues Buch greift viele seiner Studienergebnisse auf, die er bereits in vorherigen Publikationen dargelegt hatte. In Eine kurze Geschichte der Gleichheit steckt Piketty sich nun selbst das Ziel, seine bisherigen Erkenntnisse allgemeinverständlich aufzubereiten. Dies gelingt ihm auch recht gut. Sein Buch dürfte auch Laien einen guten Einblick in diverse ökonomische Themen bieten.

Wie inzwischen deutlich geworden sein sollte, fokussiert Piketty sich bei seiner historischen Herleitung des aktuellen Standes der Gleichberechtigung nicht allein auf die klassischen ökonomischen Faktoren wie Einkommens- und Vermögensverteilung. Auch Bildungszugang, Bürgerrechte und Zugang zu medizinischer Versorgung und Wohnraum stehen bei ihm im Fokus. Außerdem wirft er einen Blick in die Ökonomie der Kolonialgeschichte und trägt Fakten und Statistiken zu Sklaverei, Leibeigenschaft, Zwangsarbeit und Suppression aufgrund von Hautfarbe, Geschlecht oder Religionszugehörigkeit zusammen.

Die Lektüre dieses recht kurzen Buches ist auch einer breiten Öffentlichkeit und ökonomischen Laien zu empfehlen. Zwar führt Piketty eine wirklich große Anzahl an Kennzahlen und Statistiken auf, doch gelingt es ihm, diese Zahlen so zu verdichten, dass sie dem Leser ein gutes Bild historischer und gegenwärtiger Zustände vermitteln. Dieses Buch ist auch vor allem deshalb zu empfehlen, um ein Gefühl dafür zu entwickeln, welche neue und vielleicht auch fragile Entwicklung unser moderner Lebensstandard in der westlichen Welt ist. Denn immer werden hier die historischen Herleitungen mit aktuellen Herausforderungen und politischen Streitfragen verbunden, bei denen es dem Autor wohl gelingt, seine ordoliberale Position plausibel herzuleiten.

 


Dieses Essay wurde auf Grundlage von Thomas Pikettys Eine kurze Geschichte der Gleichheit erstellt. Das Buch wurde als kostenloses Rezensionsexemplar von C. H. Beck Verlag zur Verfügung gestellt. Aus diesem Grunde gilt C. H. Beck unser besonderer Dank.

Photo by John Moeses Bauan  on Unsplash


1  zitiert gemäß: Piketty, 2013.

Literatur

Beck, U. (1986). Risikogesellschaft – Auf dem Weg in eine ander Moderne. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 121–160.

Bengtsson, E. (2019). The Swedish Sonderweg in question: Democratization and inequality in comparative perspective, c. 1750–1920. Past & Present, 244(1), 123-161.

Biebricher, T. (2012). Neoliberalismus zur Einführung. Junius Verlag GmbH

Bivens, J. (2014). The Top 1 Percent’s Share of Income from Wealth Has Been Rising for Decades. Economic Policy Institute, 23.04.2014. https://www.epi.org/publication/top-1-percents-share-income-wealth-rising/.

Boas, T. C. & Gans-Morse, J. (2009) Neoliberalism: From New Liberal Philosophy to Anti-Liberal Slogan. In: Studies in Comparative International Development. Band 44, Nr. 2, 2009, 150.

Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2021). 6. Armuts- und Reichtumsbericht. https://www.armuts-und-reichtumsbericht.de/DE/Bericht/Bisherige-Berichte/Der-sechste-Bericht/Der-Bericht/der-bericht.html

Conceição, P. (2022). Human Development Report 2021-22: Uncertain Times, Unsettled Lives: Shaping our Future in a Transforming World. World Bank, 2022, 272-276.

Deaton, A. (2013). Der große Ausburch – Von Armut und Wohlstand der Nationen. Klett-Cotta Verlag J.G. Cotta sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart, 336-389.

Elliott, (2021). Biden Attempts to Consign Tickle-Down Economics to the Dustbin of History. The Guardian, 29.04.2021: https://www.theguardian.com/business/2021/apr/29/biden-trickle-down-economics-us-president

Friedman, M. (1962). Kapitalismus und Freiheit. 8. Auflage, Piper Verlag GmbH, München, 2011, 24-30.

von Goethe, J. W. (1832). Faust. Der Tragödie zweiter Teil. In: Johann Wolfgang von Goethe Werke, Kommentare und Register der Hamburger Ausgane Band 3: Dramatische Dichtung I. C. H. Beck,

Handelsblatt Online (2017). Ungleichheit so groß wie nie: 8 Milliardäre reicher als die gesamte Ärmere Hälfte der Welt. Handelsblatt Online, 16.01.2017: https://www.handelsblatt.com/arts_und_style/aus-aller-welt/ungleichheit-so-gross-wie-nie-acht-milliardaere-reicher-als-die-gesamte-aermere-haelfte-der-welt/19256062.html

Marx, K. & Engels, F. (1848). Manifest der kommunistischen Partei. In: Institut für Marxismus-Leninismus bei ZK der SED (Hrsg.). Karl Marx und Friedrich Engels Werke, Band 4 (MEW 4). Dietz Verlag Berlin, Berlin, 1969, 459-493.

Piketty, T. (2013). Das Kapital im 21. Jahrhundert. 8. Auflage, Verlag C.H. Beck oHG, München, 2015,

Piketty, T. (2021). Eine kurze Geschichte der Gleichheit. 2. Auflage, Verlag C.H. Beck oHG, München, 2022, 110-135/224-228.

Plumpe, W. (2010). Wirtschaftskrisen. Geschichte und Gegenwart. Beck, München, 98.

Tcherneva, P. R. (2014). Reorienting fiscal policy: A critical assessment of fiscal fine tuning. Journal of post Keynesian economics, 37(1), 43-66.

Thatcher, M. (1987). Interview with Women’s Own. In: Margeret Thatcher Foundation: https://www.margaretthatcher.org/document/105577

Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (2022). WSI Verteilungsbericht 2022. Hans Böckler Stiftung: https://www.wsi.de/de/verteilungsbericht-2022-30037-gini-koeffizient-30069.htm#:~:text=Zun%C3%A4chst%20ging%20der%20Gini-Koeffizient%20bis%20zum%20Jahr%202009,einem%20Wert%20von%20fast%200%2C3%20einen%20neuen%20H%C3%B6chstwert.

Johann Alexander Betker

Student der Kognitiven Neurowissenschaften. Seit 2022 ist er Mitglied der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung. Seine Texte haben nicht den Anspruch einer politische Positionierung zu dienen, ebensowenig wollen sie die Gesellschaft transformieren. Vielmehr dienen sie dazu, neue Perspektiven in bestehenden Debatten aufzutuen. Seine Artikel finden also in dem Rahme dessen statt, was Marx als rücksichtslose Kritik bezeichnet: ,,Ist die Konstruktion der Zukunft und das Fertigwerden für alle Zeiten nicht unsere Sache, so ist desto gewisser, was wir gegenwärtig zu vollbringen haben, ich meine die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden, rücksichtslos sowohl in dem Sinne, daß die Kritik sich nicht vor ihren Resultaten fürchtet und ebensowenig vor dem Konflikt mit den vorherrschenden Mächten.” (Marx, 1843, MEW 1).

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