Menschliche Abgründe, großartiges Schauspiel und mitreißende Geschichten, die im Gedächtnis bleiben. All das und vieles mehr in meiner alternativen Top Ten der besten Filme aus 2021!
Das Jahr 2021 ist nun schon eine ganze Weile zu Ende und hatte, wie schon in Meinen Top Ten Filmen 2021 beschrieben, einige interessante Filme zu bieten. Doch vereinzelte Filme sind nach ihrer internationalen Veröffentlichung im letzten Jahr erst in 2022 in Deutschland erschienen. Außerdem ist eine Liste von gerade einmal zehn Filmen natürlich viel zu kurz, um die gesamte Vielfalt der besten Filme aus 2021 abzubilden. Deshalb gibt es nun passend zum Ende der Vorlesungszeit und vor der Sommerpause von Ruben’s Cinematic Universe in der vorlesungsfreien Zeit meine alternative Top Ten der besten Filme aus 2021.
Übersicht
10. Raging Fire
9. Stillwater
8. Pieces of a Woman
7. The Father
6. Supernova
5. Beyond the Infinite Two Minutes
4. Two Distant Strangers
3. Nowhere Special
2. Last Night in Soho
1. The Power of the Dog
Platz 10
RAGING FIRE
Cheung Sung-bong ist ein erfahrener Ermittler der Regional Crime Unit in Hongkong. Im Laufe der Jahre hat er sich einen Ruf als unbestechlicher Polizist in einer korrupten Stadt erarbeitet. Als ein wichtiger Einsatz in einem Blutbad endet, macht er sich gemeinsam mit seinen verbliebenen Kolleg:innen auf die Suche nach den Tätern. Doch die stehen den Ermittler:innen eventuell näher, als sie denken.
RAGING FIRE ist der letzte Film des Hongkonger Regisseurs Benny Chan, der 2020 nach Ende der Dreharbeiten verstarb. Obwohl das Setting des Films mit einem Ermittler in einer von Korruption durchseuchten Stadt stark an den klassischen Film Noir erinnert, liegt der Fokus eindeutig auf der Action. Dadurch ist der Film am Ende angenehm geradlinig inszeniert und erzählt. Die Handlung ist zwar weniger komplex, bietet dafür aber eine spannende Dynamik zwischen Protagonist und Antagonist und stellt am Ende die Moral beider Seiten in Frage. Was wäre, wenn beide Rollen vertauscht wären? Vor allem bietet die Handlung einen gelungenen Rahmen für grandios inszenierte und choreografierte Actionszenen, wie sie aus Hongkong und anderen Filmen des Regisseurs bekannt sind. Hauptdarsteller Donnie Yen ist in fantastischer Form und schießt und kämpft sich durch die verschiedensten Szenarien. Ein frühes Highlight in RAGING FIRE ist dabei der groß angelegte Einsatz der Polizei zu Beginn des Films. Doch auch im späteren Verlauf ergeben sich weitere vereinzelte Höhepunkte, wie zum Beispiel bei Nacht in einem Viertel der kriminellen Unterwelt oder bei einer Schießerei auf offener Straße. Praktische Effekte, handgemachte Stunts, eine dynamische Kameraführung mit längeren Einstellungen und gezielte Schnitte runden das Ganze ab. Vergleichbare Action gab es 2021 auch in NOBODY, wie ihr hier im Filmtipp: Nobody nachlesen könnt.
(verfügbar als Video-on-Demand bei u. a. Amazon Prime oder Apple TV)
Platz 9
STILLWATER
Der amerikanische Ölarbeiter Bill Baker macht sich auf die Reise nach Marseille; dort sitzt seine junge Tochter Allison für die Tötung ihrer Mitbewohnerin im Gefängnis. Als seine Tochter ihm offenbart, dass es Beweise für ihre Unschuld geben könnte, begibt sich Bill, der weiter an die Unschuld seiner Tochter glaubt, auf die Suche. Doch die gestaltet sich schwieriger als gedacht, so dass Bill die Hilfe der Französin Virginie annimmt.
Mit seiner Ausgangslage klingt STILLWATER ein wenig wie eine leicht veränderte Version von TAKEN, in dem sich Liam Neeson einst auf die blutige Suche nach seiner Tochter machte. Doch so ähnlich sich die beiden Filme in ihrer Prämisse auch sein mögen, so unterschiedlich sind sie am Ende. Denn bei STILLWATER handelt es sich eher um ein ruhiges, aber intensives Drama, das sich über seine Laufzeit von 140 Minuten langsam entfaltet. Vereinzelt kommt bei der Suche nach Beweisen natürlich auch Spannung auf. Doch der Fokus von Regisseur und Drehbuchautor Tom McCarthy liegt eher auf den Beziehungen der Figuren, allen voran auf dem Verhältnis zwischen Bill und Allison, später aber auch auf dem zwischen Bill und Virginie. In seiner Inszenierung dieser Beziehungen und der restlichen Handlung bleibt der Film möglichst realistisch, auch wenn die Handlung an manchen Stellen bestimmte Zufälle benötigt, um eine neue Richtung einzuschlagen. Großen Anteil an dieser bodenständigen Darstellung hat vor allem Hauptdarsteller Matt Damon, der körperlich präsent aber dennoch zurückhaltend spielt und auf faszinierende Weise viel über die Augen kommuniziert. Neben seinen filmischen Qualitäten entwirft STILLWATER außerdem ein interessantes Spiel mit den Gegensätzen der amerikanischen und französischen Kultur. Diesmal sind es keine Fremden, die nach Amerika kommen, sondern ein Amerikaner, der als Fremder durch Marseille irrt. Diese Umkehrung nutzt der Film geschickt, um ein entlarvendes Bild der USA zu zeichnen.
(verfügbar als Video-on-Demand bei u. a. Amazon Prime oder Apple TV)
Platz 8
PIECES OF A WOMAN
Martha und Sean erwarten ihr erstes Kind. Doch bei der geplanten Hausgeburt stirbt die neugeborene Tochter wenige Augenblicke nach der Geburt. Während Sean und ihre Mutter darauf drängen, die Geburtshelferin vor Gericht zu bringen, zieht sich Martha in ihrer Trauer zurück und spendet anstelle einer Beerdigung den Körper ihrer Tochter für medizinische Zwecke.
Es ist nicht zu viel verraten, dass das Kind des Paares nach der Geburt stirbt. Denn die erste halbe Stunde von PIECES OF A WOMAN, die sicherlich zu den intensivsten Filmminuten der letzten Jahre gehört, stellt lediglich die Ausgangslage des Films dar. In einer minutenlangen Einstellung ohne sichtbaren Schnitt, in der die Kamera von Benjamin Loeb abwechselnd die einzelnen Figuren gefühlvoll in Szene setzt, werden die Zuschauenden so nah wie es vermutlich nur geht an den Sturm der Emotionen herangeführt. Danach entwickelt sich eine langsame Geschichte über Beziehungen, Familie und vor allem über Trauer und die unterschiedlichen Arten mit ihr umzugehen. Eingefangen in mitunter poetischen Bildern und untermalt mit der Musik von Howard Shore verfilmt Regisseur Kornél Mundruczó dabei ein Drehbuch seiner Frau Kata Wéber, die damit ihre eigenen Erfahrungen einer Fehlgeburt verarbeitet. Einen bleibenden Eindruck hinterlässt in PIECES OF A WOMAN vor allem Hauptdarstellerin Vanessa Kirby, die sich während der Geburt zunächst nuanciert die Seele aus dem Leib spielt, nur um dann im restlichen Film eine Hülle darzustellen, unter deren Oberfläche so vieles liegt, das nicht in Worten ausgesprochen werden kann. Auch wenn der Film in einigen symbolischen Bildern dann doch zu offensichtlich angelegt ist und das Ende ein wenig klischeebehaftet daherkommt, so ist er doch ein bewegendes Werk, das einer leider gar nicht so seltenen menschlichen Tragödie einen Raum gibt.
(verfügbar bei Netflix)
Platz 7
THE FATHER
Anthony lebt allein in seiner Wohnung. Regelmäßig bekommt er Besuch von seiner Tochter Anne, die sich um eine Pflegekraft für ihn bemüht. Doch Anthony weiß, dass er gut allein zurechtkommt. Plötzlich findet er einen fremden Mann in seiner Wohnung, der behauptet, dort zu wohnen und dazu auch noch der Mann seiner Tochter zu sein. Doch ist diese Frau überhaupt seine Tochter? Und wieso meldet sich seine andere Tochter Lucy nicht mehr, obwohl sie sich doch schon so lange nicht mehr gesehen haben?
Mit THE FATHER adaptiert der französische Autor Florian Zeller sein Theaterstück „Le Père“ für die Leinwand und erzählt darin eine bewegende Geschichte über die zunehmende Demenz eines alternden Vaters. Sein Drama ist ebenso hervorragend geschrieben wie inszeniert. Das Drehbuch jongliert zwischen unterschiedlichen Perspektiven, die entweder Anthonys Sicht auf die Welt zeigen oder den Eindruck, den er bei anderen Menschen hinterlässt. Im Verlauf des Films lässt sich der traurige Zusammenbruch einer Welt beobachten, die gleichzeitig so liebevoll und sorgsam Stück für Stück aufgebaut wird. In seiner Inszenierung sind dem Film seine Wurzeln als Theaterstück anzumerken, denn es gibt außerhalb der verschiedenen Räume der Wohnung kaum andere Schauplätze. Doch die geringe Anzahl an Schauplätzen wird durch die detaillierte und ruhige Inszenierung maximal ausgenutzt. Hier und da werden im Hintergrund kleine Details oder sogar ganze Räume kommentarlos verändert, so dass sich bei den Zuschauenden immer wieder ein mal mehr, mal weniger bewusstes, befremdliches Gefühl einschleicht. Die Kamera ist dabei ebenso eine unzuverlässige Erzählerin wie die Erinnerung von Anthony. Gekrönt wird THE FATHER schließlich von dem stillen, aber mitreißenden Schauspiel von Olivia Colman als Anne und der authentischen Darstellung von Anthony durch Anthony Hopkins. Wie letzterer in Sekunden von Charme zu Feindseligkeit und von Verwunderung zu Misstrauen wechselt ist beeindruckend. Allein für diese schauspielerischen Meisterleistungen lohnt sich ein Blick in den Film, der am Ende sicherlich nur wenige Augen trocken lässt.
(verfügbar als Video-on-Demand bei u. a. Amazon Prime oder Apple TV und im Stream bei WOW von Sky)
Platz 6
SUPERNOVA
Sam und Tusker sind nun schon 20 Jahre zusammen. Als bei Tusker erste Anzeichen einer Demenz einsetzen, begeben sich die beiden Amateurastronomen in einem Camper auf eine Reise durch England. Tusker versucht dabei weiter an seinem neuesten Buch zu schreiben, während Sam ein letztes Klavierkonzert geplant hat.
SUPERNOVA ist eine einfühlsame Liebeserklärung an Freundschaft und Liebe. Der Film wird jedoch ohne unnötigen Druck auf die Tränendrüse und darüber hinaus äußerst geradlinig in einer klassischen Drei-Akt-Struktur erzählt. Und das obwohl in Bezug auf die tatsächliche Handlung nicht viel passiert. Doch das tut dem Film, der seinen Fokus auf das Zwischenmenschliche legt, überhaupt keinen Abbruch. Zu Beginn begeben sich Sam und Tusker auf ihre Reise. Äußerst charmant wird die Beziehung zwischen ihnen charakterisiert und in wenigen gezielten Szenen werden ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede beleuchtet. Ergänzt wird die Erzählung durch großartige Landschaftsaufnahmen und einen organischen Humor, der sich aus den Situationen und den Charaktereigenschaften der Figuren heraus entwickelt. Ehe sie am Ende des Films ihre physische und charakterliche Reise beenden, thematisiert der Film die Freundschaft, Zuneigung und Liebe zwischen Menschen. Wie schon in THE FATHER bekommen die Zuschauenden dabei beeindruckende Leistungen der Schauspieler zu sehen. Colin Firth als Sam und Stanley Tucci als Tusker verkörpern eindrucksvoll ein langjähriges Paar, das sich mit einer herzzerreißenden Situation konfrontiert sieht. Wo liegen die Grenzen des Gebens und Nehmens in einer Liebe, die grenzenlos ist?
(verfügbar bei Amazon Prime und als Video-on-Demand bei u. a. Apple TV)
Platz 5
BEYOND THE INFINITE TWO MINUTES
Cafébesitzer Kato entdeckt zu seiner Überraschung, dass es eine Verbindung zwischen dem Computer in seiner Wohnung und dem Fernseher in seinem Café gibt. Diese erlaubt es ihm, mit seinem Ich in zwei Minuten in der Zukunft zu kommunizieren. Als er seine Freund:innen in diese Entdeckung einweiht, versuchen diese die Macht der Zukunft für die Gegenwart zu nutzen.
Nachdem BEYOND THE INFINITE TWO MINUTES in sieben Tagen von einer japanischen Theatergruppe gedreht worden war, feierte der Film seine Premiere in einem kleinem Kino mit gerade einmal zwölf Besucher:innen. Doch nachdem eine große japanische Kinokette den Film aufgrund des fehlenden Angebots durch die COVID-19 Pandemie in ihr Programm aufnahm, wurde das kleine Projekt zu einem Überraschungserfolg. Daraufhin war er auch auf mehreren internationalen Filmfestivals, unter anderem auch in Deutschland, zu sehen. Dabei gibt es gleich mehrere Gründe für den Erfolg des Films. Zunächst einmal wäre da die ungewöhnliche Prämisse in Verbindung mit der Inszenierung des Films. Die Figuren kommen nach kurzer Zeit auf die Idee, die beiden Bildschirme gegenüber voneinander zu positionieren, um so ein Mise en abyme, umgangssprachlich auch Droste-Effekt genannt, zu erzeugen, also ein Bild in einem Bild in einem Bild usw. Dadurch können sie schließlich nicht nur zwei Minuten, sondern auch vier oder sechs Minuten in die Zukunft und Vergangenheit sehen. Zusätzlich wurde der Film so gedreht und geschnitten, dass es auf die Zuschauenden so wirkt, als spiele sich die Handlung in Echtzeit und ohne Schnitte ab. Des Weiteren beweisen die Schauspieler:innen eine Menge Spielfreude bei diesem absurden Konzept und haben gemeinsam mit dem restlichen Team alles aus gerade einmal sieben Tagen Dreh herausgeholt. Aber macht dieses gesamte Konzept überhaupt Sinn und erfüllen die Figuren nicht einfach immer nur selbst ihre eigenen Prophezeiungen und erzeugen so Paradoxa? In BEYOND THE INFINITE TWO MINUTES sind es gerade die konstanten Fragezeichen in Verbindung mit der immersiven Inszenierung und dem gut aufgelegten Cast, die einfach eine Menge Spaß machen.
Wer Gefallen an BEYOND THE INFINITE TWO MINUTES gefunden hat, sollte sich definitiv den ebenfalls aus Japan stammenden ONE CUT OF THE DEAD anschauen. Bei einem Budget von 25.000 US-Dollar konnte der Film am Ende weltweit mehr als 30 Millionen US-Dollar an den Kinokassen einspielen. Darin soll ein Regisseur einen Zombiefilm drehen, doch während des Drehs scheint alles schief zu laufen und dann tauchen auch noch echte Zombies auf. Wie der Titel es vielleicht schon verrät, wurde ONE CUT OF THE DEAD in einer einzigen Einstellung gedreht. Doch das ist nicht die einzige Besonderheit, die der Film bereithält. Nach dem Abspann empfiehlt es sich also besser nicht abzuschalten!
(verfügbar als Video-on-Demand bei u. a. Amazon Prime oder Apple TV)
Platz 4
TWO DISTANT STRANGERS
Am Morgen nach einem Date möchte der Grafikdesigner Carter James nach Hause zu seinem Hund. Auf der Straße trifft er auf einen Polizisten, der seine Tasche auf Drogen untersuchen möchte. Bei der anschließenden Konfrontation wird Carter von diesem ermordet und wacht überraschend wieder im Bett auf. Er ist in einer Zeitschleife gefangen, die immer wieder mit seiner Ermordung durch die Polizei zu enden scheint.
Der Kurzfilm TWO DISTANT STRANGERS ist ein Film aus Gegensätzen, die eine eindrucksvolle Wirkung erzielen. Die Regisseure Travon Free und Martin Desmond Roe visualisieren darin das realitätsnahe Gefühl der Machtlosigkeit gegen die wiederkehrende Polizeigewalt gegen People of Color in den USA in dem wirklichkeitsfernen Konzept der Zeitschleife. Sie zeigen die alltägliche Tragödie einer Person of Color und inszenieren sie stellenweise wie eine Komödie. Auf die brutale Gewalt der Polizisten reagiert Carter mit einer generellen Ablehnung von Waffen und sucht weiter den Dialog. Der Film bietet dabei keine differenzierte Analyse der Gesellschaft oder des strukturellen Rassismus in ihr, sondern zeigt metaphorisch die Ohnmacht, Ungläubigkeit, Wut und Trauer der Filmemacher im Angesicht dieser Probleme. Es ist äußerst deprimierend und traurig, aber vor allem wahr, wenn dann im Abspann die Namen der People of Color gezeigt werden, die in den USA von der Polizei getötet wurden. Untermalt wird der Abspann im Hintergrund durch Song „The Way It is“ von Bruce Hornby and the Range. Trotz des düsteren Bildes bewahrt sich der Film eine gewisse Leichtigkeit und Hoffnung auf Veränderung.
(verfügbar bei Netflix)
Platz 3
NOWHERE SPECIAL
John verdient sein Geld als Fensterputzer in Nordirland und hat sein Leben seinem vierjährigen Sohnes Michael verschrieben, nachdem dessen Mutter die beiden kurz nach der Geburt verlassen hat. Doch John ist unheilbar krank und hat nur noch wenige Monate zu leben. Deshalb ist er auf der Suche nach einer neuen Familie für seinen Sohn.
NOWHERE SPECIAL ist ein ruhiger und langsamer Film, getragen von seiner tragischen Geschichte und den wunderbaren Schauspieler:innen. Doch die Suche nach der perfekten Familie ist auch von einigem subtilen Humor geprägt. Der Film braucht nicht viele Szenen und Dialoge, um deutlich zu machen, welche Personen, Paare oder Familien ein für John eher unpassendes oder merkwürdiges Bild von Erziehung und Kindern haben. Doch kann er überhaupt die perfekte Familie für Michael finden, die ihm ein besseres Leben ermöglicht als er es je könnte? Nach einiger Zeit kommen auch die hilfsbereiten und verständnisvollen Sozialarbeiterinnen an ihre Grenzen. Dabei kristallisiert sich die herzzerreißende Tragweite dieser kleinen Geschichte heraus. John ist innerlich zerrissen zwischen der Liebe zu seinem Sohn und der Verantwortung, die er diesem gegenüber verspürt. Auf der einen Seite möchte er eine innigere Beziehung mit ihm führen wohingegen er auf der anderen Seite versucht, keine allzu starke Bindung zu Michael aufzubauen, um diesem den Wechsel in eine neue Familie zu erleichtern. Immer wieder gibt es Szenen, die ihn auf den ersten Blick kalt und emotionslos gegenüber dem kleinen Michael zeigen, nur um dann in anderen Momenten seine väterliche Freude über dessen kindlichen Eigenheiten aufblitzen zu lassen. James Norton spielt John dabei unglaublich pointiert als einen Mann, der sich mit seinem eigenen Schicksal abgefunden hat und nun in absoluter Selbstlosigkeit den besten Weg für seinen Sohn finden möchte. Doch Michael beginnt langsam die ständigen Besuche bei unterschiedlichen Menschen in Verbindung mit dem Wort Krankheit und Tod zu hinterfragen. Kann und sollte sich John wirklich vollständig aus Michaels Leben zurückziehen und die wohlhabende Familie mit großem Garten wählen?
(verfügbar als Video-on-Demand bei u. a. Amazon Prime oder Apple TV)
Platz 2
LAST NIGHT IN SOHO
Ellie zieht vom Land nach London, um dort am London College of Fashion zu studieren. Die Musik und den Stil der Swinging Sixties im Gepäck, wird sie bei ihrer Ankunft in der Großstadt allerdings mit einigen Problemen konfrontiert. Als sie bei einer alten Dame ins Dachgeschoss einzieht, öffnet sich für Ellie eine Tür ins London der 1960er Jahre. Doch aus dem wahr gewordenen Traum entwickelt sich schnell ein wahrer Albtraum.
Träume sind nicht immer traumhaft. In LAST NIGHT IN SOHO setzt Edgar Wright den Horror der Enttäuschung und des Erkennens mitunter wenig subtil, dafür umso spannender und furchterregender in Szene. Mit dem Umzug nach London und dem Studienbeginn erhofft sich Ellie einen Neuanfang. Doch mit ihrem eigenwilligen Stil und vor allem ihrem musikalischen Geschmack findet sie nur schwer Zugang zu der neuen Welt. Gerade für junge Menschen in ähnlichen Situationen machen der Film und besonders die Darsteller:innen die Begeisterung, aber auch die vermeintlich unvermeidlichen Enttäuschungen und Herausforderungen dieses Wandels nahbar. Wer wünscht sich da nicht manchmal dem alltäglichen Leben zu entfliehen? Die Flucht in LAST NIGHT IN SOHO erfolgt dann konsequenterweise ins London der 1960er Jahre. Die Zuschauenden werden zusammen mit Ellie in diese fabelhafte Welt hineingezogen. Das Produktionsdesign hat in diesen Szenen hervorragende Arbeit geleistet und erschafft zusammen mit der virtuosen Kameraarbeit und der träumerischen Farbgestaltung eine einnehmende, historische Parallelwelt. Doch ist diese Welt wirklich so traumhaft wie sie scheint? Durch Parallelen zwischen Figuren der Gegenwart und der Vergangenheit verschmelzen die beiden Zeitebenen, was brutale und schockierende Auswirkungen hat. Im Gewand eines Coming-of-Age-Horror-Thrillers wird auf diese Weise unser Verhältnis zur Vergangenheit hinterfragt. LAST NIGHT IN SOHO zeigt auf zugleich packende und verstörende Weise, dass Vergangenheit und Nostalgie mitunter auch tiefschwarze Schatten werfen. Mehr dazu gibt es im Filmtipp: Last Night in Soho.
(verfügbar als Video-on-Demand bei u. a. Amazon Prime oder Apple TV und im Stream bei WOW von Sky)
Platz 1
THE POWER OF THE DOG
Die ungleichen Brüder Phil und George Burbank betreiben im Jahr 1925 eine große Ranch in Montana. Während Phil weiter an der Tradition des einsamen Cowboys festhält, heiratet George die verwitwete Rose. Nach ihrer Ankunft auf der Ranch beginnt Phil sie und später ihren älteren Sohn Peter unterschwellig zu terrorisieren, bis er schließlich doch eine Bindung zu Peter aufbaut.
Mit der Adaption THE POWER OF THE DOG des gleichnamigen Romans von Thomas Savage ist Jane Campion ein Kunstwerk gelungen. Statt ihre Geschichte vor allem verbal über Dialog zu erzählen, weiß die Drehbuchautorin und Regisseurin die meisten Entwicklungen, Spannungen und Bedeutung über die vielseitig deutbaren Bilder und das Schauspiel zu vermitteln. Die Welt ist vielleicht auch komplizierter, als dass sie sich in Worten beschreiben ließe. THE POWER OF THE DOG weiß mit den Möglichkeiten des Films als Kunstform umzugehen. Immer wieder bewegt sich die Kamera durch den Raum und verharrt für einen kurzen Augenblick, um beklemmende Situationen heraufzubeschwören. Manche Bewegungen der Kamera spiegeln die charakterlichen Bewegungen der Figuren wider, während Kamerafrau Ari Wegner an anderer Stelle ein Auge für Details und die Umgebung beweist. Dadurch erzählen die Kameraführung ebenso wie die unheilvolle Musik, die sich wie ein Klangteppich in den Hintergrund legt und in die sich hier und da auch ein paar sanftere Töne mischen, einen großen Teil des Films. Die perfekte Besetzung von Benedict Cumberbatch als stumpfen Bösewicht mag auf den ersten Blick unpassend wirken. Doch Phil ist eigentlich ein studierter Mann unter dessen Oberfläche mehr zu sein scheint, als sich auf den ersten Blick erkennen lässt. Die Zuschauenden können sich vor allem durch Benedict Cumberbatchs fieses, aber auch vielschichtiges Schauspiel nie sicher sein, ob Phils Annäherungen an Peter für ihn nun ernst gemeint oder nur eine weitere Folter für Peters Mutter Rose darstellen sollen. Und so erzählt THE POWER OF THE DOG eine Geschichte über den Konflikt der Tradition mit der Moderne. Als revisionistischer Western dekonstruiert er die vor allem durch Filme transportierten Bilder des Wilden Westens. Jane Campion nimmt damit auch ein Bild der toxischen Männlichkeit subtil unter die Lupe, um zu sehen, wie hoch der Preis für die Aufrechterhaltung dieser Fassade ist. Denn wer hat am Ende wirklich die Macht in dieser Geschichte?
(verfügbar bei Netflix)
Neu hier? Vorstellung zu Ruben’s Cinematic Universe.
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Foto: ©Ruben Schmidt