Gibt es Pornographie mit literarischem Anspruch? Die Antwort findet sich in der „Geschichte der O“ (Originaltitel: Histoire d’O). Das Buch wurde 1954 unter dem Pseudonym Pauline Réage veröffentlicht, mehrfach verfilmt und wird noch heute in den meisten Ländern als jugendgefährdend eingestuft. Was macht das Buch so besonders? Warum fasziniert es noch heute? Und, welche Bedeutung hat es für die BDSM-Szene?
Wer keine Lust auf Fifty Shades of Grey hat, sollte sich vielleicht die Geschichte der O näher anschauen. Das Werk wurde nicht mal ein Jahr nach der Veröffentlichung mit dem Prix des Deux Magots ausgezeichnet, einem der bedeutendsten französischen Literaturpreise. Es wurde in über 20 Sprachen übersetzt und zählt bis heute zu den wichtigsten und bekanntesten Erotikromanen der Welt.
Wessen Geschichte wird erzählt?
O ist eine junge und erfolgreiche Modefotografin in Paris – die Karrierefrau schlechthin. Würde man sie in einem Pariser Café antreffen, wäre der erste Eindruck über sie eher Richtung Femme fatale. Stark und unabhängig bestimmt sie selbst über ihre Karriere und ihr Schicksal. Doch bereits auf Seite elf des Romans begibt sie sich in die Parallelwelt des Château Roissy.
Das abgelegene Schloss ist eine Schule, in der junge Frauen lernen sich zu unterwerfen, ihren Herren hinzugeben – egal ob oral, anal oder vaginal. Die Protagonistin absolviert die surreal erscheinende Ausbildung zur idealen Sub aus Liebe zu ihrem Partner, René. Zu Beginn der Ausbildung erhält sie eine Uniform, bestehend aus einem sehr freizügig geschnittenen Kleid sowie einem Lederhalsband und -manschetten. Sie wird ausgepeitscht, gefesselt und lernt sich zu unterwerfen sowie ihren Blick gesenkt zu halten.
Wieder mit René vereint, überlässt dieser O seinem wesentlich älteren Stiefbruder Sir Stephan. Dieser ist dominanter und erfahrener als René – letztlich verliebt sich O in Sir Stephan und unterzieht sich aus Liebe zu ihm einer noch strengeren Ausbildung auf einem Anwesen in Samois.
Neben dem Hauptplot gibt es noch kleinere Nebengeschichten. René, Os ehemaliger Lover ist in Jacqueline verliebt, Os Fotomodell. Deshalb bekommt O von Sir Stephan die Aufgabe Jaqueline davon zu überzeugen der Geheimgesellschaft beizutreten und sich in Roissy ausbilden zu lassen. Um dies zu erreichen beginnt O eine sexuelle Affäre mit ihr.
Bedeutung der O in der BDSM Kultur
Obwohl der Roman als jugendgefährdend eingestuft wird, enthält er keine obszönen Worte oder Redewendungen. Die Sprache ist klar und in der Form eines inneren Monologs der Protagonistin geschrieben – ohne Wertungen oder moralisches Korsett von außen. Sadomasochismus ist das zentrale Element des Buchs. Dennoch geht es hier nicht einfach um Dominanz und Unterwerfung.
O gibt die Kontrolle freiwillig an die Männer in ihrem Leben ab. Dieses Aufgeben des eigenen sexuellen Selbst bedeutet für sie eine Befreiung und das Ausleben ihrer Sexualität. O zieht zudem neues Selbstbewusstsein aus ihrer formalen Unterwerfung.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist, dass sie letztlich immer ihr Einverständnis geben muss, ehe etwas geschieht und sie den nächsten Schritt gehen kann. Damit liegt die Kontrolle immer in den Händen der Protagonistin. Neben seines Einflusses auf die Literatur hatte der Roman weitreichende Auswirkungen auf die BDSM-Szene. Das O ihre Zustimmung geben muss, reflektiert sich im Grundsatz Save, Sane and Consensual. Auch die Ästhetik und die Erkennungszeichen innerhalb der Szene wurden stark vom Buch und der Filmadaption (1975) geprägt.
So wurde der Ring der O als Halsreif international zum Erkennungszeichen für Submissivs. Im deutschsprachigen Raum trägt man den sogenannten „Ring der O“ als Dom an der Linken, als Sub an der rechten Hand. Wer Switch ist, trägt ihn meistens stimmungsabhängig oder an einer Kette um den Hals. Die Triskele, welche im Roman aus Gold in einen Eisenring eingelassen ist, wird von Doms als Erkennungssymbol getragen.
Anti-feministische Frauenfantasie oder Befreiung der Sexualität?
Das Werk ist seit seinem Erscheinen in der Kritik. In Frankreich wurde der Verlag noch im Erscheinungsjahr wegen Veröffentlichung obszönen Materials verklagt. Die Klage wurde jedoch abgewiesen. Dennoch landete das Buch auf dem Index. Bis heute wird es in nahezu allen Ländern als jugendgefährdend eingestuft, obwohl es keine ausdrücklich obszöne Sprache enthält.
Kritik und Lob sind weitreichend. Von feministischer Seite aus wird der Roman häufig als männliche Propaganda oder Werkzeug zur Unterwerfung der Frau bezeichnet. Besonders Andrea Dworkin, US-Feministin und Soziologin griff das Buch mehrfach offen an. Auf der Gegenseite wird O häufig als starke, unabhängige Karrierefrau gesehen, welche sich freiwillig in ein Abhängigkeitsverhältnis begibt. Sie trennt dabei ihre durchaus erfolgreiche Karriere als Modefotografin von ihrem privaten- und sexuellen Selbst.
Wer steht hinter dem Pseudonym Pauline Réage?
Lange Zeit wurde vor allem über das Geschlecht des Autors debattiert. Ist die Geschichte bloß eine männliche Fantasie? Ist der Autor ein Perverser? Wäre es überhaupt möglich, dass eine Frau von lustvoller Unterwerfung schreibt? Neben Os Peinigungen wurde insbesondere den lesbischen Szenen unterstellt lediglich den „male gaze“ zu befriedigen.
Vier Jahre vor ihrem Tod bekannte sich letztlich Dominique Aury (bürgerlicher Name: Anne Desclos) als Urheberin des Werks. Der Roman war ursprünglich eine Reihe von Briefen an ihren Geliebten Jean Paulhan, mit dem sie bis zu seinem Tod eine Affäre hatte.
Dominique selbst wurde optisch als nonnenhaft beschrieben, dafür schillerte Ihre Persönlichkeit umso mehr. Während des Krieges legte sie ihren Namen ab und stellte sich seitdem unter dem genderneutralen Pseudonym Dominique Aury vor. Sie übersetzte zahllose Bücher, war Redakteurin der Nouvelle Revue Française (Literaturzeitschrift) und saß über Jahre hinweg in der Jury für den Literaturnobelpreis.
Ende der 40er Jahre kühlte sich ihre Beziehung zu Jean ab. Dieser äußerte sich parallel dazu negativ über weibliche Erotikautoren und war selbst großer Fan des Marquis de Sade. Im Interview berichtete Dominique, „Ich war nicht jung, ich war nicht schön. Körperlich konnte ich ihn nicht halten.“. Da Sex vor allem im Kopf stattfindet, entschloss sie sich dazu für ihn zu schreiben.
Sie verfasste die Briefe nachts, in ihrem Bett. Die ersten 60 Seiten flossen nur dahin – sie wurden unverändert abgedruckt und sind der eingängigste Teil des Buchs. Man fühlt ihre Leidenschaft. Ihr Liebhaber war so begeistert, dass er Dominique davon überzeugte, das Buch zu verlegen.
Wenn auch die sadistischen Fantasien und das Spiel von Dominanz und Unterwerfung in erster Linie für ihren Partner bestimmt waren, so galt dies nicht für die lesbischen (Liebes-)Szenen. Dominique war selbst bisexuell und fand weibliche Körper deutlich ansprechender als männliche. Ihre erste Begegnung mit dem männlichen Glied beschreibt sie wie folgt:
“I found that stiffly saluting member, of which he was so proud, rather frightening, and to tell the truth I found his pride slightly comical. I thought that that must be embarrassing for him and thought how much more pleasant it was to be a girl. That, by the way, is an opinion I still hold today.”
Ihre Liebesbeziehung zum ca. 20 Jahre älteren Jean Paulhan hielt bis zu dessen Tod. „Ich war wahnsinnig in ihn verliebt. Es gab für mich niemanden außer ihn. Ich lebte mit ihm 15 Jahre, 11 Jahre, ich weiß nicht mehr genau. Er war der letzte Abschnitt meines Lebendig-Seins, meines Lebens als lebendiger Mensch. Danach war ich keiner mehr. Ich schloss mit allem ab“, beschreibt sie ihre Beziehung in der Arte Dokumentation Writer of O von Pola Rapaport.
Sex entsteht im Kopf
Es geht nicht darum, möglichst pervers zu sein, sondern darum, Leidenschaft in Worte zu bannen. Ich kann Die Geschichte der O jedem:r empfehlen – die ersten 60 Seiten fesseln einen direkt. Wer nicht so gerne liest, kann sich auch die Verfilmung von 1975 anschauen.
Mein Tipp fürs Wochenende: Probiert das Schreiben doch mal selbst aus. Versteckt kleine Post-its mit erotischen Hinweisen, was am Wochenende passieren wird oder schreibt selbst einen handschriftlichen Brief an eure:n Liebste:n! Dabei müsst ihr keine Wortakrobaten sein, sondern die Fantasie anregen. Ein paar kleine Anspielungen reichen häufig – das Abenteuer folgt dann ganz von allein. 😉
Coverbild: Photo by ReFa