Eine Film- und Gesellschaftsinterpretation
Viele Liberale reagierten irritiert, als 2021 Demoskopen verlautbarten, dass Donald Trump bei der Wahl vor allem bei mexikanischen Migranten und der schwarzen Bevölkerung an Stimmen dazugewinnen konnte1. Genau das gleiche Unverständnis brachten auch hierzulande die liberale Bevölkerung der Tatsache entgegen, dass die AfD zu großen Teilen von sozial schwachen Bevölkerungsschichten gewählt wurde2. Doch wie kann es sein, dass ein offensichtlich rassistischer Präsident von Migranten unterstützt wird und die ökonomisch schwachen Bürger eine (u.a.) klar arbeitnehmerfeindliche Partei wählen? Wer das verstehen möchte, sollte sich unbedingt den Film The Blind Side – Die große Chance (2009) von John Lee Hancock ansehen.
Kaum ein Film bringt unfreiwillig die ausweglose Situation des Prekariats so gut auf den Punkt wie dieses glattpolitierte Werk. Also versuchen wir einmal, das Dilemma zu erfassen. In dem nämlichen befindet sich im Kapitalismus jener Teil der Bevölkerung, der nichts als die eigene Arbeitskraft zu kapitalisieren hat. Stellen wir uns außerdem dem tiefgreifenden Problem der links-liberalen Sozialpolitik (dessen Sprengkraft Marx schon ahnte, dem er aber nichts zu entgegnen wusste) und fragen wir uns, ob man als Linker, der seine Werte ernst nimmt, nicht Trump unterstützen müsste. Also, mir nach!
Das Scheitern der Aufklärung
Die Handlung des Films ist schnell zusammengefasst: Big Mike, ein obdachloser Schüler (Quinton Aaron) und Sohn einer drogenabhängigen Mutter, fällt Leigh, einer reichen Mutter (Sandra Bullock) auf. Sie nimmt ihn zunächst bei sich auf, gibt ihm ein Zimmer, finanziert ihm Nachhilfeunterricht, einen Führerschein, ein Auto und investiert in seine Footballausbildung. So geht er schließlich an die Universität und wird professioneller Footballspieler.
Die klassisch liberale Lesart der Geschichte lautet, dass jeder Großes erreichen kann, so man dieser Person nur eine Chance gibt (z.B. in Form eines Platzes an einer Privatschule). Doch damit macht man es sich zu leicht. Denn die Situation von Big Mike ist deutlich kritischer, als es zunächst den Anschein hat. Auf der einen Seite steht die Chancenlosigkeit aufgrund seiner ökonomischen Situation, die es ihm verunmöglicht, aus eigenen Mitteln eine Zukunft für sich zu gestalten. So besitzt er noch nicht mal ein einziges Dokument, was seine Identität bescheinigt. Aber die Fessel der sozio-ökonomischen Realität geht weit darüber hinaus und reicht bis in die Hilfe zur Überwindung hinein. Denn die Botschaft, die von Leighs Hilfe ausgeht (und dieselbe ist, wie die aller linken Parteien) lautet: „Du musst erkennen, dass du ein Opfer der Gesellschaft bist und deswegen die Hilfe annehmen, die man dir anbietet!“. Die Diskriminierung, die Big Mike erfährt, ist also doppelter Natur: Sie basiert zum einen auf ökonomischen und zum anderen auf sozialen Merkmalen. Die soziale Diskriminierung des Kapitalismus lebt auch in dem ,,guten Willen“ fort, der die ökonomische Diskriminierung auflösen kann. Dadurch ist die Unterdrückung durch den Kapitalismus total. Big Mike hat dementsprechend nur zwei Möglichkeiten. Er kann die ökonomische Realität verleugnen und am Traum des Aufstiegs aus eigener Kraft festhalten und so ein Dasein in Armut fristen. Oder er kann die ökonomische Realität akzeptieren und sich somit als ,,Opfer der Gesellschaft“ selbst verdinglichen, in der Hoffnung, es durch die Hilfe anderer zu einer sozialen Existenz zu bringen. Anders ausgedrückt kann der abgehängte Mensch im Kapitalismus wählen: Entweder er behauptet sich als eigenständiges Subjekt und stützt damit eben das System, das die soziale Ungleichheit produziert oder er degradiert sich selbst zum Objekt, um dadurch eine Hilfe zu erfahren, die seine Position verbessert. Im Film wählt Big Mike die zweite Option. Doch so oder so ist das Versprechen der Aufklärung, nämlich der ,,Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit”3 im Kapitalismus nicht umsetzbar.
Die fehlende Einsicht in die soziale Diskriminierung, die in der Sozialpolitik mitgedacht ist, könnte ein Grund dafür sein, dass gerade die sozialen Gruppen Amerikas, welche die Verlierer der Globalisierung sind, die Attraktivität in der neoliberalen Ideologie eines Trumps sehen. Wer bereits kaum etwas besitzt, möchte seine Würde umso stärker verteidigen dürfen. Die Auflehnung sozialschwacher Amerikaner gegen eine gesetzliche Krankenversicherung ist ein Akt der Selbstbehauptung, der sich gegen die geforderter Selbstverdinglichung sträubt. Ja, vielleicht sind sie, wie Hillary Clinton es ausdrückte, ein Korb voller Bedauernswerter4, doch niemand außer sie selber darf sie als solche betiteln. Das eben ist auch die Pointe des unglücklichen Bewusstseins, wie Theodor W. Adorno den Gedanken Hegels aufgreift. Der Geschlagene muss das ihm angetane Unrecht an sich replizieren, um es ertragen zu können5.
Es ist eine gewisse dialektische Pointe, dass der Amerikanische Traum nun, wo er so gründlich zu Grabe getragen wurde, wie in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, eine vielleicht noch persistentere, aktuell relevante Ideologie ist, als zu den Zeiten, als man noch daran glaubte. Die universitäre und kulturelle Ideologiekritik mag auch ihren Beitrag dazu geleistet haben. Sie entlarvte nicht nur das Heilsversprechen des sozialen Aufstiegs angesichts der ökonomischen Realität als Lüge, sondern entzauberte damit gleichsam den Glauben selbst als kapitalistische Schlüsselerzählung, die durch Indoktrination in das eigene Denken eindrang.
Es gibt vermutlich kaum etwas, das in soziologischen und politischen Theorien (von Rousseau bis zur Frankfurter Schule) derart viel Beunruhigung hervorrief, wie auf das Fremde im sozial Eigenen zu stoßen. Im Versuch eines radikalen Gegenschlags kreierte Marx den Entfremdungsbegriff, der für weitere Generationen an Denkern wegweisend sein sollte. Dabei versuchte er, die Gemengelage von fremd und eigen radikal auf der Seite des Fremden (im Klassenbewusstsein) aufzulösen. Damit geht er in radikale Opposition zu Max Stirner. Doch das Grundproblem ist damit nicht aus der Welt. Kann jemand entfremdet sein, der sich selbst gar nicht so wahrnimmt? Und ist es damit nicht moralisch notwendig, ihm entgegen seines ausdrücklichen Willens zu helfen? Marx war sich der Ausmaße des Problems des Fremden im Eigenen bewusst und so definierte er weise, dass nur derjenige entfremdet ist, der sich auch entfremdet fühlt. Das unterscheidet ihn von beispielsweise Lenin wie auch vielen Linken der letzten fünfzig Jahre, die in einer paternalistischen Geste Arbeiter für entfremdet erklärten, die man gegen ihren Willen aufklären müsste6. Der vielleicht bezeichnendste Teil von Marx Haltung zu diesem Thema mag nicht in seinen Schriften gefunden werden, sondern in der Tatsache, dass er keine seiner Schriften zum Thema Entfremdung (Die deutsche Ideologie, 1845/46; Pariser Manuskripte, 1844), zu Lebzeiten veröffentlichte.
Die Voraussetzung der Freiheit
Nun stellt sich natürlich die alte Lenin’sche Frage: Was tun? Wir dürfen nicht aus Angst davor, paternalistisch zu sein, Sozialpolitik prinzipiell ablehnen. Denn das Versprechen des sozialen Aufstiegs ist gleichsam die Verheißung einer Möglichkeit der Selbstermächtigung und damit letzten Endes der Befreiung. Denn auch der Akt der Befreiung selbst ist nicht ohne ökonomische Voraussetzungen. Dementsprechend sollte die Befreiung von der ökonomischen Diskriminierung von Seiten der sozialen Diskriminierung hergedacht werden. In anderen Worten muss Sozialpolitik die Möglichkeit zur Befreiung und somit die Möglichkeit des ökonomischen Subjekts schaffen.
Marx erkannte das bereits in seiner Analyse der Französischen Revolution. Er unterscheidet zwischen Revolutionen in vorkapitalistischen Gesellschaften (z.B. englische Revolution), in der es stets um die Abschaffung eines konkreten Herrschers ging, und Revolutionen in modernen Gesellschaften, bei denen eine Änderung in der ökonomischen Verteilung im Vordergrund steht. Im Kapitalismus ist ergo die Revolution das Erzwingen einer Umwälzung im Klassenkampf7. Genauso sollten wir auch die Lage von Big Mike begreifen. Der Rassismus ist nicht losgelöst von den ökonomischen Verhältnissen zu betrachten. Denn ein Befreiungsakt selber setzt bereits ein gewisses Ausmaß an Freiheit voraus. Hannah Arendt spricht in dem Zusammenhang von der Freiheit, frei zu sein. Diese besteht darin, dass der Mensch so weit von den Zwängen des täglichen Überlebenskampfes befreit ist, dass er in der Lage ist, sich tatsächlich über Freiheit Gedanken machen zu können8. Historisch lässt sich das darin beobachten, dass in der amerikanischen Revolution die Sklaven eigentlich keine Rolle spielten. Auch trat die Unterschicht in der französischen Revolution als Akteur kaum in Erscheinung. Stattdessen ging die revolutionäre Bewegung von einer Schicht aus, die bereits eine so geringe Menge an Besitz hatte, als dass für sie Befreiung überhaupt in den Sphären des Denkbaren lag.
Diesen Aspekt negiert der Film aber zur Gänze. Bei so ziemlich jedem einzelnen Aspekt findet der Film einen Weg, die Frage nach dem ökonomischen System zu umschiffen. So fragt der Film, wie es eigentlich um die christlichen Werte stehe, wenn arme Kinder aus bildungsfernen Familien nicht in christlichen Schulen inkludiert würden. Zu der eigentlichen Problematik, dass in keinem anderen Industriestaat die weiteren Chancen so sehr von der Schule abhängen wie in den USA, schweigt der Film allerdings. Und als Leigh bei einem Mittagessen mit ihren Freundinnen beinah auf das Thema sozialen Wohnungsbau und der Konzentration von sozial-schwachen in bestimmten Stadtteilen zu sprechen kommt, interveniert das Drehbuch ganz schnell durch einen Charakter, der auch als Mitglied der Oberschicht glaubt, alle schwarzen Männer wären Vergewaltiger. Auch bleibt dem Hauptcharakter bis zum Schluss eine Befreiung verwehrt. Der Film wirft absolut richtigerweise in den letzten Minuten die Frage auf, inwiefern es bei dem ganzen Unterfangen tatsächlich je darum ging, Big Mikes Träume zu verwirklichen. Aber sofort wird der amerikanische Filmtopos des konservativen Familienideals ausgepackt, um auch diese Frage wieder zu ersticken. Wenn zum Schluss gefragt wird, was er eigentlich wollte, dann suspendiert sich die Möglichkeit zur Selbstbehauptung von Big Mike sofort in den Wünschen Leighs. Der Film versagt Big Mike die Subjektwerdung bis zum Schluss.
Kritische Würdigung
An vielen Stellen wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Film selber rassistisch sei. Sandra Bullocks Figur ist hier federführend darin, Quinton Aarons Charakter zum bloßen Objekt der Gesellschaft zu degradieren. Die Ideologie des Films ist keinesfalls besser. So ist das Werk derart konstruiert, dass ebenso das filmische Narrativ verhindert, dass sich Big Mike als Subjekt behaupten kann. Selbst die Anrede seiner Figur, die er wünscht, wird erst dann offenbart, nachdem ihm versichert wurde, dass er sich tatsächlich über sich selbst äußern dürfe. Man sollte allerdings dem Film dafür dankbar sein, dass er, im Bemühen, einen antirassistischen Film zu drehen, so offensichtlich unter diesem Problem leidet. 2010 gewann Sandra Bullok mit ihrer Rolle einen Oscar als beste Hauptdarstellerin. Und es verwundert vermutlich niemanden, dass es dieses gefühlig-verlogene Machwerk war, das den Urin der Academy Mitglieder so sehr zu erwärmen wusste, dass man der Nichte von Peter Ramsauer für ihre Arbeitsverweigerung diese Auszeichnung verlieh. Wenn es ein Werk gibt, das unfreiwillig aufklärerische Qualitäten besitzt, dann ist das The Blind Side.
Bild: Cinematographer’s room – Noom Peerapong (c)
1 Groeneveld, J. (2020). Das sind die sechs größten Überraschungen der US-Wahl. Business Insinder, 20.11.2020. www.businessinsider.de/politik/welt/das-sind-die-sechs-groessten-ueberraschungen-der-us-wahl-a/
2 Augsburger Allgemeine (2018). Wählen Arme wirklich AfD? Augsburger Allgemeine, 20.10.2018. www.augsburger-allgemeine.de/augsburg-land/Waehlen-Arme-wirklich-AfD-id52496791.html
3 Kant, I. (1784). Was ist Aufklärung? In: Kant, I. Was ist Aufklärung? Ausgewählte kleine Schriften. Felix Meiner Verlag, Hamburg.
4 BBC (2016). Clinton: Half of Trump supporters ‚basket of deplorables‘. BBC online, 10.09.2016. www.bbc.com/news/av/election-us-2016-37329812
5 Adorno, T. W. (1966). Negative Dialektik. In: Adorno, T. W. Werke, Band.6 : Negative Dialektik/ Jargon der Eigentlichkei, Suhrkamp Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
6 Henning, C. (2015): Theorien der Entfremdung zur Einführung. Junius Verlag GmbH, Hamburg.
7 Marx, K. (1850). Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850. In: Marx-Engels-Werke, Band 7, Dietz Verlag, Berlin, 1960.
8 Arendt, H. (2018). Die Freiheit, frei zu sein. 11. Auflage, dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München, 7-42.