,,Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein…”

Betrachtungen der aktuellen Krisen westlicher Gesellschaften

Slavoj Žižek neues Buch Unordnung im Himmel – Lagebericht aus dem irdischen Chaos ist eine Sammlung verschiedener Essays und Artikel von unterschiedlicher Qualität, von denen einige an anderer Stelle bereits veröffentlich wurden1. Dabei kommentier er eine Reihe an aktuellen Themen von der Inhaftierung Julian Assanges in Isolationshaft über ein Musikvideo von Rammstein bis hin zum Ukraine-Krieg. Die einzelnen Kapitel bauen weder aufeinander auf, noch finden sich auf den ersten Blick Themen, die in allen Texten präsent sind. Vielmehr wird das Ganze einzig durch ein kurzes Vorwort zusammengehalten. Nun mag man Žižek den Vorwurf machen, er recycle hier alte Schriften von sich. Oder aber man sieht dieses Buch als eine Aufforderung, selbst den roten Faden in das Netz aus Themen einzuflechten.

Dazu gibt Žižek uns in seinem Vorwort einige Hinweise an die Hand, wie die weiteren politischen Kommentare mit oder gegen ihn zu denken seien. Der Titel des Buches ist eine Anlehnung an ein Zitat von Mao Tse-tungs. In einem Brief, den Mao an seine Frau richtete, soll dieser den Satz geschrieben haben2:

,,Es herrscht große Unordnung unter dem Himmel; die Lage ist ausgezeichnet.“3

Der Grund, weshalb das Buch mit diesem Zitat Maos beginnt, liegt auf der Hand. Seiner Frau gegenüber verwies Mao damals darauf, dass eben dort, wo die bestehende Gesellschaftsordnung zusammenzubrechen beginnt, sich der Raum für fundamentale Veränderungen und revolutionäre Machtwechsel auftut.

Das Symbol des Himmels steht dabei für das, was Lacan den Großen Anderen nennt. Bei Lacan selber ist der Große Andere jenes symbolische Nicht-Ich, nach dem jedes Subjekt sein Handeln ausrichtet4. Žižek interpretiert nun den Großen Anderen, im Kontext von Gesellschaften, als die Logik der gesellschaftlichen Entwicklung, der jedes soziale Handeln unterworfen ist5. So wie der Himmel immer über uns ist, so hängt auch der imaginäre Blick des fiktiven Großen Anderen immer über uns. Nach seinem Blick richtet der Mensch sein Verhalten aus, seine sprachliche und symbolische Logik ist es, die unser Denken strukturiert.

Die Rolle des Himmels lässt sich in diesem Zusammenhang durchaus wortwörtlicher verstehen, als es zunächst scheint. Am 20. Juli 1969 endete das Wettrennen um den Mond und die USA gingen als die Sieger vom Platz: Sie waren die Ersten, denen es gelungen war Menschen zum Mond zu bringen. Live übertrug das Fernsehen die Bilder der Landung von Apollo 11 in der kargen Geröllwüste der Mondoberfläche. Diese Bilder veränderten die Geschichte. Das Entscheidende dabei waren nicht die Bilder von der Mondoberfläche, sondern die Bilder von der Erde. Der Philosoph Günter Anders wies darauf hin, dass das historische Novum der Mondmission vor allem in der Selbstbegegnung der Erde lag. Die Erdenbewohner konnten zum ersten Mal tatsächlich sich selbst sehen:

,,Sich selbst sehen sie also im Spiegel, allerdings kommt das Spiegelbild auf die absurdeste Weise zustande, da ihr Bild ja erst einmal nach unten reisen muß, zu uns, zur Erde, um von dieser zu ihnen hinauf zurückgeworfen zu werden. Gleichviel, nicht nur gilt, daß wir, die abwesenden Millionen hier unten, an ihren Erlebnissen dort oben teilnehmen; sondern ebenfalls, daß sie, die anwesenden Akteure, dort oben sich so sehen können, als wären sie nur irgendwelche abwesenden Zuschauer hier unten auf der Erden. Sie können also an unserer Nichtteilnahme teilnehmen.6

Worauf Anders hier verweist, ist klar: 1969 verließ der Große Andere zum ersten Mal dies Sphäre des abstrakten Symbolischen und manifestierte sich in einer Symbolik, die für das menschliche Auge direkt wahrnehmbar waren. Die Menschen auf der Erde sahen zum ersten Mal sich selbst mit dem Blick desjenigen, der unbeteiligt über allem schwebt. Zeitgleich sahen die Astronauten auf Mond sich selber durch die Augen der irdischen Fernsehzuschauer. Die Wahrnehmungssphäre eines jeden wurde also um jene Komponente erweitert, mit der ein jeder auf sein eigenes Handeln durch den Blick eines sieht.

In dem Sinne sollten wir vielleicht auch den Kern der Verschwörungstheorie um die Fälschung der Mondlandung interpretieren. Was hier postuliert wird ist nicht einfach, dass die Aufnahmen vom Mond in einem Filmstudio entstanden sind, sondern vielmehr, dass die Regierung die Selbstbegegnung der Erde aus politischem Kalkül fälschte, wodurch auch der Verdacht des Bezugs auf den Große Andere fällt.

Sieht man den Himmel als Sphäre des Großen Anderen so wird auch klar, dass es nicht nur einen Himmel gibt. Christa Wolf hat also recht, wenn sie ihrem Buchcharakter angesichts der Errichtung des Eisernen Vorhangs die Worte in den Mund legt, der Himmel sei das Erste, was geteilt würde7. Zu Zeiten des Kalten Krieges, so Žižek, war der Himmel noch zweigeteilt; zwei Weltmächte standen einander gegenüber und teilten die Welt unter sich auf. Heutzutage aber, scheint die Spaltung nicht mehr zweigeteilt zu sein, vielmehr zieht sie sich durch die einzelnen Gesellschaften durch. Aus der zweigeteilten Welt wurde eine fragmentierte8.

Der Himmel über Berlin

Verweilen wir zunächst noch ein bisschen beim Symbol des Himmels. 1987 nahm der Regisseur Wim Wenders zusammen mit Literaturnobelpreisträger Peter Handke den Zuschauer mit in die Welt eines geteilten Himmels. In einem der bedeutendsten deutschen Filme erzählt er in Der Himmel über Berlin die Geschichte zweier Engel (Otto Sander und Bruno Ganz). Die Engel leben ein rein geistiges Leben, sie können in das Leben eines jeden Menschen eindringen, hören ihre Gedanken und Sorgen, doch sind nicht dazu in der Lage mit der physischen Welt direkt zu interagieren. So streifen sie durch die Kulisse des nur teilweise wiederaufgebauten, geteilten Berlins und verweilen einige Zeit bei unterschiedlichsten Menschen. Sie kennen deren Sorgen und Nöte, doch sind unfähig in irgendeiner Form einzugreifen.

Ist es nicht genau das, was das moderne Christentum ausmacht? Während im Alten Testament Gott selber und seine Engel noch mit den Menschen in Kontakt traten, sie sanktionierten und den Verlauf der Weltgeschichte bestimmten, so ist das Neue Testament von der Abwesenheit Gottes gekennzeichnet.

Was es mit Wenders symbolischer Geschichte auf sich hat, wird deutlicher, wenn man den Film vom Kontext eines Textes betrachtet, zu dem (neben andere) der Film einen direkten Bezug aufbaut. Ein Bild von Paul Klee (Angelus Novus9) inspirierte Walter Benjamins zu einem aus 18 Thesen bestehenden Text Über den Begriff der Geschichte. In besagtem Text spielt der Engel der Geschichte eine entscheidende Bedeutung. 1940 – in einer Zeit also, als innerhalb von wenigen Jahren die europäische Struktur erneut zerbracht – wendete Benjamin sich kritisch dem Begriff der Geschichte und der Fortschrittsvorstellungen zu10. Er schreibt:

,,Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“11

Angesichts der Ereignisse in Europa und Russland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, muss eine Geschichtsauffassung, die von einem permanent anhaltenden Fortschritt ausgeht, naiv erscheinen. Anstelle des Fortschritts tritt ein stetig anwachsender Trümmerhaufen. Es bedarf somit auch einer neuen Auffassung von Geschichte:

,,Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der ‚Ausnahmezustand‘, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht.12

Die Pointe bei Benjamin ist die, dass eben das, was uns als der Ausnahmezustand erscheint, in Wirklichkeit die Regel darstellt. Unter diesen scheinbaren Ausnahmezustand fällt bei Benjamin auch der Faschismus. Nur wer zu einer anderen Auffassung von Geschichte kommt, der ist dazu in der Lage, einen ,,wirklichen Ausnahmezustand“ gegen die spontane Tendenz der Geschichte herbeizuführen; also den Nährboden zu schaffen für eine tatsächliche, fundamentale Änderung der Verhältnisse. Damit wären wir wieder bei Mao. Die Krisen der Gegenwart sind nicht der tatsächliche Ausnahmezustand. Vielmehr sind sie Ausdruck der kapitalistischen Normalität. Allerdings bieten sie den Nährboden, auf dem das Undenkbare rapide denkbar wird und der Bürger an dem Punkt gelangt, an dem er bemüht ist, den ,,wirklichen Ausnahmezustand“ herbeizuführen.

  Im Film nehmen Wenders und Handke die Engel und die Trümmer wörtlich. Der Film zeigt uns sowohl ein Berlin, dessen Antlitz noch immer von den Narben des Faschismus und deren Folgen geprägt ist. Sie zeigen uns aber auch die Engel, die der Zukunft den Rücken gekehrt haben und sich in den persönlichen Problen der Einzelnen verlieren. Somit richten sie diesen Gedanken nun auf den Himmel selber. Der Film projiziert auf den Himmel, damit in den Augen der Zuschauer der Himmel auf unser irdisches Sein zurückprojizieren kann. Die Engel sind die Verlassenen; heilige Relikte, die durch die Machtlosigkeit Gottes zur Passivität verurteilt sind. Wenn Bruno Ganz also den Status eines Engels abwirft, um als handlungsfähiger Mensch auf Erden zu weilen, dann stellt er damit den Gegenpol zum Passanten dar. Anfang des letzten Jahrhunderts stellte der Passant einen in der Literatur verbreiteten Sozialtypus dar. Der Mensch wird als passiver Beobachter porträtiert, der sich von jenen Ereignissen, denen er sich ausgeliefert sieht, nicht länger in Besitz nehmen lässt. Seine Existenz verlagert sich somit vom weltlichen Sein in der geistigen Verarbeitung gewonnen Impressionen (man denke nur an die Kleine Aster13 bei Gottfried Benn oder die Burgunder-Szene bei Ernst Jünger). Doch ist die kritische Frage, die man sich stellen sollte, ist die, ob Ganz‘ Charakter dadurch tatsächlich zu einem handelnden Subjekt findet?

In seinem Essay Christus in Zeiten der Pandemie diskutiert Žižek, wie man eben jene Passivität zu interpretieren habe. Beinah muten seine Worte wie eine perfekte Charakterisierung der beiden Engel an:

,,Die Ewigkeit ist das Gefängnis schlechthin, ein erstickender Kerker, und erst der Sturz in das irdische, kreatürliche Leben schafft eine Öffnung hin zu menschlicher (und sogar göttlicher) Erfahrung.“14

Mit dieser Äußerung greift Žižek eine Idee des britischen Schriftstellers und Unitariers G. K. Chesterton auf. Für Chesterton sind menschliche Kategorien wie Liebe vom Individuellen aus zu denken. Deshalb muss Gott folglich nicht nur die Menschen von sich selbst abtrennen, um die Liebe der Menschen zu erfahren, sondern auch die Abtrennung muss sich schließlich auch gegen ihn selbst richten; Gott muss sich von Gott abtrennen. Dieser Prozess vollzieht sich im Neuen Testament. Gott darf nicht nur der alleinregierende Herrscher sein, so gänzlich Gott sein will, sondern muss auch das Anti-autoritäre, der Rebell sein. Die Figur des Rebellen manifestiert sich in der Bibel in der Person von Jesus Christus. Wenn Jesus kurz vor seiner Kreuzigung der berühmte Ausruf ,,Eli, Eli, lema sabachtani!“ entfährt, so erkennt er darin nicht nur die Verlassenheit Gottes von sich selbst, sondern begeht selbst die größte Sünde von allem, indem er in seinem Glauben schwankt15.

Wir müssen an dieser Stelle über Žižek hinausdenken und uns fragen: Wenn Jesus ein Rebell war, gegen was rebellierte er dann? Eine mögliche Antwort auf die Frage kann uns Max Webers Gedanke zur Verselbstständigung von Systemen geben. Weber erörtert diesen anhand der kapitalistischen Rationalisierung aller Lebensbereiche, die schließlich selber ins Irrationale kippt16. Mit diesem Verselbstständigungsgedanken lässt sich Weber mit Nietzsche und ebenso Nietzsche mit Weber interpretieren. Es gibt viele Interpretationen von Nietzsches Tod Gottes17. Doch wie ist uns das Unmögliche gelungen, die Ermordung Gottes? Die Antwort im Weber’schen Sinne wäre: Mittels der Religion. Da, wo das göttliche Gesetzt eine Institutionalisierung und somit weitere Legitimierung durch eine Religion erfährt, da werden Kräfte entfesselt, die auch Gott selber nicht länger kontrollieren kann. Ist es nicht genau das, wogegen Jesus rebellierte? Wenn Jesus mit der Geißel die Tempelbediensteten (die Geldwechsler und Verkäufer) aus dem Tempel jagt18, zürnt er nicht nur gegen die Profitgier der Tempelaristokratie und den Opferkult, sondern gleichsam gegen die institutionalisierte Religion selber. Jesus ist damit das Gegenteil der Engel, die uns Wenders in seinem Film präsentiert. Dass das Neue Testament die Antithese zum Alten Testament bildet, zeigt, dass Jesus in der Geschichte der Bibel den tatsächlichen Ausnahmezustand herbeiführte. Sein Leid, seine Liebe, Worte und Taten hoben die christliche Religion aus den Angeln, um sie anschließend neu zusammensetzen. Er ist der Heilsbringer, der als Rebell auftritt; ein Heiland, der selber in seinem Glauben schwankt und von Gott verlassen ist.

Bei Wenders findet der Engel im Sinne Chestertons tatsächlich zu einer menschlichen wie göttlichen Erfahrung. Das Ewige tritt hinab in das begrenzte Sein, der Engel wird Mensch, dem die vollständige Erfahrung der göttlichen Liebe nun möglich ist. Doch ist dies alles andere als ein Happy End. Denn auch auf Erden bleibt der hinabgestiegene Engel ohnmächtig gegenüber dem Sturm der Geschichte.

Was hätte er also anders machen müssen?

Solidarität? Nein Danke!

In dem Essay Die Grenzen der Demokratie äußert Žižek jenen Gedanken, der in seinem neuen Buch am häufigsten wiederkehrt. Den Kern seiner These, wie ein tatsächlicher Ausnahmezustand herbeizuführen ist, lässt sich wie folgt zusammenfassen:

,,Der Weg zu einem echten Wandel tut sich erst auf, wenn wir die Hoffnung verlieren, dass sich das System von innen heraus verändern lässt.“19

Trotz Klima-Krise, Inflation, Ukrainekrieg und Pandemie scheinen wir von einer tatsächlichen qualitativen Veränderung des Systems noch weit entfernt zu sein. Der Krieg wie auch der drohende Kollaps der Gesundheitssysteme werden als Ausnahme-zustand missinterpretiert. Dabei sind sie die Normalität; die Schattenseite eben jener kapitalistischen Logik, die Staaten dazu veranlasst relevante Infrastruktur zu privatisieren und militärisch ihre Wirtschaftsinteressen zu verteidigen. Diese Fehlwahrnehmung verwundert kaum, denn Verhaltensweisen und Systeme, die sich einmal etabliert haben, erweisen sich für gewöhnlich als sehr persistent. Das trifft insbesondere in Krisenzeiten zu. Man denke in dem Zusammenhang nur an die viel Artikulierten Forderungen, man müsse ,,zur Normalität zurückkehren“ oder ,,ein Stück Normalität wieder ermöglichen“. Anomie ist für alle Beteiligten mit einem hohen Ausmaß an Unsicherheiten verbunden. Diese Unsicherheit wirkt sich stark auf das Entscheidungsverhalten der Menschen aus. Dann, wenn eine Entscheidungssituation mit hoher Unsicherheit verbunden ist, neigt der Mensch dazu, beim Status Quo zu verweilen, da dieser durch eine Nichtentscheidung geschützt wird. In der Psychologie bezeichnet man das als Status Quo Bias20. Die Krise fördert also zunächst nicht per se einen Wandel.

Dort, wo die Krise nicht als Teils der systemischen Logik erkannt wird, sondern als vorübergehende Anomalie gilt, bleibt die Reaktion auf der Ebene reiner Symptombekämpfung. Gleich zweimal verweist Žižek auf den irischen Schriftsteller Oscar Wilde, dessen Romanfigur Dorian Gray ebenfalls als eine Variante des Passanten gelesen werden kann. Dieser stellte sich in seinem Essay Die Seele des Menschen unter dem Sozialismus ebenfalls die Frage, was notwendig ist, um eine tatsächliche Veränderung des ökonomischen Systems zu bewirken. Direkt zu Beginn des Essays stellt der Dandy Wilde folgende Überlegung zur Bekämpfung von Armut durch einen solidarischen Akt an:

,,Ihr Heilmittel sind geradezu ein Teil der Krankheit. (…) Das eigentliche Ziel ist der Versuch und Aufbau der Gesellschaft auf einer Grundlage, die die Armut unmöglich macht. Und die altruistischen Tugenden haben tatsächlich die Erreichung dieses Ziels verhindert (…) Es ist unsittlich, das Privateigentum dazu zu benutzen, die schrecklichen Übel zu lindern, die die Institution des Privateigentums erzeugt hat.“21

Die liberale Demokratie als solche befindet sich in einer Krise. Diese Krise ist nicht etwa die Entwicklung der letzten Jahre, sondern sie hält schon seit einigen Jahrzehnten an. Doch nur in wenigen Momenten tritt diese Krise für jede Bürger sichtbar zutage. Dementsprechend kann eine Lösung des Problems nicht darin liegen, die bestehenden demokratischen Systeme weiter zu demokratisieren, indem mehr Minderheiten oder Interessensgruppen miteinbezogen werden. Ebensowenig sollten wir uns auf eine außerpolitische Organisation von sozialer Gerechtigkeit (wie schon von Wilde kritisiert) verlassen. Stattdessen gilt es die Hoffnung aufzugeben, innerhalb der bestehenden Institutionen liberaler Demokratien (die immer auch eine kapitalistische ist) eine Lösung zu finden. All das, was an der liberalen Demokratie als bewahrenswert eingestuft wird, kann nur da erhalten werden, wo man bereit ist, den Rahmen der institutionalisierten liberalen Demokratie zu verlassen22. Das Stichwort hier lautet Hoffnung. Nur da, wo eine Krise die Hoffnung auf eine inner-systemische Lösung bereits zerschmettert hat, ist der Boden für einen tatsächlichen Wandel bereitet. Das aber ist eben, was die modernen linksliberale Strömungen am meisten zu scheuen scheinen. Stattdessen setzten sie auf die Mobilisierung der Privatgesellschaft, die eben dort einspringt, wo der Staat aktiv sein müsste. Solidarität nährt dadurch jene Hoffnung auf eine Lösung innerhalb des bestehenden Systems, da sie die Symptome des Problems als kurierbar behandelt.

Den Punkt, den Žižek hier hervorhebt23 ließe sich auch noch schärfer formulieren: In öffentlichen Auftritten, wie der, in dem Margeret Thatcher eine Fokussierung auf Eigeninteressen beschwört24 oder der, bei welchem Hilary Clinton Trumps Anhänger (die zumeist sozial schwächer war als ihre eigen Unterstützer) als ,,ein Korb voller Bedauernswerter” bezeichnete25, tritt die kapitalistische Ideologie, deren Anhänger sich ausmalen von einer Fortführung des Klassenkampfes zu profitieren, nackt und für jeden erkennbar zutage. Anders hingegen verhält in jenen Fällen, in denen sich die Ideologie im links-liberalen Gewand hüllt. Hier soll ebenso das herrschende System, das in erster Linie das jeweilige Problem produziert hat, aufrechterhalten werden. Doch soll die Stabilität des Systems nicht durch blanken Egoismus erreicht werden, sondern mittels Mechanismen stabilisiert werden, die mit dem Ablasshandel vergleichbar sind. Hinter dem derzeit oft genutzten Begriff ,,Solidarität“ versteckt sich demnach nur ein verklausuliertes ,,Weiter so“. Aus Solidarität klatschte man ein wenig für die Pflegekräfte in der Corona-Krise, um nach dem vermeintlichen Ende des medizinischen Notstands die Exploitation der Pfleger durch zumeist privatisierte Krankenhäuser fortsetzen können. Und ebenso spendete man aus Solidarität warme Decken für Flüchtlinge, um anschließend weiterhin den eigenen Wohlstand durch Kriege in anderen Ländern gesichert zu wissen. Die Beschwörung von Solidarität entpolitisiert alle Fragen, wo der Bürger mit jener Ungerechtigkeit konfrontiert wird, die der Kapitalismus fortlaufend erzeugt. Alle gesellschaftlichen und ökonomischen Themen werden auf eine persönliche Ebene der freiwilligen Großzügigkeit degradiert, damit eben jene politische Komponente, die nach dem ökonomischen System selber fragt, unterdrückt wird. Gleichzeit befreit der Bürger, der als Privatperson den Hilfsbedürftigen zur Seite steht, auch den Staat ein Stück weit aus der sozialen Verantwortung. Das fortlaufende Einspringen des Bürgers in Krisenzeit signalisiert dem Staat, dass er im Zweifel für bessere Integrationsmaßnahmen, Versorgung oder auch Rettung von Flüchtlingen nicht mehr Geld bereitstellen muss, schließlich gibt es doch die Solidarischen, die dies umsonst machen.

Anders ausgedrückt trifft Sahra Wagenknecht (Die Linke) mit ihrem Terminus der Lifestyle-Linken den Nagel versehentlich auf den Kopf. Nur ist es eben nicht so, dass der tatsächliche soziale (im doppelten Sinne des Wortes) Akt dadurch verhindert wird, dass die Lifestyle-Linken ihren eigenen privilegierten Lifestyle zur politischen Lösung und moralischen Maßstab aller Haltungen aufschwingen26. Vielmehr ist genau das Gegenteil der Fall: Eine tatsächliche Verbesserung der Situation wird eben dadurch verhindert, dass das Politische selber zur Lifestyle-Frage degradiert wird. Die einen wollen halt das Klima schützen und die anderen essen lieber Schnitzel – Wat den Eenen sin Uhl, is den Annern sin Nachtigall! Aus diesem Grunde sollte man sehr vorsichtig damit sein, Solidarität als sozialen (gesellschaftlichen) Akt zu sehen.

…oder doch lieber ein Reförmchen?

Ist man der Argumentation bis hierhin gefolgt, so muss man sich fragen, ob Žižek nicht in seinem Essay über die Pandemie irrt. Dabei geht es nicht sosehr um die Prognosen, zu denen er sich 2020 hinreißen ließ, sondern mehr um seinen Lösungsvorschlag. Der Vorschlag folgt der Idee des Kriegszeitkommunismus, der sich auf vier Säulen stützt: 1) Voluntarismus 2) Terror 3) Egalitäre Gerechtigkeit und schließlich 4) Vertrauen in die Menschen. In allen Industriestaaten griff der Staat in die Wirtschaft ein, verteilte Milliardenhilfen und begann das Gesundheitswesen neu zu organisieren (Voluntarismus). Damit sieht Žižek den ersten Schritt in Richtung eines Wandels schon getan. Was gestern noch marktwirtschaftlich als unmöglich galt, sehen wir heute schon umgesetzt, weil es eine Notwendigkeit darstellt. Der Staat tut des weiteren Recht daran, die Freiheiten der Bürger in der Pandemie einzuschränken und die Bürger aufzufordern, Verstöße gegen Corona-Maßnahmen zu melden (Terror). Die Industriestaaten müssen erkennen, dass eine effektive Bekämpfung der Pandemie nur global möglich ist. Also müssen auch allen ärmeren Ländern die Impfstoffe zur Verfügung gestellt werden, um Ausbreitung und Mutationen zu bekämpfen (Egalitäre Gerechtigkeit). Da die Kontrolle der Einhaltung der notwenigen Maßnahmen nicht funktionieren kann, muss der Bürger genügend geängstigt werden, damit diese auch bereit ist, sich an alle Bestimmung zu halten (Vertrauen in die Menschen). Allerdings sollten die Menschen den staatlichen Institutionen nicht vollkommen vertrauen27.

Žižek unterschätz hier den Kapitalismus gewaltig. Zum Einen behandelt er hier den Kapitalismus nur als Wirtschaftssystem und nicht, im Sinne Walter Benjamins, als religiöse Kategorie, die das globale Wirtschaftssystem in seine heutigen Form gebirt28. Das bedeutet zum Anderen, dass man die ökonomische Realität verkennt, wenn man glaubt, dass ,,freie Marktwirtschaft“ nur ein schönerer Begriff für Kapitalismus sei. Genau das Gegenteil ist der Fall: Der Kapitalismus ist eben nicht durch freien Wettbewerb definiert. Schon Karl Marx wies darauf hin, dass im Verlauf des Kapitalismus freier Wettbewerb immer stärker ins Hintertreffen gerät. Kleine Anbieter werden zunehmend vom monopolistischen Großkonzernen verdrängt29. Gab es Anfang des letzten Jahrhunderts noch Duzende kleine Lebensmittelläden in den Städten, so wird die Nachfrage nach alltäglichen Bedarfsgütern heute von einer Hand voll Supermarktketten befriedigt. Der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter hatte also Recht, als er darauf hinwies, dass der ,,frei Wettbewerb“ ein realitätsfernes Ideal sei. Viel mehr herrsche im Kapitalismus monopolistische Konkurrenz, in der nur disruptive Innovationen noch in der Lage sind, die ökonomischen Machtverhältnisse umzustürzen30.

Betrachtet man aber den Kapitalismus, wie Benjamin, als religiöse Kategorie, so ist die Aufopferung im Gedanken schon enthalten. Während Žižek die Corona-Maßnahmen als Instrument zum Schutze der Bevölkerung interpretiert, so lassen die Maßnahmen auch noch in die entgegengesetzte Richtung interpretieren. Die Bevölkerung musste ihre Freiheit einschränken, damit das privatisierte Gesundheitssystem nicht einen Zusammenbruch erleidet, welcher in letzter Konsequenz die Gesundheitsinfrastruktur als Investitionsobjekt gefährden könnte. Anders gesagt, dürfen wir nicht den Fehler machen und Corona als eine externe Krise sehen, die unser Wirstchafts- und Gesellschaftssystem bedroht. Vielmehr ist ein großer Teil der Krise das Resultat jener Tendenz, innerhalb des Jahrzehnts schon lange zu beobachten ist. Der drohende Zusammenbruch des Gesundheitssystem angesichts der hohen Zahlen an Corona-Infizierten ist nichts, was vom Himmel gefallen wäre. 1985 lockerte der Bundestag unter der zweiten Regierung Helmut Kohls (CDU) zum ersten Mal jene Gesetze, die es Krankenhäusern (die damals noch mehrheitlich staatliche Einrichtungen waren) Gewinne zu machen. Dadurch wurde die Rolle der Krankenhäuser als öffentliches Gut und Teil der staatlichen Infrastruktur mehr und mehr geschmälert, während sie gleichzeitig als Geschäftsmodell und Investitionsobjekt wurde. Verstärkt wurde diese Entwicklung schließlich zusätzlich von einer Reihe an Gesetzen, die die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder (SPD) erließ, die ein neues Vergütungssystem einführte. Die Fallzahlen schossen dabei in die Höhe während die Liegezeiten verkürzt wurde. Die Behandlung der Kranken wurde nun nach der Logik des optimalen Durchlaufs geplant, wie er aus der Warenproduktion bekannt ist. Behandlungsmethoden und Einrichtungen, die gemäß dieser Logik nicht länger rentabel waren, wurden geschlossen. Während es 1960 allein in Westdeutschland noch 3.900 Krankenhäuser gab, so gibt es heute in der gesamten Bundesrepublik noch nicht einmal halb so viele31.

Mit Blick auf Deutschland sehen wir also, wo Žižek irrt. Die Pandemie gefährdet nicht den Kapitalismus, vielmehr ist genau das Gegenteil der Fall: Die wirtschaftlichen Interessen einiger weniger gefährden unser aller Recht auf gesundheitliche Versorgung. Wer an diesem Faktor noch irgendeine Form von Zweifel hegt, der solle sich nur an Bundestagswahlkampf von 2021 zurückerinnern. Ist es nicht bemerkenswert, dass in der größten Gesundheitskrise der Bundesrepublik Gesundheitspolitik (Privatisierung der Krankenhäuser, Fallpauschale) als Wahlkampfthema kaum vorkam? In einem späteren Essay aus diesem Jahr musste auch Žižek auch selber einräumen, dass ,,in der großen Schlacht zwischen Gesundheit und Kapitalinteressen das Kapital gewonnen hat“32. Die Pandemie ist Teil jenes Ausnahmezustands, der im Kapitalismus die Normalität darstellt.

Žižeks Vorstellung des Kriegszeitkommunismus hat aber auch noch eine andere Schwachstelle. So sehr er auch an anderer Stelle propagierte, die Hoffnung auf eine innersystemische Lösung fahren zu lassen, so befürwortet er hier, die Reformen in die Hände jenes Systems zu legen, das für die Krise mitverantwortlich ist. Man sollte sich an dieser Stelle an das erinnern, was Herbert Marcuse, der Philosoph der neuen Frankfurter Schule, in Der eindimensionale Mensch herausarbeitete. Die hohe Resilienz des Kapitalismus‘ gegenüber fundamentalen systemischen Veränderungen rührt von der Fähigkeit jeden Widerstand in sich aufzunehmen, zu kapitalisieren und dadurch unschädlich zu machen. Einer großen Bedeutung in diesem Prozess kommt nach Marcuse jener Teil des kapitalistischen Systems zu, den Adorno als Kulturindustrie bezeichnet33. Ist es nicht genau das, was man tragischer Weise seit einiger Zeit bei Fridays For Future beobachten kann, deren eigentlich wichtigen Fragen in der Öffentlichkeit immer mehr zu Gunsten des Personenkults um Greta Thunberg in den Hintergrund gerückt werden?

Für Marcuse tendiert das industriegesellschaftliche System deshalb zur Totalität, da sich mit neuen technischen Möglichkeiten innerhalb des ökonomischen Systems gleichsam auch neue Möglichkeiten des Missbrauchs ergeben. Diese schlägt sich in einer Gesellschaft freiwilliger Knechtschaft nieder. Die darin realisierte Form der Unterdrückung ist insofern freiwillig, als sie nicht aus natürlichen, ökonomischen Notwendigkeiten erwachsen ist, sondern dem Bürger introjiziert wird34. Wenn Žižeks dazu auffordert, die Angst des Bürgers medial zu verstärken, damit dieser sich an die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen hält, so schafft er damit gleichzeitig einen neuen Mechanismus, der geeignet ist, den Status Quo zu sichern.

Marcuses Weg aus der freiwilligen Knechtschaft besteht in dem, was er als die Große Weigerung bezeichnet. Die eindimensionale Gesellschaft hat herkömmliche Formen des Widerstandes unwirksam gemacht hat, während gleichzeitig der Schein der Volkssouveränität aufrechterhalten wird. Dementsprechend kann es bei erfolgreichen Befreiungsbemühungen nicht darum gehen ein Reich der Freiheit der Gegenwart zu errichten. Nicht nur muss ein historischer Bruch mit der Vergangenheit vorgenommen werden, sondern gleichsam auch mit der Gegenwart, um den Aufbau einer freien Gesellschaft zu ermöglichen35. Nur auf diese Weise können die vorherrschenden Strukturen, die den Widerstand verunmöglichen, überwunden werden. Darin läge die ,,Befreiung von den Freiheiten der ausbeuterischen Ordnung“36. Der Drang nach gesellschaftlicher Veränderung kann sich also nur dadurch vollziehen, dass er sich außerhalb des Systems formiert und sich somit gleichsam der systemischen Kontrolle entzieht. Die Große Weigerung darf allerdings nicht durch Solidarität außerhalb der Institutionen das System stützen (wie Žižek selber zwei Mal erläuterte), sondern muss im Gegenteil einen subversiven Moment erzeugen, der das System von außen angreift37.

Der eigentliche Schluss, den es aus der Pandemie zu ziehen gilt, ist der Folgende: Das Problem ist hier, dass das Diktum vom eigentlichen Ausnahmezustand hier nicht funktioniert. Die meisten gesellschaftlichen Krisen – sei es eine Wirtschaftskrise oder Krieg – ist charakterisiert durch ein Systemversagen, dass es dem Bürger abnötigt, sich außerhalb des Systems zu organisieren. In einer Pandemie hingegen ist die Sache anders gelagert: Das Versagen des Systems zwang den Bürger im Gegenteil dazu, auf außersystemische Organisation zu verzichten.

Eine bessere Antwort könnte darin liegen, sich erneut mit den Konzepten Mao Tse-tungs zu beschäftigen. Mao war sich dessen bewusst, dass im Bestreben ein System zu verändern, man sich auch mit Widersprüchen konfrontiert sieht, die dem eigentlichen Ziel zunächst entgegenzustehen scheinen (Žižek selber zitiert besagten Text an anderer Stelle):

,,Im Entwicklungsprozeß eines komplexen Dinges gibt es eine ganze Reihe von Widersprüchen, unter denen stets einer der Hauptwiderspruch ist; seine Existenz und seine Entwicklung bestimmen oder beeinflussen die Existenz und die Entwicklung der anderen Widersprüche.

So bilden zum Beispiel in der kapitalistischen Gesellschaft die beiden gegensätzlichen Kräfte, Proletariat und Bourgeoisie, den Hauptwiderspruch. Die anderen Widersprüche wie zum Beispiel der Widerspruch zwischen den Überresten der Feudalklasse und der Bourgeoisie, (…) sowie alle übrigen Widersprüche – sie alle werden vom Hauptwiderspruch bestimmt, stehen unter seinem Einfluß.38

Daraus darf man aber nicht folgern, dass der Hauptwiderspruch das einzige (weil eigentliche) Problem ist, dessen Aufhebung als dringend zu betrachten sei39.

Die Corona-Pandemie sollte in dem Sinne als Nebenwiderspruch behandelt werden. Weder dem im Gesundheitswesen ausgebeuteten Pflegekräfte noch dem Klassenkampf als Gesamtes wäre durch einen Kollaps der Krankenhausinfrastruktur gedient gewesen. Der Zusammenbruch des Gesundheitswesens hätte zum einen die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte und Ärzte deutlich verschlechtert, während sich gleichzeitig die ökonomische Ungleichheit verschärft hätte. Wenn die Nachfrage nach Krankenhausbetten das Angebot übersteigt, werden die ökonomischen Möglichkeiten des Patienten zum über Leben und Tod entscheidenden Faktor. Der Hauptwiderspruch liegt ebenso auf der Hand: Das ökonomische System, das alles dem Diktat des Profits zu unterwerfen sucht, steht im Widerspruch zu den Grundbedürfnissen (Trinkwasser, Essen, medizinische Versorgung), die allen Menschen unabhängig vom sozioökonomischen Status gewährt werden müssen.

Nota bene: Angesichts von Pandemie, Klimawandel und Pandemie muss es den westlichen Gesellschaften gelingen einen radikalen Systemwechsel zu vollziehen. Gleichzeitig muss dies allerdings einer solchen Form geschehen, dass nicht das Leben tausender Menschen durch den Zusammenbruch der Infrastruktur gefährdet wird. Es bedarf also einer starken, außersystemischen Opposition, die die große Weigerung vollzieht. Diese darf allerdings nicht lifestyle-links (im oben diskutierten Sinne) sein, da sie sonst die dringenden Fragen der Gegenwart entpolitisiert und sie dadurch dem politischen System gänzlich entzieht. Auch darf sie sich nicht allzu solidarisch gebärden, da sie ansonsten einen tatsächlichen Wandel nur hinauszögert. Vielmehr muss sie von außen jene dringlichen Reformen in das politische und ökonomische System hineinbringen. Ansonsten sind wir so impotent wie die Engel in Wenders Film – eine willenlose Feder im Sturm der Geschichte – und eine wahrhaft soziale Gesellschaft bleibt in weiter Ferne so nah.


Das Essay wurde auf Grundlage von Slavoj Žižeks Unordnung im Himmel: Lageberichte aus dem irdischen Chaos geschrieben, welches als kostenloses Rezensionsexemplar vom wgb Verlag zur Verfügung gestellt wurde.

Copyright Cover © Wissenschaftliche Buchgesellschaft (wbg).

1 Z.B. der Text Les Non-Dupes errent und Was wird aus einer Handvoll Sonnenblumenkerne wachsen? erschien bereits am in The Philosophical Salon (20.09.2021).

2 MacFarquhar, R., & Schoenhals, M. (2009). Mao’s Last Revolution. Harvard University Press.

3 Zitiert gemäß: Žižek, S. (2021). Unordnung im Himmel – Lagebericht aus dem irdischen Chaos. Aktualisierte deutsche Auflage, WBG Theiss, Darmstadt, 2022, 43.

4 Lacan, J. (1955/56). Seminar III. Die Psychosen (1955–1956), Berlin/Weinheim: Quadriga 1997, 322.

5 Žižek, S. (2021). Unordnung im Himmel – Lagebericht aus dem irdischen Chaos. Aktualisierte deutsche Auflage, WBG Theiss, Darmstadt, 2022, 8.

6 Anders, G. (1970). Der Blick vom Mond – Reflexionen über Weltraumflüge. C. H. Beck Verlag, München, 95.

7 Wolf, C. (1963). Der geteilte Himmel: Erzählung. Dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Reprint Edition, 1973.

8 Žižek, S. (2021). Unordnung im Himmel – Lagebericht aus dem irdischen Chaos. Aktualisierte deutsche Auflage, WBG Theiss, Darmstadt, 2022, 8-9.

9 Wolfe, S. Stories of Iconic Artworks: Paul Klee’s Angelus Novus. Artland Magazin: https://magazine.artland.com/stories-of-iconic-artworks-paul-klees-angelus-novus/

10 Benjamin, W. (1940). Über den Begriff der Geschichte. In: Schweppenhäuser, H. & Tiedemann, R. (Hrsg.). Gesammelte Werke, Band I/2; Suhrkamp, Frankfurt am Main 1991, S. 690–708.

11 Ebd. Absatz XI.

12 Ebd. Absatz VIII.

13 Benn, G. (1912). Kleine Aster. In: Literaturwelt.com: https://www.literaturwelt.com/kleine-aster-gottfried-benn/

14 Žižek, S. (2021). Christus in Zeiten der Pandemie. In: Žižek, S. (2021). Unordnung im Himmel – Lagebericht aus dem irdischen Chaos. Aktualisierte deutsche Auflage, WBG Theiss, Darmstadt, 2022, 79.

15 Chesterton, G. K. (1908) Orthodoxie. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main, 2000, 248-259.

16 Weber, M. (1905). Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Anaconda Verlag GmbH, Köln, 2009, 41/164-165.

17 Nietzsche, F. (1887). Die fröhliche Wissenschaft. In: Scheier C. (Hrsg.): Philosophische Werke in sechs Bänden, Band 5. Felix Meiner Verlag, Hamburg, 2013, 121-171.

18 Matthäus 21, 12ff; Markus 11, 15ff; Lukas 19, 45ff; Johannes 2, 13–16.

19 Žižek, S. (2021). Die Grenzen der Demokratie. In: Žižek, S. (2021). Unordnung im Himmel – Lagebericht aus dem irdischen Chaos. Aktualisierte deutsche Auflage, WBG Theiss, Darmstadt, 2022, 43.

20 Samuelson, W., & Zeckhauser, R. (1988). Status Quo Bias in Decision Making. Journal of risk and uncertainty, 1 (1), 7-59.

21 Wilde, O. (1891). Die Seele des Menschen unter dem Sozialismus. In: Wilde, O. (1970). Drei Essays. Diogenes Verlag, Zürich, S. 7.

22 Žižek, S. (2021). Die Grenzen der Demokratie. In: Žižek, S. (2021). Unordnung im Himmel – Lagebericht aus dem irdischen Chaos. Aktualisierte deutsche Auflage, WBG Theiss, Darmstadt, 2022, 38-45.

23 Dieser Punkt ist schon lange vor ihm von diversen Autoren betont worden.

24 Thatcher, M. (1977). Speech to Zürich Economic Society (“The New Resistance”). Margaret Thatcher Foundation: https://www.margaretthatcher.org/document/103336

25 BBC (2016). Clinton: Half of Trump supporters ‚basket of deplorables‘. BBC online, 10.09.2016. www.bbc.com/news/av/election-us-2016-37329812

26 Wagenknecht, S. (2021). Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt. Campus Verlag, Frankfurt am Main, 7-17.

27 Žižek, S. (2021). Der Mut der Covid-19-Hoffnungslosigkeit. In: Žižek, S. (2021). Unordnung im Himmel – Lagebericht aus dem irdischen Chaos. Aktualisierte deutsche Auflage, WBG Theiss, Darmstadt, 2022, 46-53.

28 Es sei aber anzumerken, dass er für gewöhnlich diesen Denkfehler nicht macht.

29 Marx, K. (1894). Das Kapital – Kritik der politischen O?konomie. Band 3: Der Gesamtprozess der kapitalistischen Produktion. Dietz Verlag. Berlin 1957. Seite 61- 69/ 238-259.

30 Schumpeter, J. A. (1942). Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. 5. Auflage 1980. Francke Verlag GmbH München 1950. Seite 138-140.

31 Prantl, H. (2021). Not und Gebot – Grundrechte in Quarantäne. C. H. Beck, München, 43-55.

32 Žižek, S. (2021). Omikron – erst die schlechte Nachricht, dann die gute (die sogar noch schlechter sein kann). In: Žižek, S. (2021). Unordnung im Himmel – Lagebericht aus dem irdischen Chaos. Aktualisierte deutsche Auflage, WBG Theiss, Darmstadt, 2022, 247.

33 Marcuse, H. (1964). Der eindimensionale Mensch: Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Hermann Luchterhand Verlag GmbH, 1967, Neuwied/Berlin, S. 12-76/250-268.

34 Ebd., 18-23.

35 Ebd., 10-11/267.

36 Ebd., 10.

37 Ebd., 267.

38 Tse-tung, M. (1939). Über den Widerspruch. Teil 4. In: marxist.org: https://www.marxists.org/deutsch/referenz/mao/1937/wider/04-teil4.htm

39 Ebd.

Johann Alexander Betker

Student der Kognitiven Neurowissenschaften. Seit 2022 ist er Mitglied der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung. Seine Texte haben nicht den Anspruch einer politische Positionierung zu dienen, ebensowenig wollen sie die Gesellschaft transformieren. Vielmehr dienen sie dazu, neue Perspektiven in bestehenden Debatten aufzutuen. Seine Artikel finden also in dem Rahme dessen statt, was Marx als rücksichtslose Kritik bezeichnet: ,,Ist die Konstruktion der Zukunft und das Fertigwerden für alle Zeiten nicht unsere Sache, so ist desto gewisser, was wir gegenwärtig zu vollbringen haben, ich meine die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden, rücksichtslos sowohl in dem Sinne, daß die Kritik sich nicht vor ihren Resultaten fürchtet und ebensowenig vor dem Konflikt mit den vorherrschenden Mächten.” (Marx, 1843, MEW 1).

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