Filmkritik: The Gray Man | Ruben’s Cinematic Universe

Das nächste Millionengrab für Netflix? Das erfahrt ihr in dieser Filmkritik!

Inhalt

Der berüchtigte CIA-Agent „Sierra Six“ gelangt bei einer Mission zufällig in den Besitz von brisanten Informationen, die seine Vorgesetzten schwerwiegend belasten. Diese beauftragen daraufhin den skrupellosen und ehemaligen CIA-Agenten Llyod Hansen mit der Jagd auf den flüchtigen Agenten. 

Gute Voraussetzungen!?

Die Regisseure Joe und Anthony Russo und die Drehbuchautoren Christopher Markus und Stephen McFeely haben mit AVENGERS: INFINITY WAR und AVENGERS: ENDGAME zwei der finanziell erfolgreichsten Filme aller Zeiten verantwortet. Vorher konnten sie ihr Können im Blockbusterkino bereits mit CAPTAIN AMERICA: THE WINTER SOLDIER und CAPTAIN AMERICA: CIVIL WAR unter Beweis stellen, die zu den besten Einträgen im Marvel Cinematic Universe zählen. Die Inszenierung von bombastischer Action in Verbindung mit einprägsamen Figuren und spannenden Konflikten sollte also ihr Spezialgebiet zu sein.

THE GRAY MAN zeigt nun, wie eine Zusammenarbeit der beiden Duos aussieht, die nicht auf den Erfolg und die Figuren des Marvel Cinematic Universe aufbauen kann. Worauf ihr neuer Film allerdings zurückgreifen kann, ist ein riesiges Produktionsbudget von Netflix und ein beeindruckender Cast an Schauspieler:innen. THE GRAY MAN löst mit einem Produktionsbudget von 200 Millionen US-Dollar RED NOTICE als teuerste Netflix Original Produktion ab. Doch RED NOTICE hat im vergangenen Jahr bereits mit Bravur bewiesen, dass ein riesiges Budget und angesagte Schauspielstars nicht zwangsläufig mit Qualität einhergehen. Mehr dazu in meiner Filmkritik: Red Notice.

James Bond meets Jason Bourne

THE GRAY MAN mutet mit seiner Ausgangslage eines abtrünnigen Agenten auf der Flucht vor seinen fragwürdigen Vorgesetzten und der Jagd über die unterschiedlichsten Orte des Planeten wie eine Mischung aus THE BOURNE SUPREMACY und JAMES BOND an. Das gewaltige Budget des Films schlägt sich dann vor allem in den Schauwerten nieder. Vor allem die Anzahl an Schauplätzen ist beachtlich. Hier wird geklotzt und nicht gekleckert! Teilweise sind aber so viele verschiedene Orte im Film untergebracht, dass an vereinzelten Sets kaum Zeit verbracht wird, ehe der Film schon zum nächsten jagt. In Anbetracht der Handlung soll so vielleicht die internationale Tragweite der Verfolgungsjagd oder ein Gefühl für die Aufregung der Handlung vermittelt werden. Oder aber es handelt sich um eine Zurschaustellung des Budgets. Schließlich wurde hier im Gegensatz zu RED NOTICE tatsächlich in den meisten Fällen vor Ort gedreht. Ein Schelm, wer hier eine Marketingstrategie vermutet. Wem der Film andererseits nicht unterhaltsam genug ist, bekommt so die Gelegenheit für ein Trinkspiel geboten. Nach 20 Minuten ließe sich vermutlich nichts mehr auf dem heimischen Bildschirm erkennen. Immerhin werden die Namen der Schauplätze konsequent und unübersehbar im Bild präsentiert. Prost!

Leider mangelt es Protagonist „Sierra Six“ auch an einer Ausgangslage, die vergleichbar spannend wie der Gedächtnisverlust eines Jason Bourne wäre. Dazu gesellt sich dann ein etwas fehl am Platz wirkender Plot um die Rettung eines Kindes, der letzte 007-Eintrag NO TIME TO DIE lässt grüßen. Gab es da nicht auch noch die belastenden Informationen, die „Sierra Six“ überhaupt erst zur Zielscheibe machen? Diese spielen tatsächlich als klassischer MacGuffin eine anfangs noch bedeutende Rolle. Schließlich ist es die Jagd nach ihnen, welche die Handlung in Gang setzt. Am Ende bleiben sie jedoch ein einfaches Plot Device ohne nachvollziehbare Konsequenzen. Möglicherweise werden sie aber in Zukunft noch von Bedeutung sein, denn Netflix hat bereits eine Fortsetzung zu THE GRAY MAN angekündigt. Und ähnlich wie Jason Bourne oder James Bond entspringt der graue Mann einer Romanvorlage, geschrieben von Mark Greaney. Der Grundstein für ein weiteres Franchise scheint gelegt. Wer hätte das gedacht?

Wo ist die Action?

Zu den Schauwerten von THE GRAY MAN zählt neben den vielen Schauplätzen natürlich auch die Action. Diese ist für ein Produktionsbudget dieser Größenordnung und eine derartige Ausgangslage dann jedoch mehr schlecht als recht inszeniert. Viel zu häufig nehmen schnelle Schnitte oder große Explosionen die Überhand, um überwältigende Bilder zu erschaffen. Oder sollen so mangelnde Kampferfahrung der Schauspieler:innen und Fehler in den Choreographien kaschiert werden? So beginnt ein Faustkampf in einem Frachtflugzeug noch sehr vielversprechend bodenständig und der einengenden Umgebung entsprechend. Doch der Einsatz einer Leuchtfackel, die zugegeben für ein paar beeindruckende Bilder sorgt, hüllt die Kampfhandlungen anschließend größtenteils in einen undurchsichtigen Nebel. Der folgende Absturz mit Fallschirm kombiniert dann auch noch unfertig wirkende Computereffekte mit einer wackeligen Kamera, so dass nicht nur die Übersichtlichkeit, was unter Umständen als kreative Entscheidung durchgehen könnte, sondern auch das Seherlebnis darunter leiden. Ähnlich wie in RED NOTICE oder AMBULANCE von Michael Bay kommen an vielen Stellen des Films unnötige Aufnahmen aus Drohnen hinzu. In einer wahnsinnigen Geschwindigkeit werden hier die Schauplätze überflogen. Doch weder folgen die Flugbahnen den Figuren, so dass die Zuschauenden diesen folgen könnten, noch etablieren sie angemessen die Umgebung, da die Drohnen in den wenigen Sekunden bis zum nächsten Schnitt einfach zu schnell unterwegs sind. 

Über die gesamte Laufzeit stechen dann aber doch zwei Highlights hervor. Bei einer groß angelegten Schießerei in der Innenstadt von Prag macht sich das hohe Budget von THE GRAY MAN auch einmal positiv bemerkbar. Nach und nach eskaliert diese Verfolgungsjagd und Schießerei zwischen den Verfolgern, der Prager Polizei und „Sierra Six“ immer weiter, bis auf einem Platz schließlich alles klein geschossen wird, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Zwar wirken einige Entwicklungen in dieser Szene ein wenig unplausibel und konstruiert, doch durch die Inszenierung verfehlen die vielen Schüsse und Explosionen ihre eindrucksvolle Wirkung nicht. Deutlich reduzierter im Vergleich dazu fällt der Kampf zwischen „Sierra Six“, seiner Kollegin bzw. Komplizin Dani Miranda und ihrem Verfolger Avik San in einem Krankenhaus aus. Ihr Nahkampf beweist, dass es für spannende Konfrontationen nicht unbedingt immer große Explosionen braucht.

Bezahlte Arbeitslosigkeit

Die vom indischen Schauspieler Dhanush verkörperte Figur Avik San, oder auch nur Lone Wolf genannt, stellt allerdings auch die Erwartungshaltung, die Zuschauende verständlicherweise an den Film haben könnten, auf den Kopf. Denn es ist eben nicht der von Chris Evans mit sichtbarem Spaß und Schnurrbart gespielte Lloyd Hansen, der sich direkt an die Versen von „Sierra Six“ heftet. Zwar wird er als einer der skrupellosesten Agenten überhaupt beschrieben, doch im Laufe des Films bekommt er selten mehr zu tun als in einer Kommandozentrale Bildschirme anzubrüllen. Ähnlich verhält es sich mit Suzanne Brewer, gespielt von Jessica Henwick, die eigentlich nur im Raum ist, um für die Zuschauenden zu kommentieren, was bei Lloyd Hansens Aktionen alles nicht erlaubt ist, ohne am Ende dagegen vorzugehen. Das Potential der beiden Schauspieler:innen wird dementsprechend ein Stück weit liegen gelassen.

Ryan Gosling auf der anderen Seite kann als „Sierra Six“ immerhin ansatzweise überzeugen. Seine verschlossene und nüchterne Art fügt sich einigermaßen in den Film ein. Doch einem Daniel Craig als James Bond oder Matt Damon als Jason Bourne kann er in seiner Rolle nicht das Wasser reichen. Vielleicht ist er am Ende auch einfach zu häufig in einem Trainingsanzug statt mit Anzug und Krawatte zu sehen. In letzterem Outfit macht er zwischenzeitlich eine ganz gute Figur. Erkennbar an dem Umgang mit seiner Figur schwankt THE GRAY MAN immer wieder zwischen dem Versuch, JAMES BOND zu ähneln und gleichzeitig ein wenig geerdeter zu sein. Selbst die Filme mit Daniel Craig als 007 haben auf diesem schmalen Grat nicht immer erfolgreich balancieren können.

Fazit

Mit seiner austauschbaren Handlung, den flachen Figuren und der häufig uninspiriert inszenierten Action ist THE GRAY MAN am ehesten ein Film für Fans vom klassischen 80er-Jahre-Hollywood-Actionkino. Größer als das verschenkte Potential der Darsteller:innen und der Ausgangssituation der Handlung ist bei diesem durchschnittlichen Film wahrscheinlich nur das Produktionsbudget. Am Ende eignet sich der Film höchstens für einen Filmabend mit Hirn-aus-Mentalität.

(verfügbar bei Netflix)

Übersicht

Erscheinungsjahr: 2022
Regie: Anthony Russo, Joe Russo
Drehbuch: Christopher Markus, Stephen McFeely
Cast: u. a. Ryan Gosling, Chris Evans, Ana de Armas

Trailer


Neu hier? Vorstellung zu Ruben’s Cinematic Universe.

Letzter Beitrag: Meine alternativen Top Ten Filme 2021

Foto: ©Ruben Schmidt