Gabrielle L’Hirondelle Hill: Counterblaste; Foto: J. Scheffel

Wohin sind sie gegangen

Spuren von Turnschuhen auf der Biennale Venezia 2022

Auf den ersten Blick ist die Falschheit der Geschichte kaum zu durchschauen. Täuschend echt wirken der stillgelegte Maschinenraum, Förderband, Trichter und Automaten, auf deren alter roter Digitalanzeige unlesbare Zahlenreihen stehen, nihilistische Leuchtzeichen. Jemand hat vergessen, das Radiogerät in der Ecke abzustellen, es nuschelt schwächlich vor sich hin. Eine Wohnung grenzt an das Werk, da ist unverfugter Fliesenfußboden mit Blumenmuster, ein Doppelbett, in dem die Matratze fehlt, und ein heller Fleck an der Wand, den ein heiliges Kreuz hinterlassen hat. Im Raum dahinter: 5×3 Nähmaschinentische unter Industriescheinwerfern. Den Weg durch die Zimmer hat sich jemand ausgedacht, der hohle Ton verrät die Wandattrappen, aber die Erzählung ist nicht nur seine. Die Raumkunst Gian Maria Tosattis im italienischen Pavillon macht die Besuchenden zu Mitsuchenden nach einer Zukunft in einem postindustriellen Land. Jeder betritt diese Welt allein, sekundenlang wird die Schlange der Anstehenden jeweils gestoppt. History of Nights and Destiny of Comets ist Bildende Kunst und Performance zugleich, wird vielmehr Performance erst mit den einsamen Wanderern. Am Ende werden sie vor einem Schiffsableger stehen, der hineinragt in tiefschwarzes Wasser und tiefschwarze Nacht, und in unausmessbarer Distanz kleine Lichter funkeln sehen. Hilflos blicken sie auf die Utopie, sie fühlen sich so post, und sie fragen sich, wohin diese Menschen gegangen sind, die hier gearbeitet, gewohnt und Radio gehört haben.

Es ist Mitte November, kühl und klamm in Venedig, der Markusplatz ist von einer seichten Wasserlache verspiegelt. Man ist dankbar für ein Plätzchen in der Sonne, wenn man aus den engen Gassen der Lagunenstadt wieder herausgefunden hat, und besonders, wenn man gerade vor einem der Kunstpavillons anstehen muss. Noch am vorletzten Wochenende drängen die Menschen auf das Ausstellungsgelände am westlichen Zipfel der Stadt, vor dem griechischen Pavillon reicht die Schlange bis nach Brasilien (den brasilianischen Pavillon natürlich, der aber tatsächlich Brasilien gehört). Am 27.11. wird die 59. Kunstbiennale Venedig nach über sechs Monaten ihre Pforten schließen und über 800.000 Besuchern (den verkauften Tickets nach) eine Begegnung mit internationaler Kunst geboten haben. Eine Weltkunstausstellung, darf man sie so, nicht ohne ehrfurchtsvolles und friedenverheißendes Pathos, zitieren? Von dem Gedanken, dass sich hier irgendwie eine weltumspannenden Idee von Kunst kristallisiert, wird man sich bei der Vielfalt der gezeigten Formen schnell verabschieden. Die kuratorischen Leitthemen dagegen sind global, und zwar so, dass hier wirklich der Globus selbst mitgedacht wird: Körper und Metamorphose, Individuen und Technologie, das Verhältnis von Körpern und der Erde. Kuratorin Cecilia Alemani, die Leiterin der diesjährigen Biennale, musste die Ausstellung während der Corona-Zeit vorbereiten, die die physische Welt in eine neue Wahrnehmung rückte. Vielleicht hat sich Alemani dabei Entrückung zum Prinzip gemacht: das scheinbar so selbstverständlich Daseiende – Körper, Erde und heute auch die Technologie – wird durch die Kunst in eine Anschauung gebracht, die sich abseits von zurechtrückbaren Mustern findet. Ziemlich entrückt ist auch die Buchvorlage, aus der Alemani Inspiration geschöpft und den Titel für die diesjährige Biennale entliehen hat: The Milk of Dreams. Es ist eine Bildergeschichte (für Kinder), die die surrealistische Künstlerin Leonora Carrington in den 1950ern kreierte. Alemanis Ausstellung belebt den surrealistischen Blick in vielerlei Hinsicht wieder. In historischer Erweiterung der Gegenwartskunstausstellung zeigt sie auch Surrealist:innen aus dem vergangenen Jahrhundert. Es geht um die Erweiterung der Realität, auch um das Aufbrechen aus verengten Sichtweisen in der Kunstgeschichte. Träume sind vielleicht die wichtigste Quelle dazu. Träume bringen die zurückgehaltenen oder unterdrückten Wünsche hervor. Im Traum setzt sich der Mensch über sich selbst hinweg, als zur Identität mit sich genötigten und um die Bewahrung seiner Fassung bedachten Wesens. Ein zweites Fundament für Alemanis Ausstellung sind so auch die neueren Theorien des Posthumanismus, die, in den Worten Donna Haraways, nach dem immer schon mehr-als-menschlichen fragen. Durch eine Fülle von Materialien und Formen – Textilien, Erde, Lehm, Abfälle – schreitet man auf dieser Biennale; nach Portrait, menschlicher Skulptur oder Fotografie muss man dagegen eher suchen. Wohin sind sie gegangen, die Menschen – fast jeder Raum wirft diese Frage auf. Weniger anthropozentrisch-geschichtsphilosophisch als vielmehr detektivisch, und mitunter anklagend: Welche Spuren finden sich an den Dingen, und wer hat sich hier aus der Verantwortung gestohlen?

Da ist die ‚Skulptur‘ NAUfraga der chilenischen Künstlerin Cecilia Vicuña, die auf ebenso bezaubernde wie melancholische Weise zeigt, wie die Natur vom Menschlichen durchdrungen ist. In Venedig (die Stadt schon selbst ein Beispiel für dieses Verhältnis) hat sie Treibgut gesammelt, Schilfrohre und Äste, aber auch Kabel, Plasteteile und Kunststoffrohr, ausgewaschene Naturtöne und grelle Industriefarben. Manche Objekte – verknotete Seilreste, in Form gebogene Drähte, eine von Zweigen durchbohrte Schleifscheibe – lassen die spontane Kombinationslust der Künstlerin erkennen; am gesamten Werk aber, in dem die einzelnen Teile an dünne Schnüre gebunden von der Decke baumeln, tritt das Gewollte zurück. Eine zarte Textur, die den ganzen Raum erfüllt und manchmal, irritiert, den Luftstrom eiliger Besucher auffängt. Absolut unfotografierbar, nicht nur wegen den ebenfalls bemerkenswerten Gemälde an den Wänden dahinter. Auf einem hat Vicuña sich selbst dargestellt, in weichen Farben und einem traummäßig konturlosen Raum – wie sie die Menschheit verschlingt.

Die unverdaulichen Reste menschlicher Körper – beim Betreten des nächsten Raums noch ganz in diesem Bild – kann man in den Skulpturen der rumänischen Künstlerin Andra Ursuta sehen. Es sind verkrüppelte Rümpfe, deren Gliedmaßen abgeschnürt, verpackt, und immer wieder von flaschenförmigen Teilen ersetzt sind. Mitleidserregend erscheinen darunter die bekannten menschlichen Züge. Anatomische Genauigkeit paart sich mit völlig deformierten Organen und Gesten der Selbstbeobachtung und ergibt gefährliche Berichte, in denen die Schlagwörter Transplantation, Schutzkleidung und Erstarrung großgeschrieben wären. Ursuta hat die Plastiken aus buntem Kunststoff in gemischten Verfahren aus 3D-Techniken und traditionellen Wachsformen hergestellt und ihnen mit milchigen Schlieren einen Anklang von Marmor mitgegeben. In der Mitte des Raums befindet sich eine Figur, bei der diese Optik eine bestimmte Assoziation schafft: Sie trägt die Farben des „blue marble“-Fotos. Eine Erde als graziler und verstümmelter Menschenkörper, im Versuch sich hochzukrümmen und mit monströsen Schuhen an den Füßen.

So außerirdisch die Formgebung von Ursutas Statuen anmutet, so traditionell sind die Herstellungstechniken zahlreicher anderer Kunstwerke auf dieser Biennale. Nein, man muss es anders sagen, denn in der (europäischen) Kunstgeschichte haben solche Werke wohl keine Tradition, und überhaupt, die Herstellungstechniken eines Kunstwerks so zu betonen – viel zu profan… Doch da sind einige bemerkenswerte Künstler*innen, die ihrer Kunst höchst selbstbewusst die Form von Handarbeiten gegeben haben. Da sind die Quilts der Romni Ma?gorzata Mirga-Tas im polnischen Pavillon. Sie stellen Szenen aus dem Leben der Roma dar und nehmen dabei Bezug auf Bildtraditionen der Renaissance, als wollten sie es nun, lange genug von den Florentinern oder Venezianern übersehen, ganz offensiv mit einer gemeinsamen Kunstgeschichte versuchen. Da sind die Stickereien der Samin Britta Marakatt-Labba, die berührende Einblicke in die nordische Landschaft geben. Ein winziger grätschender Skifahrer, der ein weites Schneefeld überquert, zieht besonders den Bann auf sich, schon weil man so dicht herantreten muss, um ihn bewundern zu können. Textil ist Thema auf dieser Biennale. Viele der gezeigten Arbeiten beschäftigen sich mit dem Stofflichen überhaupt, mit den Qualitäten, die die Dinge schon haben, bevor die Menschen sie zu ihren (Kunst-)Gegenständen machen. Auch Rosemarie Trockel (Deutschland) hat als Material Textil gewählt. 2×2 Meter in krausrechts und einfarbig sind daraus entstanden – Wandbekleidungen, die provozieren. Sie rufen eine Vorstellung von stundenlanger stupider Arbeit hervor, verrichtet von Frauenhänden. Dann liest man, dass das Material aus einer Strickmaschine kommt. – Da ist sie wieder, die Spur der entschwundenen Menschen, der Menschinnen insbesondere – oder vielmehr die der Maschine? Und wieder bleibt man zurückgelassen mit der Frage: Wohin sind sie gegangen.

Aus aller Welt sind die Künstler:innen zur Venedig Biennale 2022 gekommen. Längst reicht der Platz in den Giardini (einer Parkanlage, in der sich die ältesten Pavillons befinden) und auch auf dem Arsenale (einem ehemaligen Industriegelände, das seit 1980 für die Biennale genutzt wird) nicht mehr, um alle Gäste und ihre Kunstwerke aufzunehmen. Und so diffundiert die Biennale mehr und mehr in die Stadt. Man spaziert durch die Gassen und steht ganz plötzlich zum Beispiel vor dem aserbaidschanischen Pavillon. Born to Love lautet der gemeinsame Titel von sieben Künstler:innen, und unter dieser Überschrift gelangt man unter anderem in einen dunklen höhlenartigen Raum mit einem Fußbodengemälde und Spiegeln, in denen das Bild eines Embryos aufzusteigen scheint. Außerdem: ein Drache aus bunten aufgehängten Porzellantellern; eine dynamische Kurvenform, die sacht klimpert. Auf den Sitzsäcken, die davor ausliegen, kann man endlich ausruhen und endlich wirklich ins Träumen kommen. – Aber auch auf dem Rückweg zum Bahnhof passiert es, dass man sich dann doch noch schnell von einem Buntpapierpfeil zum bolivianischen Pavillon locken lässt, den man hinter zwei Kanälen und drei Häuserunterquerungen erreicht. Die Südamerikaner sind zu ihrem ersten Besuch auf der Biennale mit einem Raumschiff angereist. Ein langes, spitzes, sperriges Ding hängt in dem winzigen Ausstellungsraum und wird von einer glimmenden Beleuchtung mythisch aufgeladen, pathetisch und selbstironisch. Hoffentlich haben in den letzten Monaten viele Besucher die bolivianischen Besucher besucht, die hier so abseits der sich selbst verstärkenden Big Player auf dem Hauptgelände platziert wurden.

Warum überhaupt die Reise nach Venedig auf sich nehmen? Was treibt die Menschen dazu, an diesem Event teilzunehmen? Wäre es nicht viel angenehmer, konfliktärmer, klimafreundlicher, wenn alle mehr zuhause blieben? Zuhause: behagliche Häuslichkeit oder erzwungene Hingehörigkeit – es lohnt ein Abstecher in den lettischen Pavillon für alle, die ihre Sicht auf das Zuhause renovieren möchten. Im Gegensatz zu vielen anderen Nationen, die sich auf dem Arsenale präsentieren dürfen und den brutalistischen Chic der alten Industriehallen einfach übernommen haben, haben die lettischen Künstler:innen und Kuratoren ein richtiges Zimmer aus ihrem Ausstellungsraum gemacht. Hell und freundlich auf den ersten Blick: ein Tisch, ein Schminktisch, eine Kommode, ein Sofa, und überall lustige farbige Porzellanfigürchen. Doch beim Nähertreten erfährt man eine ungezähmte Wildheit in all diesen Dingen. Fast jeder Gegenstand hat entweder Gesicht oder Genital. Der Lampenschirm ist aus Penissen modelliert, die Vasen haben Argusaugen, an der Wand werden Busentypen präsentiert, und überall dazwischen liegen pralle rot-gelbe Äpfelchen. Man möchte fast hysterisch loslachen, weil einem die Geschlechtsteile hier wirklich zu Kopf steigen. In der Arbeit des queeren Künstlerduos Skuja Braden (Ing?na Skuja and Melissa D. Braden) ist das Zuhause nicht der friedliche Ort, mit dem es so oft assoziiert wird; es ist ein Raum, in dem Sexualität in jeden Gegenstand gebannt scheint. Aber es gibt auch noch eine andere Ebene in dem Werk, dessen Titel Selling Water by the River ist, und mit dem Braden, die aus den USA stammt, und Ing?na, die aus Lettland kommt, den Zuhause-Raum erforschen. Es ist das Fremdartige, dass hier in zahlreichen östlichen Bildtraditionen anklingt – fischförmige Vasen, asiatische Gesichter –, und das als solches selbst hinterfragt wird. Die Fremdartigkeit ist, durch Behältnisse wie Wasserflaschen und Zimmer, eine erst hergestellte, aber sie ist auch eine begehrte, weil unsere eigenen vier Wände uns doch schnell zu langweilig werden, wenn sie nur mit Eigenem bestückt sind.

Wie seltsam, dass die Menschen doch so sehr an ihrer Identität hängen. Dass sie so peinlich darauf bedacht sind, dass ihre Grenzen nicht übertreten werden. Sie verlieren den Blick dabei für die Einwanderer und Auswanderer, die ihre gar nicht so privaten Räume durchziehen und durchzogen haben. Spuren werden weggekehrt und undurchdringliche Gesichter aufgezogen. Solange bis es Nacht wird. Im zentralen Pavillon der Biennale 2022 liegt eine Statue, die diese unsere Daseinsweise mit posthumaner Weisheit belächelt. (Vielleicht ist es auch Koketterie, für alle, die nicht davon überzeugt sind, dass wir jemals posthuman werden.) Und ja, sie liegt. Die kanadische Künstlerin Gabrielle L’Hirondelle Hill hat sie dort hingelegt. Sie besteht aus Feinstrumpfhose, ausgestopft mit Dreck, Rindenmulch oder Spänen. Die Proportionen sind beinahe menschlich, bis auf die Ohren, die an einen Hasen erinnern. Doch die Figur hat nichts von einem gehetzten Kaninchen noch von einem leidigen Hauskaninchen. Ihre Füße stecken in industriell hergestellte Turnschuhe, die zusammen mit den vier Paar Brüsten auf ihrer Brust ein schiefes und schönes Bild abgeben. Es ist weder Mutter Natur höchstpersönlich noch irgendein Konsumtrottel. Wer hier liegt, hat wahrscheinlich ziemlich viel von dieser Welt begriffen. Aus ihren oder seinen Augen wachsen Blumen. Es könnte ein Hippie sein. Oder ein Toter.

 


Diese Rezension entstand anlässlich einer Exkursion im Komplementärstudium. Unter der Leitung von Prof. Dr. Beate Söntgen und in Kooperation mit der Universität Ca‘ Foscari in Venedig soll dies in den nächsten Jahren wiederholt werden. 

Foto: J. Scheffel