Dr. Ruth Karola Westheimer - (c) Filmwelt Verleihagentur

Univativ Filmkritik: Fragen Sie Dr. Ruth

Eine jüdische Emigrantin mit beeindruckender Lebensgeschichte wird zum Symbol der sexuellen Revolution. Der biografische Dokumentarfilm „Fragen Sie Dr. Ruth“ von Regisseur Ryan White feiert Amerikas berühmte Aufklärerin und Sexualtherapeutin Dr. Ruth Westheimer.

„You should insert the penis into the vagina from behind.“  Es sind die achtziger Jahre im prüden Amerika Ronald Reagans. Die Grundstimmung ist konservativ und religiös. Patriotismus, Kirche und Familie gelten als Kernwerte. Über Liebe und Sexualität wird nicht gesprochen, geschweige denn über die weibliche. In diesen USA sorgt eine quirlige ältere Dame für Aufsehen und beträchtliche Einschaltquoten in Radio und Fernsehen: Die Sexualtherapeutin und Soziologin Dr. Ruth Westheimer spricht mit humorvollem Ernst über Sex, Liebe und Partnerschaft. Unverblümt beantwortet sie die Fragen des Publikums zu Vibratoren, Sex-Stellungen sowie Erektionsstörungen und bringt ein ganzes Land zum Sprechen über seinen Sex.

So etwas wie „normal“ gibt es nicht

Karola Ruth Siegel kommt im Jahr 1928 in Wiesenfeld am Main als einziges Kind jüdisch-orthodoxer Eltern zur Welt. Als sie zehn Jahre alt ist, schicken Mutter und Vater sie zum Schutz vor den Nazis mit einem Kindertransport in ein Heim in der Schweiz. Die Eltern selbst werden später in einem Konzentrationslager ermordet. Als Waise des Holocaust studiert sie nach Kriegsende Psychologie an der Pariser Sorbonne Universität und emigriert schließlich in die USA.

In New York beginnt bald ihre Medien-Laufbahn mit der Radioshow Sexually Speaking und schließlich mit einem eigenen TV-Format. Sie ist Dauergast in Talkshows und spricht unverblümt über die sexuellen Fragen und Nöte ihres Publikums. Auch positioniert sie sich klar für das Recht auf Abtreibung und gegen die Stigmatisierung homosexueller Liebe. So wird Dr. Ruth im konservativen Amerika der achtziger Jahre bekannt als Vorkämpferin der Pro-Choice Bewegung, engagiert sich im Kampf gegen Aids und thematisiert offen insbesondere die weibliche Lust. Es ist ihr ein Anliegen, zum Sprechen über Sex und das individuelle Liebesleben zu animieren, denn so etwas wie „normal“ gibt es nicht, sagt sie.

Ungebrochen lebensfroh

Viele Szenen des Films spielen in Dr. Ruths New Yorker Wohnung. Es ist eine gemütliche kleine Wohnung voller Erinnerungen, in der sie nun schon seit fünfzig Jahren lebt. Zu Drehzeitpunkt wird sie neunzig Jahre alt und dennoch scheint Dr. Ruth keinen Ruhestand zu kennen, ihr Tag ist von morgens bis abends durchgeplant mit Terminen. Noch immer lehrt sie an verschiedenen Universitäten und schreibt Bücher. Wir lernen ihre Kinder und Enkelkinder kennen, besuchen mit ihr die beste Freundin in Israel und ihre erste große Liebe aus der Zeit in der Schweiz. Immer wieder werden alte Fernsehaufnahmen aus Talkshows gezeigt, in denen sich Dr. Ruth humorvoll und empathisch mit den sexuellen Fragen ihres Publikums auseinandersetzt.

Ungeachtet der vielen Traumata und Rückschläge ihres Lebens ist die nur ein Meter vierzig kleine Dr. Ruth ungebrochen lebensfroh und unternehmungslustig. Als ihre „Überlebensstrategie“ bezeichnet Tochter Miriam das Verhalten ihrer Mutter, niemals eine Pause zu machen und immer etwas zu tun zu haben. Dass hinter der lebhaften Fassade auch eine verletzte und traurige Seite steckt, das lässt der Film an vielen Stellen erahnen. Dahinter blicken und diese Traumata sichtbar machen, gelingt ihm leider nicht. Gewöhnungsbedürftig sind auch die Animationen, mit denen Szenen und Perioden aus Dr. Ruths Lebenslauf illustriert werden. Sie wirken an vielen Stellen übertrieben rührselig und wären gar nicht notwendig gewesen – so unterhaltsam ist es doch, Dr. Ruths Erzählungen und Gesprächen mit langjährigen Freund*innen zu lauschen.

Eine sehenswerte Dokumentation

Häufig kann man sich eines Schmunzelns nicht erwehren, etwa wenn sie das Wort an die Filmmachenden richtet, verschmitzt in die Kamera schaut, davonläuft und mit starkem deutschem Akzent über die Schulter ruft: „I want to show you that I can walk fast!“. Ungeachtet der immer wiederkehrenden Ansprache durch Dr. Ruth („Do you want a cookie? (…) Take a cookie!“) halten sich die Filmmachenden im Hintergrund und begleiten sie zu ihren Terminen und Verabredungen. Diskret schaffen sie so eine intime Reise in die Welt der berühmten Aufklärerin der USA. „Fragen Sie Dr. Ruth“ ist trotz kleiner gestalterischer Schwächen eine sehenswerte Dokumentation über das Leben und Wirken einer faszinierenden Frau, die den Sex eines ganzen Landes revolutionierte.


Der Filmstart in Deutschland war der 27. August 2020. In Lüneburg könnt ihr den Film im Scala Programmkino sehen. Die Spielzeiten findet ihr hier.

Titelbild: (c) Filmwelt Verleihagentur