„Pervers ist man nur, wenn man keinen findet, der auch Bock darauf hat.“ – Matthias Grimme | Ingwer&Eis

Matthias Grimme ist eine Legende in der BDSM-Scene. Sein Künstlername lautet Tatsu Otoko, was auf Deutsch „Drachenmann“ bedeutet. 2003 war er der zweite Nicht-Japaner, der auf einem japanischen Event auftreten durfte. Seit über zwei Jahrzehnten kann man seine Performances auf der Bühne miterleben oder in seinen Workshops das Fesseln lernen. Seit 1990 arbeitet der Hamburger bei „Schlagzeilen“, der auflagestärksten SM-Zeitschrift Deutschlands.

Eigentlich ist Matthias mit seiner Partnerin Nicole (Ropecat) viel unterwegs. Alle zwei Wochen gibt es einen Auftritt oder Workshop – gelegentlich eine Messe, wie die BoundCon in München, gute zehn Stunden von seiner Heimatstadt Hamburg entfernt. Auch die Passion!, welche praktisch vor seiner Haustür stattfindet, bedeutet eine Menge Stress, aber auch mindestens genauso viel Spaß. Die freien Wochenenden verbringt er am liebsten mit seiner Frau Andrea.

Sein Credo lautet „Fesseln auf Augenhöhe“. Man kann auch einen Dom fesseln, ohne ihm die Dominanz zu nehmen. Jede Woche veröffentlicht er eine neue Galerie auf seiner Webseite, immerhin 20 Prozent der Modelle sind dominante Frauen.

Worum geht es für dich bei BDSM? Wo liegt das Herz des BDSM?

Das Herz von BDSM ist für mich, dass in einer einvernehmlichen Situation Dinge passieren, die über die Einvernehmlichkeit hinausgehen können. Wenn es gut läuft, fühlen sich beide danach größer, schöner, stärker, beliebter und entspannter. Es geht weder um Technik noch um oben und unten, sondern allein darum, gemeinsam herauszufinden: Was sind die Knöpfchen, welche die Situation aufregend und spannend machen?

Es gibt Sachen, die ich früher nie erotisierend fand. Dann habe ich rausgekriegt, dass mein Gegenüber das spannend findet. Beim Ausleben der Fantasien entsteht eine Rückkopplung. Was dich anmacht, das macht mich dann wieder an und so weiter. Deshalb erweitere ich mein Repertoire ständig.

Was man gemeinsam macht, mit gegenseitigem Respekt und positiver Rückkopplung, ist guter SM. BDSM ist dann etwas unheimlich Intensives und Erfüllendes. Ich sage schon lange – pervers ist man nur, wenn man keinen findet, der auch Bock darauf hat – wenn man jemandem findet, dann ist das großartig.

Bondage ist ja nicht gleich BDSM. Wie sieht deine Beziehung zum Fesseln aus?

Für mich gibt es beim Bondage drei verschiedene Bereiche. Zuhause im Privaten geht es darum, meine eigenen Fantasien auszuleben. Der Körper wird zu einer hübschen Figur geschnürt, das Sexuelle steht dabei im Mittelpunkt.

Dann gibt es meine Fotos. Im Atelier muss die Schönheit der Partner zur Geltung kommen. Das Bild kann nicht allein etwas ausdrücken, das Gesicht des Gefesselten muss etwas ausdrücken, eine Geschichte erzählen. Die Techniken bleiben dabei eher schlicht, ein, zwei Seile reichen in der Regel.

Die meisten Modelle fangen an zu frösteln, wenn man Ihnen das Seil abnimmt. Gute Bondage ist wie eine Umarmung. Ein Grundfehler ist, dass Hände zu Eng und der Körper zu locker gebunden werden. Wenn die Rigger (Fessler) und vor allem die Anfänger lernen, das umzudrehen, werden sie eine unglaubliche Erfahrung machen. Es ist, als ob die Seile an den Mundwinkeln hängen; und die werden immer breiter, je enger man die Seile um den Körper zieht.

Ich nehme an, der dritte Bereich ist der Auftritt auf einer öffentlichen Bühne?

Richtig! Die Situation in einer Live-Performance ist vollkommen anders als im Studio oder im Privaten. Sie gleicht einer Zen-Meditation: Dinge ganz tun. Ablenkung existiert nicht. Auf der Bühne gibt es nur meine Partnerin Nicole, das Seil und mich. Alles, was um mich herum passiert, bekomme ich nicht mit.

Damit hat Nicole zwei Jobs – sie muss performen und zeitgleich auf das Publikum achten, um mir ein Zeichen zu geben, falls etwas passiert. Bei einer privaten Show habe ich ihr zum Beispiel eine Nadel (medizinische, sterile Kanüle) durch den Nippel gestochen. Dabei ist uns eine Frau im Publikum umgekippt, so etwas muss ich natürlich sofort wissen.

Unsere Shows sind nicht gescriptet. Uns geht es nicht darum, eine bestimmte Technik zu zeigen, sondern darum, eine Grundstimmung einzufangen, eine Entwicklung zu durchleben. Planung gibt es nur sehr wenig. Manchmal haben wir ein Schlussbild im Kopf, andere Male will ich mal wieder Blut fließen sehen. Dann sagt Nicole: OK, ich habe da noch ein weißes Kleid, das ich nicht mehr trage.

Was ist für dich das größte Kompliment, wenn du auf der Bühne stehst?

Matthias Grimme
Matthias Grimme

Meine zwei schönsten Momente hatte ich in Japan und Deutschland. Bei meinem Auftritt auf der Passion in Hamburg ruhten wir uns hinter der Bühne aus. Der Auftritt war anstrengend, da kam der Veranstalter zu uns. „Im Normalfall schlendern die Zuschauer nach fünf Minuten wieder über die Messe, bei euch bleiben 30 Prozent verträumt sitzen.“ Wenn ich mein Ziel erreiche und die Zuschaue so banne, ist das ein einzigartiges Gefühl.

Anfang der Nullerjahre lief das in Japan so: Es gab einen relativ berühmten Fessler und ein bezahltes Model. Die zogen dann eine Show durch, technisch sehr sauber, eine Distanz zwischen Model und Rigger. Was ich 2003 gezeigt habe, hatten die Japaner in der Form noch nicht gesehen. Positives Feedback gab es kaum. Fast zehn Jahre später nahm ich auf derselben Veranstaltung teil. Gut ein Drittel der Gäste kamen auf mich zu, legte die Hand aufs Herz und sagten „beautiful.“. Wenn wir Menschen mit Ausschnitten unserer Liebesgeschichte berühren, ist es das größte Kompliment.

Drachenmann beziehungsweise Tatsu Otoko – unter diesem Namen bist du als Bondage-Künstler aktiv. Wie kamst du dazu, Menschen zu fesseln?

Wenn ich alte Kinderfotos sehe, bin ich verblüfft, wie oft ich ein Seil oder einen Stock in der Hand halte. Ich wurde katholisch erzogen, das spannendste an der Religion waren für mich die Märtyrergeschichten. Diese Faszination für Leid war etwas Besonderes. In der Pubertät habe ich dann gemerkt, woher das Interesse kommt.

In den 70ern hatte ich meine ersten Freundinnen. Die meisten waren Feministinnen, da hörte ich schon öfter, dass meine Fesselwünsche „frauenverachtend“ sind. Wenn sich doch eine darauf einließ und es ihr gefiel, wurde dieser Widerspruch zwischen Feminismus und SM zum Trennungsgrund. In den 80ern hatte ich mehr Erfolg bei der richtigen Partnerwahl.

Als ich meine Frau Andrea kennenlernte, wollte sie auch mal von mir gehauen werden. So öffnete sich ein neues Kapitel für uns. Auf einem Amsterdam-Urlaub drückte sie mir dann ein Heftchen über japanischen Hänge-Bondage in die Hand. Ich wusste sofort, das ist es! Aus dieser neugefundenen Leidenschaft entwickelte sich dann die Hamburger Schule.

Japan Bondage, also Shibari? Was grenzt Ihre Kunstform von anderen Arten des Fesselns ab?

Shibari ist die Technik, Kinbaku der Überbau. Das was zwischen den Menschen abläuft. Ich mache japanisch inspiriertes Bondage, damit halte ich mich aus den Streitigkeiten raus. Als ich begann, statische in dynamische Techniken zu übersetzen, meinten japanische Kollegen, es sei kein Shibari. Ein paar Jahre später habe ich den gleichen Ansatz auch bei Japanern gefunden.

Ein berühmter japanischer Lehrer erklärte mir anfangs, dass meine Technik sehr sauber sei, genau wie bei den Japanern. Ich müsse aber lernen, mehr mit der Frau zu interagieren. So lernen wir letztlich voneinander. Es ist ein ständiger Austausch.

Im Zuge der Gleichberechtigung muss man sich fragen: Ist Bondage emanzipiert? Nach außen wirkt das Rollenbild wie ein Überbleibsel der 50er-Jahre: Der Rigger macht die ganze Arbeit und das Bunny hat hübsch auszusehen, während es gefesselt wird. Gibt es Gleichberechtigung im Bondage?

Den Begriff Bunny finde ich unerträglich. Ich habe Partnerinnen, Komplizinnen. Meine „Bunnies“ sind auch keine kleinen Mädchen, sondern echte Frauen. Nicole ist jemand zum Anfassen, dicke Titten, ein zwei Kilos mehr.

Frauenfeindlich insofern, dass es zu wenige Frauen gibt, die auch gut fesseln können und die wenigen die es gibt haben es nicht leicht. Aber es gibt Beispiele, Vlada, eine Russin mit super schnuckligem männlichem Mode. Auch meine Partnerin Nicole fesselt und tritt auf.

Viele Männer wollen kontrollieren und können beim Fesseln nicht loslassen, mir geht es da auch nicht anders. Dennoch glaube ich: Männer sollten solche Wünsche öfter laut aussprechen. Gefesselt zu werden nimmt einem weder Dominanz noch Männlichkeit.

Der Austausch läuft also auf Augenhöhe? Welche Rolle spielt Vertrauen?

Fesseln ist Vertrauen – das muss immer in beide Richtungen laufen. Besonders als Fessler muss ich darauf vertrauen, dass mein Gegenüber Probleme ausspricht: Meine Hand juckt, meine Nase, usw.

Vertrauen ist Basis. Muss ich immer wieder nachfragen, läuft etwas falsch. Zum Fesseln musst du drei grundlegende Punkte beachten:

  • Kommunikation: Was ist los? Fühlt es sich gut an? Ist alles in Ordnung?
  • Zuhören: Was der andere kommuniziert, muss auch bei dir ankommen. Es ist deine Verantwortung, Probleme wahrzunehmen und zu lösen.
  • Subspace – ein tranceähnlicher Zustand. Man muss den Partner immer wieder kurz rausholen, um zu prüfen, ob noch ein Gefühl für Störungen da ist.

Kommunikation und Vertrauen: spielt nicht nur in der BDSM-Scene, sondern auch im zwischenmenschlichen Bereich eine große Rolle. Was unterscheidet schlechten und guten Sex voneinander?

Ganz banal: Kommunikation. Jeder hat eigene Geschichten, die er aber nur ungerne rausrückt. Wie möchte ich, dass mein Schwanz angefasst wird oder wie will meine Partnerin ihre Möse gestreichelt bekommen. Jeder ist da sehr unterschiedlich.

Es ist erstaunlich, wie viele Männer sich erfolglos abmühen, ihre Partnerin zum Orgasmus zu bringen, dabei könnten sie einfach fragen. Auf der anderen Seite sehe ich aber auch die Frauen in einer Bringschuld. Jeder ist für seinen Orgasmus selbst verantwortlich: Du musst kommunizieren, was du brauchst.

In jedem Workshop stelle ich oder eine Co-Trainerin die Aufgabe: Setzt euch gegenüber und sagt euch, was ihr euch wünscht.

Dafür muss ich erstmal genügend Vertrauen haben. Was ist deiner Erfahrung nach der beste Weg, es aufzubauen?

Zuerst musst du selbst wissen, was du willst und es klar kommunizieren. Dann bist du zuverlässig. Brauche ich Hilfe, kommuniziere ich das – hilft mir der andere, schafft das Vertrauen. Auch wenn mir mein Partner nicht helfen kann oder umgekehrt, ist es wichtig, zu kommunizieren und zu erklären, warum. Richtig zuzuhören ist dabei eine Grundvoraussetzung.

Diese Zuverlässigkeit ist ungeheuer wichtig. Man muss sich dabei nicht auf Sachen einlassen, die einem schaden, sondern klar kommunizieren: Warum geht etwas nicht? Ein „ich weiß nicht“ ist eine permanente Verletzung.

Im Alter wird man ja etwas vanilla[1] und lässt es langsam angehen. Welche Erfahrung gibst du uns nach 30 Jahren BDSM mit auf den Weg?

Für mich gibt es vieles, das nicht mehr muss. Wenn man nicht in der Stimmung für Sex ist, sollte man sich nicht dazu zwingen. Im Grunde geht es immer um eine Form von Kontakt oder Nähe – das muss nicht immer Ficken heißen. Es kann eine Umarmung sein oder das gemeinsame Lesen im Bett. Mit dem richtigen Mindset kann selbst das sonntägliche Diskutieren der Weltpolitik oder das Frühstück im Bett etwas Erotisches haben.

 


[1] Vanilla = Ob Eis und Sex – die beiden sind sich gar nicht so unähnlich: Schmeckt jedem und immer eine sichere Wahl ohne Überraschungen.

Titelbild: Matthias Grimme (c) Matthias Grimme

Beitragsbilder: Matthias Grimme (c) Matthias Grimme