Passion! Für Nachhaltigkeit und Fetisch – ein Messebesuch | Ingwer&Eis

Hamburg, die pulsierende Elbmetropole, ist nicht nur ein kulturelles und wirtschaftliches Zentrum des Landes, sondern auch ein Hotspot der Subkulturen. Hamburg ist eine Stadt der Gegensätze, aber auch eine Stadt der Offenheit, Toleranz und Freiheit. In diesem Klima entwickelten sich zwischen Unternehmerdynastien und Linksautonomen ein lebendiges Nachtleben und eine etablierte BDSM Scene. Wenig überraschend, dass hier jährlich eine der wichtigsten Scene-Messen ihre Tore öffnet: die Passion.

Hamburg, Messe Schnelsen. Die Temperatur ist knapp unter null, Schneeregen fällt vom Himmel, der Winter ist angekommen. Von der grauen Tristesse bleibt in der Halle lediglich das Farbschema erhalten: Schwarz dominiert. Von der Kälte ist in der Messehalle nichts zu spüren. Die sommerlichen Temperaturen sind auch notwendig, denn jede*r soll frei sein zu tragen – oder eben nicht zu tragen – was er oder sie möchte. Während der größte Teil der Besucher*innen als schwarze Schlange in die Messehalle strömt, verwandeln sich andere in den Umkleidekabinen. Aus einem Punker-Pärchen wird eine Dressurreiterin mit stolzem Hengst, ein junger Mann verwandelt sich in eine cute Version von Sailor Moon. Während sich eine Dame in eine Raubkatze mit Wespentaille verwandelt, tritt hinter dem Vorhang der Nachbarkabine ein Offizierspärchen hervor, das trotz verspieltem Lächeln eine Aura der Dominanz umgibt.

Eintritt in eine alternative Realität

Was im Foyer noch extravagant und exponiert wirkte, wie Kunstwerke vor einer weißen Wand, formt ein lebendiges Ökosystem. Nach einem Moment der Reizüberflutung akzeptiere ich das Umfeld als neue Normalität. Nicht nur die Vielfalt an Charakteren, auch die an Ausstellern ist beeindruckend. Auf den zwei Ebenen der Halle versammeln sich über achtzig Aussteller, welche die ganze Vielfalt der Scene abbilden. Von Spielzeugherstellern über Peitschenflechter, Schreiner und Modedesigner bis hin zu Künstlerkollektiven und Vereinen wie dem SMJG (BDSM JuGend).

Pet-Player auf der Passion | M&A Messemanagement

Noch bevor ich mir einen Überblick verschaffen kann, werden mein Begleiter und ich immer wieder ausgebremst: zu interessant die Shops, zu faszinierend die Shows. Im halbstündigen Wechsel starten die Auftritte auf den beiden Bühnen. Neben fesselnden Bondage- und Shibariauftritten [1] unterschiedlichster Stile kann man hier auch Nischenfetische bewundern, wie eine Hunde-Show – bei der Pet-Player ihr Alter Ego ausleben.

Wie ein Kind im Spielzeugladen

Upcycling-Paddel | ReFaNach dem initialen Kulturshock streifen wir durch die Gänge. Trotz Corona scheint der Andrang riesig. Die meisten Besucher*innen sind ohne festes Ziel gekommen – es ist viel mehr die Neugierde und der Tag unter Gleichgesinnten, der sie anzieht. Mit leeren Händen wird jedoch kaum jemand die Messe verlassen: Shopping ist neben Afterpartys, Shows und Workshops der zentrale Bestandteil des Events.

Wer auf Spielzeug aus ist oder sich etwas gönnen möchte, hat die Qual der Wahl. Grundsätzlich lassen sich die Anbieter in drei grobe Kategorien einteilen: Händler, Handwerker und Innovatoren.

Händler – für jeden Geldbeutel das passende Toy

Von günstigen Asia-Importen bis zu einem Ensemble handwerklicher Meisterstücke kann man bei ihnen alles finden. Jede*r besetzt dabei seine oder ihre ganz eigene Nische: von Schuhen über das Konzept „alles aber günstig“ bis hochwertigem Lustspielzeug oder mittelpreisigen qualitativ hochwertigen Basics. Von Dildo bis Latex und Reitgerte findet sich alles bei ihnen.

Handwerk & Designer – Qualität die Leiden schafft

In Eigenregie fertigen und verkaufen sie ihr (Kunst-)Handwerk. Viele sind Modeschöpfer: Stoffkorsage aus Berlin, (Kunst-)Lederstiefel mit eigener Produktion in Portugal oder Trenchcoats, Röcke und Ganzkörperanzüge, für die das Latex im eigenen Betrieb vom Designer selbst gegossen wird. Wer sich umschaut, findet auch Schlosser, die Griffe mit wechselbaren Peitschenaufsätzen produzieren oder Schreiner, die einem das passende Mobiliar für Schlafzimmer oder Hobbykeller fertigen. Dabei bleibt es der eigenen Fantasie überlassen, ob man Fesselbänke und Andreaskreuze als Tische und Garderoben getarnt oder ganz offen im Stil eines mittelalterlichen Dungeons zur Schau stellen möchte.

Ein Highlight ist mit Sicherheit ein Peitschenbauermeister aus Wien. Sein Ziel war es, zu den weltbesten seines Fachs zu gehören. Er lernte und arbeitete Jahre in den USA, ehe er sich in Europa selbstständig machte. Handwerk bedeutet für Bruno Berchtold vor allem Qualität und Konzentration. Jeder einzelne Streifen Känguruleder wird von ihm persönlich von Hand zugeschnitten. Sein einziges Werkzeug: ein altes Cuttermesser mit frischen Klingen – mehr braucht es nicht, wenn man sein Handwerk beherrscht. Auch der Verkauf ist keine einfache Transaktion, nicht jede*r bekommt seine oder ihre Wunschpeitsche. Vielmehr ist es eine gemeinsame Suche nach dem passenden Modell; verkauft wird nur, wenn die Peitsche zum Erfahrungslevel der Käufer*innen passt.

Innovatoren – Young, wild, and free?

Sie sind die Spannendsten im Bunde: Noch unbekannt in der Scene gehen sie ein Risiko ein und testen wie ihre Innovation, ihre Vision eines Produkts, beim Endkunden ankommen. Eifrig sammeln sie Feedback und Inspiration und suchen aktiv den Austausch. Die Bandbreite ist groß. Angefangen bei neuen Materialien und Designs, bis hin zu technischen Neuerungen oder einer Umfunktionierung von Schwingschleifern. Die Fantasie scheint grenzenlos.

SM = Sustainable Manufacturing?

Teenies gehen dafür auf die Straße, Unternehmen wollen es sein und auch in der SM Scene kommt der Trend zur Nachhaltigkeit an. Bisher machten sich wenig Konsument*innen Gedanken, woher ihre Spielzeuge und Kondome stammen, unter welchen Bedingungen sie produziert werden und wie weit man sie in Containern um den Globus schickt. Selbst wenn einen kurz das schlechte Gewissen plagt: Wie groß kann der Fußabdruck der schönsten Nebensache der Welt schon sein? Wo findet man Alternativen?

Noch ist Nachhaltigkeit kein Kaufargument für die Kund*innen – im Vordergrund stehen Spaß und Qualität – doch die Hersteller und Designer legen immer mehr Wert auf das Thema. Der Trend auf der Messe geht zur lokalen Produktion, deutsche Manufakturarbeit statt Industrieprodukte aus Fernost. Mehrkosten, die sich lohnen – die Unternehmer haben mehr Kontrolle, garantieren faire Produktionsbedingungen und können neue Ideen schnell implementieren. Kontrolle bedeutet vor allem auch kreative Freiheit, die genutzt wird: zwei Unternehmen haben mich mit ihrer Passion.

Andere nennen es Müll – wir nennen es Rohstoff
Upcycling-Paddel | ReFa

Cyberpunk meets Mad Max umschreibt das MOWI 69 Kollektiv wohl am besten. Auf den ersten Blick wirkt der in lila-blaues Licht getauchte Stand chaotisch. Die Vielfalt der Produkte überfordert für einen Augenblick – zumal jedes einzelne Stück ein Unikat ist.

Einzigartig ist das ganzheitliche Verständnis der Designs, deren Kernelement Upcycling bildet. Soweit möglich sind Masken, BHs, Taschen und Co aus Resten, Abfällen und Zufallsfunden gefertigt. Ziel ist es, Neues aus Bestehendem zu schöpfen. Dabei steht die Erfahrung der Kund*innen im Zentrum – Designs und Materialien werden holistisch gedacht: Wie fühlt sich ein Feuerwehrschlauch auf der Haut an? Wofür kann man alte Schwimmflügel am besten verwenden? Was wird aus dem gebrauchten Fahrradreifen – ein Harnisch oder doch ein Paddel?

Kopfschmuck mit Rehgeweih | ReFa

Upcycling fordert Kreativität in allen Bereichen des Unternehmens – nicht nur beim Design. Allein die Beschaffung der Materialien ist eine Herausforderung an sich. Einiges sammeln Bekannte, für Fahrradreifen und Schläuche arbeiten sie mit verschiedenen Fahrradhändlern zusammen, Produktionsreste werden mit fertigen Produkten ertauscht und Rehschädel bekommen sie von einem befreundeten Jäger, verrät Michaela, als ich mit Ihr ins Gespräch komme. Gelegentlich spielt ihnen auch der Zufall in die Hände. So bekam sie über mehrere Ecken das Angebot für alte Gasmasken aus einem russischen Krankenhaus. Eine einmalige Gelegenheit; sie musste zuschlagen. Michaela erklärt weiter, dass es um das Ausreizen der eigenen Kreativität geht. Das Material inspiriert, nimmt einen an die Hand und führt einen zum Design.

SISS & DIK – sexy, unzerstörbar, transparent

SISS & DIK will für ein Lebensgefühl stehen, das bleibt, ebenso wie ihre Produkte. Eine Philosophie, die sie in ihrem Manifesto aus 67 Hashtags spiegeln. Mit ihren Corsagen wollen sie Konventionen brechen: Avantgarde, schrille Farben und Eleganz à la Dita Von Teese zeichnen sie aus.

Darias Inspiration ist ihr Partner und sein Problem, einfach nie das Korsett seiner Träume gefunden zu haben. Sie richtete sich einen kleinen Arbeitsplatz ein und begann zu experimentieren. Der Prototyp überzeugte – es gab viele Komplimente – vor allem überzeugte es aber sie selbst. Bis zum ersten verkaufsfertigen Produkt sollte es knapp hundert Versuch dauern …

SISS & DIK Corsagen | ReFa

Sie testeten verschiedene Materialien auf Hautverträglich- und Haltbarkeit, mussten sich Lösungen für ungeahnte Probleme finden. Sogar ein Nähmaschinenhersteller erklärte sich bereit, die Software der Maschine umzuprogrammieren, damit das dicke Latex überhaupt verarbeitet werden kann. Am Ende steht ein einzigartiges Produkt für einen unschlagbar günstigen Preis.

Neben dem intensiven Rot (s. Foto) gibt es für mutige auch transparente Neonfarben. Hier wird ebenfalls mit Upcycling experimentiert. Das kleine Schwarze auf dem Foto wurde aus alten Auto- und LKW-Schläuchen gefertigt – Upcycling ist jedoch nur Nebenprojekt. SISS & DIK setzten auf Langlebigkeit als Nachhaltigkeitsideal. Das Material sieht auch nach zehn Jahren aus wie neu und lässt sich einfach reinigen: Spülmittel und Wasser oder für Faule einfach in die Waschmaschine. Sollte es sich doch mal verfärben, sorgen Wasserstoffperoxid & UV-Licht für einen Look wie am ersten Tag. Nur für Bandlöcher gibt es noch keine Lösung.


[1] Shibari = japanische Kunstform, erotisches Fesseln des Partners. Entwickelte sich aus der traditionellen Fesseltechnik Hoj?jutsu welche von Militär und Polizei entwickelt wurde.

Titelbild: Verliebtes Paar in Latex – (c) M&A Messemanagement, Pressefoto

Beitragsbilder: Pet-Player auf der Passion – (c) M&A Messemanagement, Pressefoto

Alle weiteren Bilder stammen vom Autor (c) ReFa