Was gerade in Bosnien und Herzegowina passiert und wieso wir handeln sollten

Viele derzeitige Student*innen waren in den 1990er im Kindesalter oder noch nicht geboren. Mitten im Herzen Europas wütet damals das Chaos: der Jugoslawien-Krieg. Besonders stark betroffen war der Bereich des heutigen Bosnien und Herzegowina – der Melting Pot des Balkans. Nun wachsen die politischen Spannungen zwischen den Ethnien wieder. Die Bevölkerung hat Angst vor einem erneuten Krieg. Doch wieso reagiert die internationale Gemeinschaft nicht?

TW: Krieg, Mord, Genozid, Vergewaltigung, Vertreibung

Der Staat Bosnien und Herzegowina konstituierte sich – zumindest in der heutigen Form – 1995 aus dem Dayton-Abkommen. Davor haben im Laufe der Auflösung des sozialistischen Staates Jugoslawien politische Akteure der drei größten ethnischen Gruppen – Muslim*innen, Katholik*innen und serbisch Orthodoxe – zum Kampf aufgerufen. Der Friedensvertrag beendete den Krieg im heutigen Bosnien und Herzegowina sowie angrenzenden Regionen und schuf einen Staat, welcher aus zwei Entitäten besteht: Bosnien und Herzegowina sowie die Republik Srpska. Die erstere Entität wird den Bosniak*innen (Muslimin*innen) und bosnischen Kroat*innen (Katholik*innen) zugeschrieben, die zweite bosnischen Serb*innen (serbisch Orthodoxe). Eine Ausnahme bildet das Sonderverwaltungsgebiet Brcko-Distrikt an der Grenze zu Kroatien, das von beiden Entitäten verwaltet wird. Das Staatspräsidium besteht aus jeweils einem Vertreter der bosniakischen (muslimischen), serbischen und kroatischen Volksgruppen: Šefik Džaferovic (bosniakisch), Milorad Dodik (serbisch) und Željko Komšic (kroatisch).


Bosnien und Herzegowina Karte _ (c) Ema Jerkovic

Dabei ist es ein großer Irrtum, davon auszugehen, dass die Ethnien in der ihr zugeschriebenen Entität leben. Stattdessen existiert weiterhin eine Vermischung der Ethnien in der Bevölkerung. Es kommt jedoch selten zu Austausch, in der Regel leben die Ethnien nebeneinander her. Doch wieso ereignet sich nun die größte politische Krise seit 26 Jahren?

Milorad Dodik, das serbische Mitglied im bosnischen Staatspräsidium, will die Republika Srpska von Bosnien und Herzegowina abspalten und als eigenständigen Staat ausrufen. Er nutzt dabei eine nationalistische Rhetorik und spricht unter anderem über die Erschaffung eines „Groß-Serbiens“. Die Drohung des Austritts aus der Föderation von serbischer Seite ist dabei nicht neu, jedoch die immer stärker werdende nationalistische Sprache der serbischen Politiker*innen und schon getätigte politische Aktionen. So legte Dodik im November 2021 über 100 Gesetze vor, welche die Ausgliederung und den eigenen Aufbau von Institutionen genau regeln. Dazu gehört der Abzug von Verteidigungskräften und die Konstitution einer eigenen Armee, genauso wie die geplante Eigenständigkeit des Justizwesen, der Steuer- und Zollbehörde und des Geheimdienstes. Zudem rief Dodik zu gleicher Zeit alle politischen Institutionen in der Republika Srpska zum zeitgleichen Boykott von Parlamentssitzungen auf. Im Dezember 2021 kündigte Dodik an, dass seine geplante Sezession in den nächsten sechs Monaten durchgeführt werden soll. Mit einer territorialen Fläche von knapp 49% des Landes stellt der geplante Austritt die gesamte Region vor eine essenzielle Krise.

Glorifizierte Kriegsverbrechen

Rund um den 9. Januar 2022 kam es dann zu Ausschreitung im Land. Das Datum markiert dabei das Ausrufen der Republik Srpska 1992 und den damit einhergehenden Krieg. Parallel zu den Ausschreitungen feiert die Republik Srpska mit einer Militärparade sowie hohen Gästen, darunter der russische Botschafter Bosnien-Herzegowinas Igor Kalabuhov, die serbische Premierministerin Ana Brnabic, der Präsident der serbischen Nationalversammlung Ivica Dacic, die französischen Europaabgeordneten der rechtspopulistischen ID-Fraktion Thierry Mariani und Hervé Juvin sowie der verurteilte Kriegsverbrecher Vinko Pandurevic. Doch was ist daran so fragwürdig?

2015 verbietet Bosnien und Herzegowinas höchstes Gericht den Nationalfeiertag der Republik Srpska, die Entität feiert bis auf 2021 trotzdem weiter. Jedoch nicht mit einem solchen Umfang an internationalen Gästen, Anzahl der Militäreinheiten und stark nationalistischen Symbolen. Die Parade wurde verboten, da der 9. Januar 1992 Startpunkt für zahlreiche Kriegsverbrechen war. Es ist natürlich nicht zu vergessen, dass alle drei Kriegslager am Kriegsgeschehen beteiligt waren und Verbrechen begangen. Jedoch verübten die serbischen Einheiten systematisch Verbrechen an der zivilen Bevölkerung. Dazu gehört neben der Belagerung der Stadt Sarajevo auch die systematische ethnische Säuberung und der Genozid von vorwiegend Bosniak*innen (Muslim*innen) und anderen Minderheiten durch die Praktiken der Massenvergewaltigung an Frauen und Mädchen sowie der Massenerschießung von Männern und Jungen. Das Ziel war eine serbisch-orthodoxe Mehrheitsgesellschaft zu erschaffen. Dabei gilt der Völkermord von Srebrenica im Juli 1995 als das schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Innerhalb einer Woche wurden mehr als 8 000 Bosniaken (Muslime) ermordet und in Massengräbern verscharrt. Bis heute werden immer wieder neue Gräber entdeckt. Das Dayton-Abkommen beendete zwar den Krieg und somit auch diese Gräueltaten, steht aber in der Kritik, da viele Kriegsverbrecher*innen aller drei ethnischen Gruppen keine Repressalien auferlegt bekommen haben und zudem hohe Ämter bekleiden konnten oder dies noch immer tun. Auch die Tatsache, dass die Republika Srpska trotz aller Kriegsverbrechen als Entität von der internationalen Gesellschaft anerkannt wurde, wird von einigen Expert*innen als problematisch eingestuft.

Der nicht überwundene Nationalismus

Der nicht bearbeitete Nationalismus innerhalb der Staatsstruktur führt demnach zu erneuten Reibungen. Die paramilitärischen Einheiten, welche am 9. Januar 2022 für die Parade aufmarschierten, sangen so ein serbisch-nationalistisches Lied, welches „den Kampf für das Kreuz“ schwört. Schon davor kommt es zu eigenständig organisierten Machtdemonstrationen durch den Teil der Bevölkerung, der sich durch den serbischen Nationalismus Dodiks hat anstecken lassen:

Am 6. Januar 2022 feuern serbische Nationalisten nach dem Morgengebet vor einer Moschee in Janja Schüsse in die Luft. Während des serbisch-orthodoxen Weihnachtsfest am 7. Januar 2022 zünden serbische Nationalisten Bengalos und singen: „Es ist Weihnachten, feuert auf die Moscheen“. Am Abend des 8. Januars 2022 blockieren in Novi Pazar serbische Nationalisten die Straßen, zünden Fackeln und singen ein nationalistische Lied, welches den Einfall in Städten in Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Montenegro und Kosovo ankündigt. Am gleichen Tag ziehen serbische Nationalisten in Prijedor durch die Straßen und glorifizieren in einem Lied den verurteilten Kriegsverbrecher Ratko Mladic.

In zahlreichen Gebieten der Republika Srpska sind dabei Bosniak*innen (Muslim*innnen) in der Mehrheit, da sie nach der Vertreibung während des Krieges wieder in ihre Heimatorte zurückgekehrt sind. Das ist nur eine Auswahl an Ereignissen, über die seit Jahresbeginn berichtet wird. Selbstverständlich sind viele der bosnischen Serb*innen (serbisch Orthodoxe) nicht in die Aktionen involviert, verurteilen die Taten oder fürchten einen erneuten Krieg ebenfalls. Trotzdem hat Dodiks Rhetorik zahlreiche serbische Nationalist*innen mobilisieren können, deren Gruppe immer stärker anwächst und somit eine akute Gefahr für den Frieden in Bosnien und Herzegowina darstellt. Hinzu kommt die immer weiter voranschreitende institutionelle Ausgliederung der Republika Srpska.

Fehlende Resonanz aus der internationalen Gemeinschaft

Zwar berichten deutsche und internationale Medien von der derzeitigen Krise, doch verhalten. Trotz der Brisanz des Themas verbergen sich viele der Artikel, beispielsweise von der FAZ und von DIE WELT, hinter einer Pay-Wall. Das erschwert den Zugang zu Informationen über die sich immer stärker zuspitzenden Lage in dem gespaltenen Land. Dabei ist der Wissenstand der deutschsprachigen Bevölkerung zu dem Thema sehr niedrig.

So führte die Wissenschaftlerin Theresa Reiter einem Umfrage zum Thema „Jugoslawienkriege im Unterricht“ durch und fand heraus, dass dieses zumeist nicht oder nur unzureichend in der Schule behandelt wird, obwohl auch die internationale Gemeinschaft eine tragende Rolle spielte. So waren beispielsweise UN-Truppen zum Schutz der zivilen Bevölkerung in Srebrenica stationiert, als das Massaker passierte.

Um den heutigen Frieden in Bosnien und Herzegowina zu wahren, wird ein Teil der Staatsgewalt durch den Hohen Repräsentanten ausgeübt, der von der internationalen Gemeinschaft gestellt wird. Er überwacht Staatsgeschehen und berichtet regelmäßig beispielsweise an die EU-Kommission oder die Vereinten Nationen (UN). Seit August 2021 wird das Amt von Christian Schmidt, einem deutschen Politiker, ausgeführt. Dieser äußert sich insoweit zu der Lage, als er davon ausgeht, dass kein neuer Krieg droht. Durch journalistische Berichterstattung und Social Media wird jedoch klar: Große Teile der Bevölkerung drückt die Sorge vor einem neuen Krieg aus, plant schon Fluchtwege und fühlt sich an die Anfänge des Krieges in den 1990er-Jahren erinnert. Weitet sich die Krise tatsächlich zu einem erneuten Krieg aus, dann ist Gewalt und Elend inmitten von Europa absehbar. Neben möglichen Flüchtlingsströmen Richtung West- und Nordeuropa könnte sich dann auch die politische Lage zwischen Westen und Osten verschärfen, da Russland immer wieder öffentlich Interesse am Westbalkan bekundet und Serbien sowie die Republika Srpska unterstützt. Zudem liegt Bosnien und Herzegowina direkt an einer EU-Außengrenze. Ein Krieg könnte euch die EU destablisieren.

Und nun? Was kann ich tun?

Im Juli 2020 titelt der MDR „Bosnien und Herzegowina: Ein unregierbares Land“. Mit dieser Unterstellung bedient der Titel ein stereotypisches Bild des Balkans, die oftmals als wild, unbezähmbar und sich untereinander bekriegend dargestellt werden. Die akute politische Situation wird so heruntergespielt und in Folge von der internationalen Öffentlichkeit nicht ernstgenommen. Sollte es jedoch zum Krieg kommen, droht eine erneute humanitäre Krise.

Neben Aktivist*innen vor Ort sind auch Migrant*innen und Postmigrant*innen in ganz Europa besorgt. Schon am 10. Januar fanden in Belgien, Norwegen, Österreich, Frankreich, Schweden und Italien Demonstrationen statt. Die Demonstrant*innen möchte internationale Aufmerksamkeit erregen und plädieren für ein multikulturelles Bosnien und Herzegowina. Doch in Deutschland sind bisher wenige Aktionen geplant. Die einzige Kundgebung in diesem Jahr fand am 22. Januar 2022 in Stuttgart statt, organisiert durch engagierte Einzelpersonen und mit kaum medialer Aufmerksamkeit. Im Raum Hamburg sind zum Stand der Veröffentlichung am 23.01.2022 keine Aktionen bekannt. Wieso sind in Deutschland so wenige Menschen auf den Straßen und demonstrieren? Neben fehlendem Interesse kann das zum einen an der verhaltenen Berichterstattung liegen, zum anderen an den immer höheren Infektionszahlen und Auflagen durch die Omikron-Variante des Coronaviruses.

Anstatt der physischen Präsenz bei einer Demonstration kann aber auch mit einer Unterschrift geholfen werden. Inzwischen wurden zahlreiche Petitionen durch lokale und migrantische Gruppen gestartet. Eine deutschsprachige Petition, die an die Bundesregierung versandt werden soll, wurde beispielsweise durch das bosnisch-muslimische Jugendnetzwerk Mannheim initiiert. Außerdem hilft es, wenn ihr die Lage mit eurem Netzwerk teilt und darüber sprecht: erzählt euren Eltern davon, diskutiert mit euren WG-Mitbewohner*innen und macht eure Mitstudierenden darauf aufmerksam!

Noch ein persönlicher Rat zum Schluss

Für viele Postmigrant*innen und Migrant*innen aus dem ehemaligen Jugoslawien kann die Situation re-traumatisierend sein. Bitte akzeptiert die Entscheidung, falls Personen mit Wurzeln im ehemaligen Jugoslawien nicht darüber sprechen wollen. Unterstützt aber auch Postmigrant*innen und Migrant*innen, die darüber sprechen möchten. Hört ihnen dann zu und bietet ihnen gerne eine Plattform an, falls euch das möglich ist – zum Beispiel, indem ihr eure Social-Media Kanäle öffnet oder eure Freund*innen zu einer (digitalen) Gesprächsrunde einladet.

Foto: Sarajevo – c (Ema Jerkovic)

Ema Jerkovic

Masterstudentin der Kulturwissenschaften und begeisterte Schreiberin - wissenschaftlich, journalistisch und schriftstellerisch.

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