In Lisas Geschichte geht es um Trauer, die gesellschaftlich nicht gern gesehen ist, wenn sie „zu lange“ dauert oder als zu intensiv wahrgenommen wird. Doch wie geht man mit Trauernden im Umfeld um? Dieser Artikel von Anna Baumann ist in der Univativ-Ausgabe 70 erschienen.
Lisa sitzt im Seminar und hat den Text nicht gelesen. „Ich bin nicht dazu gekommen.“ Sie sagt nicht, dass sie gestern den ganzen Tag geheult hat und deshalb einfach gar nichts ging. Für Trauer ist an der Uni wenig Platz. Vor drei Monaten ist ihr Vater gestorben, und inzwischen sind alle zur Routine übergegangen. Bei ihr ist der Schmerz aber nicht vorbei. Im Gegenteil, jetzt tut es so richtig weh. Tausend Kleinigkeiten im Alltag erinnern sie an seinen Tod: „Jetzt würde er anrufen“, „Das weiß Papa…“, „Das würde ihm gefallen…“. Sie erkennt sich selbst kaum wieder.
„Lisa Powerfrau“ haben die anderen immer gesagt, nun ist ihr alles zu viel. Sie schafft auch ihr übliches Pensum nicht mehr. „Ich passe gerade einfach nirgends so richtig hin“. Dabei hat sie immerhin schon die ersten Hürden geschafft. Nachdem er tot war, wussten ihre Freunde und Bekannten nicht so recht, was sie sagen sollten. „‚Mein Beileid‘ oder ‚Es tut mir leid‘ ist schon okay“, sagt Lisa. „Was soll man auch sonst sagen“. Und wenn jemand gar nichts gesagt hat, war das meist noch komischer.
Aber auch jetzt ist das Thema ständig in ihrem Kopf. Sie hat ihre Erlebnisse allen Freunden schon ungefähr drei Mal erzählt. Und immer noch beschäftigt sie dieses Bild, wie er da lag. Die Beerdigung. Manche Worte, die er gesagt hat. Michael, den sie aus der Vorlesung kennt, fragt jetzt ab und zu nach. Vor Jahren ist seine Mutter gestorben, er kennt das. Er ermuntert Lisa vorsichtig zum Reden. Manchmal mag Lisa nicht, aber manchmal sprudeln die Worte nur so aus ihr heraus, das tut gut.
Tränen passen einfach nicht an die Uni
Es sind die kleinen Gesten und Aufmerksamkeiten, die ihr am meisten helfen. Wie zum Beispiel letzte Woche, als Seda ihr verheultes Gesicht schon von Weitem gesehen hat. Sie ahnte wohl, dass ihr nach Ablenkung war. Sie sind Kaffeetrinken gegangen und damit war der Moment gerettet. Tränen passen einfach nicht an die Uni. Nicht in den Zug. Nicht in die Stadt. Dabei fließen die Tränen jetzt so oft. Und sie sind gesund.
Aus Hilflosigkeit sagen die Leute manchmal „Du musst nach vorne schauen“, „Du darfst dich nicht so einigeln“, „Er hat doch so gelitten“, „Er war doch schon so lange krank“, „Es ist doch schon drei Monate her…“. Bei Lisa kommt nur an: „Du darfst nicht mehr trauern. Du sollst wieder funktionieren“. Aber ihre Welt ist doch irgendwie stehen geblieben, wie soll sie einfach weiter machen?
Raum für ein paar Tränen muss da schon sein. Das Umfeld unterschätzt Trauerprozesse oft und macht sich verfrüht Sorgen. Es ist gesund, Trauer auszuleben und zuzulassen. Wenn, dann macht eher das Gegenteil Probleme. Lisa hat sich in einem Trauerforum im Internet umgesehen. Die anderen dort haben gesagt „Drei Monate, das ist ja noch gar nichts. Trauer braucht eben ihre Zeit. Hab Geduld.“ Das hat Lisa beruhigt. Die anderen kannten auch die Gefühlsachterbahn. „Manchmal bin ich richtig sauer auf meinen Papa, dass er sich einfach so aus dem Staub gemacht hat. Dabei hat er sich das ja auch nicht ausgesucht“. Es tut gut, dass die anderen zuhören und verstehen. Wut gehört bei vielen zum Trauern dazu. Auch Schuldgefühle sind weit verbreitet: „Hätte ich doch…“ und „Wenn ich …“. Aber auch das vergeht nach einer Weile wieder.
Trauer als Teil des Lebens
So wie Lisa fühlen sich viele Menschen mit ihrer Trauer allein gelassen. Es ist zwar nicht verboten, über Trauer zu sprechen, aber als gäbe es eine heimliche Verabredung, tut es doch selten jemand. Trauer fällt ins Private, das kann so wirken, als müsse das Individuum „bitteschön allein damit fertig werden und bald wieder produktiv sein und funktionieren“. Doch Trauer und Sterben gehören zum Leben, genauso wie Essen, Schlafen, Sex und Freundschaft …
Jeder Mensch wird einmal einen geliebten Menschen verlieren. Jeder Mensch wird einmal auf einen anderen Menschen treffen, der trauert. Sich mit dem Thema auseinander zu setzen, ist zwar nicht leicht und nicht fröhlich, aber es kann das Leben auf vielerlei Weise reicher machen.
Die Kunst zu Trauern
Eigentlich ist Trauern gar keine Kunst. Denn Trauer läuft einfach ab wie ein vorinstalliertes Programm. Aber Trauer ist schmerzhaft und anstrengend und es gibt ein paar Tipps, die Trauernden das Leben leichter machen. Da ist zum Beispiel die Philosophie der kleinen Schritte. Es klingt banal und ist doch ein Rezept, das fast allen hilft, wenn es so richtig „dicke“ kommt. Dann sollte nur noch der Moment zählen, den man gerade so schafft. An morgen kann man morgen denken. Auch eine „Entdeckerperspektive“ ist hilfreich. Das bedeutet, erst einmal ohne Bewertung alle Gefühle zu erforschen und zu beobachten, die während der Trauer aufwallen. Das kann zum Beispiel auch ein Gefühl der Leere sein, wenn ganz am Anfang der Trauer der Schock noch alle Trauergefühle verdrängt.
Viele Trauernde haben das Bedürfnis, der gestorbenen Person „noch so vieles zu sagen“. Da hilft ein kleines Briefchen, das man zum Grab bringt oder eine Kerze für die Person. Seele und Körper leisten in dieser Zeit Schwerstarbeit. Es ist wichtig, sich dies zuzugestehen und sich den Raum zu nehmen, zum Beispiel um auch einmal durchzuhängen. Und wer um Hilfe bittet, bekommt oft mehr Unterstützung als gedacht (manchmal allerdings von ganz unerwarteter Seite). Wenn einmal gar nichts mehr geht, gibt es viele professionelle Unterstützungsangebote, vom Austausch in Trauergruppen über Trauerbegleiter/-Innen bis zu Psycholog/-Innen. Die Psychologische Beratungsstelle des Studentenwerks oder die Hausärzte helfen gern weiter.
Jana sorgt sich um Lisa
Jana ist ratlos, sie versteht ihre Freundin Lisa nicht mehr so richtig. „Sie ist so anders als sonst.“ Wenn es um Trauer geht, passen die alltäglichen Maßstäbe oft nicht mehr. „Ich meine, klar, ihr Vater ist tot. Aber es ist nicht der richtige Weg, gar nicht mehr raus zu gehen! Sie vergräbt sich zu Hause!“
Es kann weiterhelfen, eine offene Frage zu stellen statt Trauernde mit einer fertigen Meinung zu konfrontieren und zu bewerten. Den meisten Trauernden tut es gut, wenn man vorsichtig nachfragt, und vor allem gut zuhört. Jana könnte fragen „Was glaubst du, kann dir jetzt gut tun?“ Wer sich um Trauernde sorgt, sollte nicht unbedingt Empfehlungen aussprechen, sondern lieber von sich sprechen: „Ich sorge mich um dich“. Denn meistens entwickeln die Trauernden selbst ein Gefühl dafür, was ihnen gut tut. Man kann die Betroffenen also ermutigen, ihren eigenen Weg zu finden. Wie dieser Weg aussieht, kann sehr unterschiedlich sein, denn es gibt viele Formen der Trauer; von Weinen bis Lachen, von Reden bis Schweigen, von Zurückziehen bis Feiern. Und wenn Lisa das Ablenken ausprobiert hat und sich nicht wohl damit fühlt, dann ist es für sie in dem Moment einfach nicht das, was sie braucht.
Jana ist irgendwann frustriert: „Ich habe echt alles versucht, aber es wird einfach nicht besser!“ Darum sind auch die Grenzen der Helfenden sehr wichtig. Durch die Trauer muss derjenige selbst durch, diesen Weg kann man niemandem abnehmen. Und Trauer dauert so lange, wie sie dauert. Wenn Jana die Worte fehlen, kann sie im Zweifel immer ehrlich sein, sagen was sie denkt oder fühlt, zum Beispiel etwas wie: „Ich weiß nicht, was ich sagen soll“ oder „Es fällt mir schwer, Worte zu finden, weil ich mir einfach nicht genau vorstellen kann, wie du dich fühlst“, aber auch „Ich würde dich gerne trösten, weiß aber nicht wie.“
Nach einem Jahr ist Lisa nur noch manchmal traurig. „Es gibt so Tage, da fehlt mir mein Vater. Aber das ist schon okay.“ Sie denkt heute gerne an ihn zurück und in Gedanken fragt sie ihn manchmal um Rat.
Autorin: Anna Baumann