Johan Simons inszeniert Calderón de la Barca. Eine Bearbeitung, die die kosmologischen Dimensionen des Stoffes nur andeutet, seinen Witz nicht zu fassen bekommt und seinen politischen Gehalt nicht aktualisiert
Sigismund lebt, sein ganzes Leben schon, als Gefangener in einem Turm im Gebirge. Der einzige Mensch, den er je zu Gesicht bekommt, ist sein Wächter Clotaldo. Bis eines Tages seine Welt gleich zweimal durchbrochen wird: Erst verirren sich zwei Fremde im Land, ein junger Edelmann (der sich bald als Edeldame herausstellen wird) und sein (ihr) Begleiter, an sein Verließ; dann beschließt auf einmal der König, Sigismund seine Freiheit zu gewähren.
Der König – das ist Sigismunds Vater. Und Sigismund – ist also auf einmal der Prinz des Reichs. Beziehungsweise, so erzählt man es ihm, war er es eigentlich immer schon, und sein Gefangenendasein: ein Traum. Doch dass die Wahrheit möglicherweise ist, dass der König sein eigenes Kind wegsperren lassen hat, das zeigt das Stück dem Zuschauer: Als ein Mann der Wissenschaften habe er, so erklärt der König selbst, bei der Geburt seines Sohnes in den Sternen gesehen, dass großes Unheil von ihm ausgehe. Das eigene Kind einzukerkern: sozusagen seine Pflicht zum Schutz der Welt. Doch jetzt kommen dem König, der auch ein Christ ist, Zweifel an dieser Weisheit, und er will Sigismund eine Chance geben, sich selbst zu beweisen. Dass ihm kurz zuvor schon zwei andere Menschen begegnet sind, ist für dieses Experiment vermutlich dann doch nicht ganz so „jetzt auch egal!“, wie Christiane von Poelnitz als König dröhnend quittiert.
Das 1635 am spanischen Königshof uraufgeführte Stück entstammt der Zeit des sogenannten Siglo de Oro, einer kulturellen Hochzeit in Spanien zwischen Renaissance und Barock, zwischen dem Aufblühen humanistischer Philosophie und absolutistischer Machtausübung also. Was de la Barca in „Das Leben ein Traum“ verhandelt, sind Fragen, die sich genau in diesem Spannungsfeld befinden. Man kann seinen Text dabei theologisch-kosmologisch lesen, als einen Versuch über das menschliche Wesen, seine Existenz und seinen Schöpfer – oder ganz politisch verstehen: als Frage danach, was die Machtausübung eines Herrschers legitimiert, welche Grenzen ihr gesetzt sein sollten und unter welchen Bedingungen Freiheit erfahren werden kann.
Simons‘ Inszenierung stellt eher Ersteres heraus. Das Bühnenbild (Johannes Schütz) besteht aus einem über der Drehbühne montierten Steg, an dessen Ende ein ca. 4 Meter hoher Spiegel steht. Einige im dunklen Raum verteilte nackte Glühbirnen funkeln wie ein Sternenhimmel und über der Mitte hängt eine stahlgraue Kugel, die das Licht (Jan Haas) wie auf astronomischen Fotos erfasst. Das ist schön anzusehen, aber so richtig Sinn bekommt diese Konstellation im Spiel nicht. „Vielleicht soll sich da ja die Struktur eines Herrscherhauses zeigen; aber mit Innenräumen spielt die Inszenierung im Übrigen eher nicht. Wirklich wichtig ist nur der Spiegel – Sigismund malt ihn im Moment der Freilassung, im Augenblick der Freiheit auf Zeit, mit weißer Farbe zu: Bitte kein Spiegelbild mehr, sagt dieses kräftige Bild“, beobachtet Michael Laages treffend auf nachtkritik.de, wobei man sich natürlich fragen muss, was das denn wiederum heißt: Bitte kein Spiegelbild mehr?
Das Ergebnis des Experiments Sigismund I zeigt keinen gesitteten Christenmenschen, sondern eine rohe ungestüme Natur. Er droht, Clotaldo zu töten, fällt über Rosaura (die sich ihrer Verkleidung als Edelmann entledigt hat) her und stößt einen Diener vom Balkon in den Tod. Hat der König also Recht damit gehabt, ihn gefangen zu halten? Oder ist das Experiment gar nicht gültig, weil es unter falschen Bedingungen gestartet ist? Denn wie soll Sigismund wissen, wie er richtig handeln soll, wenn er nicht unterscheiden kann zwischen der richtigen Welt und der Traumwelt? Seine einzige Gewissheit ist, dass er in der Traumwelt ein absoluter Gefangener war, ergo muss er in der richtigen Welt absolut frei sein. So warnt de la Barca den Monarchen vor der absoluten Unterdrückung. Was Sigismund fehlt, ist die Einsicht, warum in der richtigen Welt bestimmte (moralische) Gesetze herrschen. So ist er eigentlich noch immer ein Gefangener oder, um auf das Bühnenbild zurückzukommen, ein Blinder, und es macht durchaus Sinn, dass er den Spiegel selbst, aus Wut nämlich, übermalt.
Aufgelöst wird dieses Bild im Verlauf des Stücks, das dazu Anlass gäbe, jedoch nicht mehr. Und das passt auch zum Schauspiel: Jens Harzer spielt Sigismund als einen, den das Leben wie einen Spielball behandelt, wie angeschubst und liegengelassen und aufgezogen und fallengessen eiert er über die Bühne (das ist wirklich eine großartige Leistung) und klagt dazu ziemlich trottelig über sein Leid (das hat immer etwas Eigenwilliges, aber bekommt leider bis zum Ende überhaupt nichts Willensstarkes oder Kämpferisches). Insgesamt ähnelt es sehr seiner Darstellung des Idiots in dem gleichnamigen Stück von Dostojewskij (Regie: ebenfalls Johan Simons für das Thalia Theater). Das Problem dabei ist: Man bekommt von ihm einfach keinen wirklich klaren Moment, und sei es nur ein Augenblick, in dem man mit ihm oder durch ihn etwas von der Welt versteht.
Und so eiert man mit diesem Protagonisten zweieinhalb Stunden durch den Abend und versteht dabei immer weniger als mehr. Dabei hat das Stück noch einige Wendungen zu bieten, die Nebenhandlungen der anderen Höflinge und Fremdlinge natürlich, und das Experiment Sigismund II, könnte man sagen, diesmal nämlich kommt das Volk, und nicht nur der Einzelne ins Spiel. Dass man der Handlung aber so schlecht folgen kann, liegt wohl auch daran, dass die Schauspieler den Witz des Textes nicht zu greifen bekommen. Ein fast 400 Jahre alter Text macht einem das auch nicht leicht, doch die Diskrepanz zwischen der Getragenheit, mit der das Ensemble den Text angeht, und den in ihm angelegten witzigen Stellen ist nicht zu überhören. Vielleicht fehlt einfach etwas Tempo. Das können auch die tänzerisch-chaotisch angelegten Umbauten nicht ausgleichen. Und man bekommt den Eindruck, dass auch bei der Besetzung nicht die beste Entscheidung getroffen wurde. Wenn es Harzer gelingt, der Figur Sigismund für sich genommen einen Charakter zu geben, so gehen die Figurenbeziehungen, vor allem zu der Geliebten Rosaura (Marina Galic) und dem König durch das Alter, das Harzer seiner Figur anträgt, nicht auf. Er ist vielmehr alter Mann als junger Königssohn, der im Begriff ist, die Welt zu verstehen.
Und auch das Kostüm (Teresa Vergho) erzählt leider nicht viel. Weder historisiert es den Stoff noch holt es ihn in die Gegenwart. Um dem Stück heute Aussagekraft zu verleihen, hätte man hier klarere Entscheidungen treffen müssen, wer diese Menschen sind, die heute oder damals vor die Fragen nach Natur, Freiheit und Schicksal gestellt sind oder sich selbst stellen. So verdunkelt der Abend mehr von unserem politischen Kosmos, als dass er ihn erhellt.
Premiere: 22.03.2024
die nächsten Vorstellungen: 06.04., 26.04., 28.04.
Foto: Armin Smailovic