Wagenhöfers Film Alphabet / © Foto:Thomas Röher/www.H2Ofoto.de

Es geht auch anders!

Der Film Alphabet ist nicht bloß eine Kritik an unserem Schulsystem. Er greift tiefliegende Strukturprobleme auf und will zeigen, dass es auch anders geht.

Wagenhöfers Film Alphabet / © Foto:Thomas Röher/www.H2Ofoto.deErwin Wagenhofer regt nach aufrüttelnden Filmen wie „We feed the World“ und „Let´s make money“ nun mit „Alphabet“ dazu an, unsere schulische Bildung zu hinterfragen. Ihm gelingt das Kunststück, dem Kinobesucher auf einer bewegenden Reise nahezubringen, welche Auswirkungen unser gegenwärtiges Verständnis schulischer Bildung hat. Seine Aussage ist radikal: unser Schulsystem vernichtet systematisch Kreativität. Dabei belässt es Wagenhofer nicht bei einer losen Kritik am bestehenden System, sondern zeigt hoffnungsstiftende Alternativen auf.
Eine unkommentierte Ultraschallaufnahme eines Fötus. Die beeindruckte Einöde des Death Valley. Und unterlegt von dieser Szenerie beginnt eine drängende Rede: „Wir haben diese außergewöhnliche Kraft: damit meine ich die Kraft der Imagination. Jede Form menschlicher Kultur ist Folge dieser einzigartigen Fähigkeit.“ Der Film beginnt mit einem Auszug aus einer Rede des Bildungswissenschaftlers Sir Ken Robinson. 6000 verschiedene Sprachen, die Musik Mozarts, die industrielle Revolution, die Relativitätstheorie – all dies sei erst möglich durch die menschliche Vorstellungskraft. Robinson stellt die These auf, dass das Bildungssystem diese Fähigkeit im Kindesalter zerstört. Nach einem solchen Paukenschlag nimmt der Film uns mit in den Alltag verschiedenster Lebensumfelder.

Die Reise beginnt in China, dem neuen PISA-Vorzeigeland. Es wird deutlich gemacht, welche Konsequenzen ein Schulsystem nach sich ziehen kann, das auf purem Leistungs- und Wettbewerbsdruck basiert: Chinesische Schüler haben die längsten Lernzeiten, die kürzesten Schlafzeiten und am wenigstens Glücksgefühle. In einer Szene präsentiert eine Mutter stolz die zahllosen Urkunden ihres Sohnes. Sie sagt, Kinder dürfen nicht bereits an der Startlinie verlieren. Ihr Sohn sitzt ausdruckslos daneben. Yang Dongping, bedeutender Herausgeber zu Bildungsthemen in China, vergleicht das Erziehungskonzept von Eltern und Regierung mit einem Drachen, der stets an der Leine gehalten wird. Eine hohe Erwartungshaltung führt zu sehr frühem Leistungsdruck. So werden oft bereits im Kindergarten Hausaufgaben verteilt. Die Statistik hält noch viel entsetzlichere Tatsachen bereit: in China sind Selbstmorde inzwischen die häufigste Todesursache von Schülern.

Sichtweisen verschiedener Repräsentanten des westlichen Bildungssystems
Der internationale Koordinator der PISA-Studien Andreas Schleicher („Mister Pisa“) wird auf Schulbesuchen in China begleitet, der ehemalige Hauptschüler Patrick aus Dortmund bei seiner Tätigkeit als Sicherheitsdienst. Der renommierte Neurobiologe Gerald Hüther stellt Studien aus der Hirnforschung vor, die zeigen, dass „unkonventionelles Denken“ mit dem Durchlaufen der Schule kontinuierlich abnimmt. Eine 15-jährige Schülerin beschwert sich über den Leistungsdruck, der ihr keinerlei Freizeit mehr lasse. Der ehemalige Personalchef und Bildungsexperte Thomas Sattelberger äußert sich zum fatalen Einfluss der Ökonomie auf deutsche Schulen.

In diesen Momenten spielt der Film seine größte Stärke aus, seine Authentizität. Wagenhofer versteht es, den Betrachter emotional mit einzubinden, indem viele Nahaufnahmen der Protagonisten gezeigt werden. Die Schnitte sind geschickt gewählt, sodass der Film kurzweilig bleibt, und Wagenhofers kluge Besetzung der kontrastreichen Protagonisten für jeden Kinobesucher inspirierende Denkanstöße bietet.In der zweiten Hälfte werden bestehende Grundsätze des Schulsystems in Frage gestellt, indem alternative Lebensläufe vorgestellt werden. André Stern hat keine Schule durchlaufen und nur aus eigener Neugier gelernt. Er ist Gitarrenbauer und Komponist, unter anderem hat er die Musik zu dem Film geschrieben. Sein Vater, ein anerkannter Pädagoge, liefert Erkenntnisse über die schädlichen Einflüsse auf die kindliche Psyche. Er ist außerdem Gründer des „Malort“, an dem Kinder seit über 60 Jahren geschützt vor jeglicher Beurteilung und Bewertung malen können, eine Herangehensweise die zu erstaunlichen Forschungsergebnissen geführt hat. Pablo Ferrer ist der erste Europäer der mit Down-Syndrom einen Hochschulabschluss gemacht hat und liefert eine philosophische Grundlage für den Film: „Für mich gibt es zwei Konzepte: Das Konzept der Angst und das Konzept der Liebe. Und wenn wir bis jetzt mit dem Konzept der Angst gelebt haben, wird es Zeit, dieses zu verlassen.“

Der gesamte Film kommt ohne jegliche Kommentare aus. Wagenhofer bedient sich lediglich der Worte anderer, um seine Botschaft herüberzubringen. Sich eine eigene Meinung zu bilden – das bleibt jedem selbst überlassen. Alphabet lebt von dieser ermöglichenden Subjektivität.
Gerade im Angesicht der zuletzt veröffentlichten Pisa-Ergebnisse bietet der Film eine Grundlage um die vermeintlich positive Entwicklung Deutschlands zu hinterfragen. Macht es wirklich Sinn China´s PISA-Ergebnissen nachzueifern?

Autor: Robin Dirks