Lüneburg, 16. Juni 2023. Die vergangenen zwei Wochen haben 14 Studierende der Leuphana Universität ihre Studienenergie umgewidmet und sich dem Schauspiel verschrieben. Sie schufen ein Stück mit Tiefgang, welches von einem emotionalen Gipfel zum nächsten springt. Ein exzess der Emotion. Hat sich die Mühe gelohnt? Die nicht endende Standing Ovation des Publikums spricht für sich.
Die Nachbesprechung beginnt, das Ensemble sitzt auf der Kante der Bühne. Ich blicke in die endorphinerfüllten Augen meiner 13 Kommiliton:innen, noch etwas aufgekratzt finden sie zur Ruhe und reflektieren. Es war vor allem die Sicherheit, welche das Stück erst möglich machte. Die Sicherheit sich voreinander Blöße zu geben, nicht verurteilt zu werden, zu wissen: Falle ich, gibt es 32 Hände, die mich fangen. Als „Schicksalsgemeinschaft“ definieren sich Schauspieler und Leitung.
Noch vor zwei Wochen waren sie Studierende, Leien, praktisch ohne Vorerfahrung. Staunend sitzt das Publikum bei der Nachbesprechung und stellt die erste Frage: ein intensives Wie. Wie schafft man es in zwei Wochen – nicht nur den Text zu können, sondern auch die Fülle an Emotion auf die Bühne zu bringen? „Ganz einfach“, scherzt Jan-Philip Walter, der gemeinsam mit Niklas Schmidt das Studischauspiel leitet. ‚Es ist Sommer, jeder will raus, bestes Wetter, ab in die Ilmenau und wir haben gesagt: Ab in den Keller!‘ Zehn Stunden proben, jeden Tag.
Nach etwa zwanzig Minuten richtet sich Lea Rischette, eine Darstellerin, an uns: „Wie wirkte das Kabel auf Sie?“ Gemeint sind die Kabel, welche im Nacken eines jeden eingesteckt waren. Wurde aus Versehen herausgezogen, erstickten die Personen vor uns, während sie von Ihren Lebensgenoss:innen gerettet wurden. Sie alle wollten (über)leben, ganz gleich wie bedauernswert und mitleidig ihre Situation war. Alle Rollen die die Künstler verkörperten trugen etwas in sich: Hoffnung.
Das Leben bahnt sich einen weg
Sich windendes Gewürm bricht hervor, zu den eisernen Klängen von Woodkid. Hinter den schweren Trommelschlägen und dem Schmerz verbirgt sich ein Schimmer der Hoffnung und ein fast heiteres Flötenspiel. Es wird schnell klar: Das Leben ist ein Kampf. Kriechend greifen die in weiß gekleideten Gestalten nach Kabeln. Lebensschnüre die sie mit dem Äther verbinden. Unvermittelt kommt mir der letzte Satz des Programmhefts in den Kopf: „Wer nicht bedauerbar ist, lebt außerhalb des Lebens.“
Von den insgesamt 100 Szenen aus Alice Birchs Stück [BLANK] haben sich die 13 Schauspieler je eine herausgesucht, die 14. ist selbst verfasst. Gemeinsam mit den beiden Leitern überarbeiteten und kombinierten sie, änderten immer wieder den Text. Die Überleitungen passen nahtlos aneinander und der Beobachtende springt wie im Rausch von einem emotionalen Gipfel zum nächsten. Täler zum Ausruhen gibt es nicht. Diese hohe Dichte an Energie und Emotion ließ das Publikum beeindruckt, und mit der Frage zurück: Wie schafft man das? Sie spielten die Emotionen einander zu, reichten sie weiter. Dabei ließ sie das Schauspiel trotz Konzentration nicht unberührt und so manche:r weinte vor Freude und Erstaunen über die das gemeinsame Bühnenspiel.
Die Wahl der Szenen lässt uns auch in die Seelen des Ensembles blicken. Was bewegt diese jungen Menschen? Was fasziniert oder erschreckt sie? Ganz zentral steht eine Frage: Warum?
Wir spüren die Wut eines alleingelassenen Kindes, dem die Mutter durch gesellschaftliche Zwänge genommen wurde, erleben einen traumatisierten Arzt, der verdammt war, nicht helfen zu können. Menschen mit scheinbar perfekten Leben, die sich nicht die Hände schmutzig machen wollen, emotionale Krüppel, welche sich mit Drogen betäuben und eine Gesellschaft, der das Leid der ökonomisch schlechter Gestellten egal ist. Es ist eine Faszination über die Abgründe, welche potenziell in jedem von uns schlummern.
Dabei kann der Zuschauer die einzelnen Abschnitte für sich betrachten oder versuchen in Zusammenhang zu setzten. Vielleicht sogar eine Geschichte, ein mosaikhaftes Bild erkennen. So tauchen einige der Charaktere wiederholt auf, andere scheinen durch die Zeit zu wandeln. Sind sie alle miteinander verbunden, so wie auch die Schauspieler über einen gemeinsamen Kabelstrang verbunden sind?
„Es ist OK.“
Im Alltag trivial und nebensächlich, ist der Satz auf der Bühne bedeutungsschwanger. Immer wieder begegnen wir einer Akzeptanz des Schrecklichen im menschlichen Dasein, die uns wie eine schwere Decke über die Schultern gelegt wird und Trost spendet. Bei all der Brutalität haben es die Studierenden geschafft, Trost und Hoffnung zu vermitteln. Eine Hoffnung, die essenziell war, um Zuschauer wie Figuren aufzufangen, denn die Szenen selbst bieten keine Auflösung, keine Closure.
Dabei waren die Darsteller:innen überrascht wie Betonung, Mimik, Stimmfarbe – all die kleinen Kniffe, welche sich zum Schauspiel aufsummieren – zu völlig verschiedenen Erzählungen der immer gleichen Abschnitte führen. Begeistert schilderten sie ihre Erfahrungen. Als ich der Reflexion lausche wirkt das Stück noch immer nach.
Fazit: Nicht OK, sondern überragend
Gut 24 Stunden nach der Performance sackt das Stück noch ein klein wenig. Die Vielschichtigkeit und emotionale Tiefe. Ich spüre noch immer die Leidenschaft und Begeisterung der Schauspieler, fühle so manche Szene nach. Erst langsam komme ich ans Ende, erinnere mich an das Intensive Mimikspiel, als ein Character den Sinn des Lebens fand und verlor. Denke an die schier endlos erscheinende Stille – das Publikum wie benommen – ehe jemand nach über einer Minute des Schweigens die Stille mit einem ersten Klatschen durchbrach. Wenige Ton-Tropfen wuchsen zum minutenlangen Sturm der Standing Ovation.
Wer es noch nicht gesehen hat und bereit ist sich Themen von Mutterschaft, Einsamkeit, Missachtung und Suizid auszusetzen sollte sich unbedingt eine Karte holen. Noch gibt es zwei Aufführungen und wenige Plätze.
Termine
Aufführungen von [BLANK] gibt es an folgenden Tagen, für mehr Infos und zu Reservierung bitte hier klicken.
18.06.2023 um 18:00 Uhr
24.06.2023 um 20:00 Uhr
Leitung:
Jan-Philip Walter Heinzel & Niklas Schmidt
Studentisches Ensemble
Regieassistenz: Johanna Petschick
Schauspielende: Carlotta Brüdersdorf, Julius Groß, Anna Hehemann, Tassilo Huber, Karla Imhof, Lucienne Labinschus, Anton Rinck, Lea Rischette, Justus Runte, Smilla Theobald, Oliver Trennert, Fynn Utermark, Jule Weidner
Titelbild: StudiSchauspiel, Copyright: Theater Lüneburg