Die überragende Mehrheit der Deutschen bezeichnet sich selbst als heterosexuell. Warum das eine Fehleinschätzung sein könnte, erklären nun britische Forscher.
Was braucht man, um die Heteronormativität unserer Gesellschaft einmal richtig aufzurütteln? Englische Wissenschaftler nahmen sich dafür eine Versuchsgruppe von hetero-, bi- und homosexuellen Frauen, ein wenig erotisches Bild- und Videomaterial und eine Methode zur Messung ihrer Erregung. Die entstandenen Ergebnisse der Studie vom Oktober 2015 legen nahe, dass die sexuelle Orientierung von Frauen offenbar nicht so eindeutig ist, wie sie selbst meinen. In ihrer Versuchsreihe befragten die Forscher ihre Probandinnen nach deren Sexualleben und setzten sie anschließend einer visuellen Stimulation aus. Die Erregung der Frauen wurde dann anhand von Genital- und Pupillenreaktion gemessen. Dabei legten die Wissenschaftler großen Wert auf die Heterogenität ihrer Testgruppe, wobei zwischen den vertretenen Ethnien, Alters- und Bildungsgruppen keine nennenswerten Unterschiede in den Resultaten zu erkennen waren.
Die Ergebnisse sprechen für sich: Fast drei Viertel der Teilnehmerinnen, die sich als heterosexuell bezeichneten, wurden entweder mehr oder ausschließlich von Frauen erregt, oder aber von beiden Geschlechtern gleich stark. Unter dem restlichen Viertel befand sich keine Teilnehmerin, die ausschließlich von Männern erregt wurde. In der Gruppe der lesbischen Teilnehmerinnen war die Intensität der Erregung durch das eigene Geschlecht im Allgemeinen höher als die Erregung durch Männer, wobei etwa die Hälfte beinahe ausschließlich beziehungsweise ausschließlich von Frauen erregt wurde.
Eine ähnliche Studie zog Männer als vornehmlich heterosexuelle Versuchsgruppe heran, mit einer geringen Anzahl von Teilnehmern, die sich als homo- oder bisexuell bezeichneten. Dies führte zu einem völlig anderen Ergebnis: Männer scheinen sich ihrer sexuellen Orientierung ungleich sicherer zu sein; fast alle heterosexuellen Männer wurden tatsächlich nur von Frauen erregt. Auch die Daten der homo- und bisexuellen Teilnehmer deckten sich beinahe gänzlich mit ihrer angegebenen Orientierung.
Bezeichnen sich also die meisten Frauen fälschlicherweise als heterosexuell? Darüber lässt sich anhand der Studie nicht wirklich ein Urteil fällen. Sexualität ist eben fließend und sexuelle Orientierung meist ein subjektiver Eindruck, der auch emotionale Aspekte mit einbezieht. Dennoch regt die Studie zum Nachdenken an. Vielleicht denken unsere Körper in Sachen gleichgeschlechtlicher Liebe anders als unsere Herzen. Vielleicht beschäftigen sich heterosexuelle Frauen aber einfach nicht aktiv genug mit ihrer sexuellen Orientierung. Möglicherweise sollten wir alle ein Wenig mehr Zeit dahingehend investieren, unsere Vorlieben infrage zu stellen.
Autorin: Jana Wollenberg