Unser Autor hat im Rahmen seines Erasmus-Auslandssemesters die vergangenen fünf Monate in der polnischen Hauptstadt Warschau verbracht. Er berichtet von seinen persönlichen Erfahrungen sowie einem politisch und gesellschaftlich schwierigen Umfeld.
Vor knapp einer Woche bin ich nach fünfmonatigem Aufenthalt in der polnischen Hauptstadt Warschau aus meinem Erasmus-Semester wieder nach Lüneburg zurückgekehrt. Ich hatte mich vor meinem Aufenthalt ein wenig über die politische Lage in Polen informiert und war überrascht, dass bereits im Sommer vor der im November stattfindenden Wahl nationalistische Tendenzen sichtbar waren. Freunde hatten mir eigentlich berichtet, dass Polen ein offenes und vor allem pro-europäisches Land ist. Nach fünf Monaten Warschau bin ich nicht mehr überrascht, was in unserem Nachbarland los ist – ich bin schockiert, schockiert über die Erfahrungen, die ich gesammelt habe, schockiert über Diskussionen, die ich mit polnischen Studenten geführt habe und schockiert, dass ich all das innerhalb der Europäischen Union erlebt habe.
Insgesamt wurde ich dreimal abends auf offener Straße oder in Bars pöbelnd aufgefordert polnisch zu sprechen oder zumindest das lästige Englisch sein zu lassen, wobei diese Aufforderung zweimal handgreiflich unterstrichen wurde. Tatsächlich habe ich mir infolgedessen zweimal überlegt, in welcher Lautstärke ich in der Öffentlichkeit deutsch oder englisch spreche. Sicherlich wäre es naiv zu behaupten, dass so etwas nicht auch in anderen europäischen Staaten wie Deutschland oder Frankreich geschehen kann, was mir jedoch einzigartig erscheint, ist die Tatsache, dass kurz vor dem polnischen Unabhängigkeits- und Nationalfeiertag am 11.11., alle Erasmus Studenten der Warsaw School of Economics – meiner Gastgeber-Universität – eine lange Mail bekamen, in der sie dazu angehalten waren an diesem Tag besonders Acht zu geben und am besten nicht das Haus zu verlassen, da Ausländer, egal, ob äußerlich oder sprachlich erkenntlich, regelmäßig attackiert würden. Ich für meinen Teil habe das Haus an diesem Tag nicht verlassen und das erste Mal in meinem Leben gespürt, was es heißt, in einer Gesellschaft schlichtweg aufgrund meiner Herkunft nicht willkommen zu sein. Dass mir diese Art von Rassismus in einem Mitgliedsland der Europäischen Union entgegenschlägt, hätte ich nicht erwartet.
„Polen den Polen!“
Um den Nationalfeiertag bin ich trotzdem nicht umhin gekommen, da direkt vor meiner Haustür der sogenannte Unabhängigkeitsmarsch stattfand, den ich von meinem Balkon aus beobachten konnte.
Dieser Marsch ist tatsächlich eine alljährliche, polnische Tradition, an der Polen aller Gesellschaftsschichten – Arm und Reich, Jung und Alt – teilnehmen. Unter dem Motto „Polen den Polen, Polen den Polen“ zogen sage und schreibe drei Stunden knapp 70 000 Menschen an meinem Balkon vorbei und bildeten ein gigantisches Meer aus polnischen Fahnen, in roter Farbe abbrennender bengalischer Feuerwerke und laut krachenden Böllern. Während ich durchweg keinen einzigen Polizisten sehen konnte, der mir persönlich an diesem Tag ein Gefühl der Sicherheit gegeben hätte, wurden Plakate mit durchgestrichenen Moscheen oder Sprüchen wie „Kreuzzug für das Vaterland“ hochgehalten, durch Redner – die zum Teil auch von der omnipräsenten katholischen Kirche kamen – wurde gegen Flüchtlinge und Kommunisten gehetzt oder aber Angela Merkel aufgefordert ihre liberale Flüchtlingspolitik zu stoppen, mit der sie Europa in ein „KZ Europa“ verwandle. Jede Petry träumt wohl nachts von solch einem Aufmarsch.
Öffentliche fremdenfeindliche Parolen während eines Erstliga-Fußballspiels
Die Krönung von alldem fand jedoch nicht in Warschau, sondern während eines Ausflugs nach Breslau statt. Ich besuchte dort mit Freunden das Fußballspiel der ersten polnischen Liga zwischen Slask Breslau und Lech Posen. Dieses wurde in den ersten zwanzig Minuten von den Breslauer Fans mit einem die gesamte Tribüne abdeckenden Banner begleitet. Was sich zuerst nicht sonderlich spektakulär anhört, ändert sich, wenn man einen Blick auf das Banner geworfen hat und verstand, was dort abgebildet war. Zu sehen war Europa, auf dem ein großer Kreuzritter stand. Sein Schwert hielt er in Richtung Mittelmeer – dort waren Flüchtlingsboote zu sehen, mit Aufschriften wie „U.S.S. ISIS“ oder „U.S.S. Hussein“. Die Parolen „Wir stehen hier um Europas Christentum zu verteidigen“ und „Gegen Islam in Europa“ vollendeten das Banner, welches übrigens in der zweiten Halbzeit des Spiels von Jugendlichen als Sticker unter allen Zuschauern verteilt wurde. Proteste gab es keine.
Auch wenn in der deutschen Ultra- und Hooliganszene immer wieder unschöne, rechtsradikale Dinge geschehen, kann ich mich nicht daran erinnern, dass in den letzten Jahren in der Fußball-Bundesliga mit offensichtlicher Billigung eines Profivereins ein solches Gedankengut öffentlichkeitswirksam verbreitet wurde.
Die nationalkonservative PiS in Polen die Macht übernommen
„Als müsse sich die Welt nach marxistischem Vorbild automatisch in nur eine Richtung bewegen – zu einem neuen Mix von Kulturen und Rassen, eine Welt aus Radfahrern und Vegetariern, die nur noch auf erneuerbare Energien setzen und gegen jede Form der Religion kämpfen. Das hat mit traditionellen polnischen Werten nichts zu tun.“.
Der neue polnische Außenminister Waszczykowski hätte die gesellschaftspolitische Ausrichtung seiner seit November letzten Jahres mit absoluter Mehrheit regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) in einem Interview mit der Bild vor einigen Wochen wohl nicht besser zusammenfassen können. Nach acht Jahren unter liberal-konservativer Führung der Bürgerplattform (PO), hat die nationalkonservative PiS in Polen die Macht übernommen, mit dem Ziel, den polnischen Staat von seinen „liberalen Krankheiten zu heilen“. Um dieses Ziel zu erreichen, bauen Präsident Duda, Ministerpräsidentin Szydlo (beide PiS) und PiS-Vorsitzender Kaczynski das Land nun seit einigen Monaten radikal um. Kaczynski lässt auf zahlreichen öffentlichen Auftritten Polens alte Werte von nationaler Stärke, Souveränität und erzkatholischer Tradition aufleben, spaltet dabei die Gesellschaft in „gute Polen“ – womit er seine Anhänger meint – und Polen „der schlimmsten Sorte“, die „Kommunisten und Diebe“ seien – womit er jeden meint, der nicht seiner Meinung ist – und hetzt gegen arabischstämmige Flüchtlinge, die, seiner Meinung nach, Terrorismus und Krankheiten mit sich bringen.
Währenddessen verfrachten Duda und Szydlo das Verfassungsgericht per Gesetz de facto in die Arbeitsunfähigkeit, ignorieren dessen Urteile und befreien Medien und Kultur von „liberaler Propaganda“, indem öffentliche Rundfunkanstalten sowie Theateraufführungen unter direkte und unmittelbare staatliche Kontrolle gesetzt werden. Ganz nebenbei hängt Szydlo die Fahnen der Europäischen Union im Pressesaal der Regierung ab und verliest Pressemitteilungen nur noch vor polnischen Flaggen, um ihrer Ablehnung der von „politischer Korrektheit befallenen, linksliberalen“ EU-Politik Ausdruck zu verleihen und Polens, nach ihrer Meinung, zurückgewonnene Souveränität zu betonen. Mit europäischen Grundwerten wie Toleranz, Rechtsstaatlichkeit und kultureller Durchmischung hat das schon lange nichts mehr zu tun, was einige dazu bewegt – in Anlehnung an den ungarischen Ministerpräsidenten Victor Orbán, der seinen Staat ebenfalls in ein national-autoritär geführtes System gewandelt hat – von der Orbánisierung Polens zu sprechen. Wie kann eine solche Politik in einem Mitgliedsland der Europäischen Union, das seit über einem Jahrzehnt massiv von den EU-Strukturfonds profitiert, möglich sein? Was passiert da in unserem östlichen Nachbarland?
All die Erfahrungen, die ich gesammelt habe, kann man nun als Einzelfälle abstempeln, als unglückliche Aneinanderreihung von nationalistischen und rassistischen Zwischenfällen. Auch kenne ich Erasmus-Kommilitonen, die positivere Erlebnisse gemacht haben. Und viele Polen, mit denen ich gesprochen habe, konnten über die neue PiS-Regierung, wie auch über die gesellschaftliche Lage Ausländern gegenüber, nur den Kopf schütteln. Man sollte allerdings anerkennen, dass eine Partei wie die PiS – die, nach allem, was sie in den letzten Monaten veranstaltet hat, noch immer knapp 30% der Polen hinter sich versammelt – nicht grundlos an die absolute Mehrheit gelangt, dass Polen nicht grundlos europaweit das einzige Land ist, in dem keine sozialdemokratische beziehungsweise linke Partei im Parlament vertreten ist: 33% der polnischen Jugendlichen von 18 bis 24 Jahren schätzen sich selbst als rechts ein, wobei sich davon ein Drittel selbst als rechtsextrem bezeichnet. 55% der Polen sind gegen eine Aufnahme von Flüchtlingen aus Afrika und dem mittleren Osten. Wenn man momentan nach Polen sieht, sollte man sich nicht verwundert die Augen reiben, was die PiS-Partei veranstaltet. Wäre die AfD in Deutschland oder der Front National in Frankreich an der Macht, würden sie wahrscheinlich Ähnliches tun. Viel eher sollte man schockiert sein, welche gesellschaftliche Stimmung in diesem Land herrscht. Xenophobie und Rassismus, nicht nur gegenüber arabischstämmigen oder afrikanischen Flüchtlingen, sondern in gewissem Maße auch gegenüber Bürgern der EU, scheinen Teil Polens zu sein. Die richtige Frage, die man stellen sollte, ist also nicht, wie eine Politik, wie sie von der PiS vollzogen wird, möglich ist, sondern, wie eine europäische Gesellschaft nicht mehrheitlich, aber deutlich häufiger als nur stellenweise so anti-europäisch sein kann.
Vor einigen Wochen hat der polnische Finanzminister Szalamacha in einem Interview mit dem Handelsblatt bemerkt, Europa müsse wissen, inwiefern es sich im Zuge der Flüchtlingskrise kulturell verändern möchte. Das ist der falsche Ansatz. Es ist Polen selbst, das sich fragen muss, inwiefern „Polen den Polen!“ und Europäische Union zusammenpasst, ob es bereit ist, sich zumindest seinen europäischen Mitbürgern und Nachbarländern zu öffnen oder, ob es eine Nation ohne echte Minderheiten und eine Nation ohne europäische oder andere kulturelle Einflüsse bleiben möchte.
Autor: Louis Mourier