Psychische Diagnosen werden zu oft ihrer fachlichen Bedeutung entrissen und auf banale Alltagssituationen bezogen. Damit muss Schluss sein.
Sensible Sprache ist wichtig. Es ist gut und richtig, dass immer mehr Menschen anfangen, sich gendergerecht auszudrücken und rassistische oder ableistische Wörter aus ihrem Sprachgebrauch zu verbannen. Vor einigen Tagen hat auch der Online-Duden angekündigt, künftig alle Artikel über Personen- und Berufsbezeichnungen zusätzlich zum generischen Maskulinum um die weibliche Form zu erweitern. In Anbetracht der schon Jahrzehnte andauernden Diskussion um geschlechtergerechte Sprache ist dieser kleine Schritt ein Meilenstein.
Zu wenig Sensibilität
Im Kontext psychischer Erkrankungen ist der Sprachgebrauch vieler Menschen jedoch leider noch viel zu wenig sensibel. Häufig werden psychische Krankheitsbilder genutzt, um das eigene Empfinden und Erleben deutlich zu machen, ohne dass diese Krankheitsbilder auf den*die Sprecher*in zutreffen. Kurzzeitig auftretende schlechte Stimmung wird dann zur Verdeutlichung mit einer Depression gleichgesetzt, verwirrtes Denken oder Reden als schizophren bezeichnet und eine emotionale Achterbahnfahrt auf das Borderline-Syndrom geschoben. Im Falle einer tatsächlichen Erkrankung an der entsprechenden Störung ist das Reden darüber wichtig, denn es entstigmatisiert und schafft Begegnung, wo bisher Vorurteile und Ängste die Kommunikation erschwerten. Ist jedoch der*die Sprecher*in kerngesund und nutzt die Krankheitsbilder nur als sprachliche Bilder, so geschieht das Gegenteil: Stigmata und Vorurteile werden verstärkt und das Leid von Betroffenen bagatellisiert.
Ein psychologischer Fachausdruck unterliegt einem besonders häufigen Missbrauch: Der Begriff des Traumas. Er wird immer wieder verwendet, um das eigene Erschrecken über eine Sache, eine Person oder Situation zu verdeutlichen. Nicht selten findet er auch Gebrauch im Zusammenhang mit Stilfragen. So wird beispielsweise über den Stil oder die Kleidung anderer Menschen manchmal nicht nur Missfallen geäußert, sondern sie werden sogar als „traumatisch“ für die eigene Person bezeichnet.
Was ist ein Trauma?
Ein Trauma ist eine schwerwiegende seelische Verletzung, die durch Erfahrungen extremer psychischer Überforderung eintreten kann. Erlebnisse, die potenziell zu Traumata führen, sind zum Beispiel Gewalt- oder Kriegserfahrungen, Flucht und Vertreibung oder sexueller Missbrauch. Auch schwere Verkehrsunfälle oder Naturkatastrophen können Auslöser sein. Auf traumatisch erlebte Ereignisse folgt eine überwältigende Stressreaktion von Körper und Psyche, die oftmals eine angemessene Verarbeitung des Erlebten verhindert. In der Folge können Traumafolgestörungen auftreten, die sich häufig in Form von dissoziativen Beschwerden oder posttraumatischen Belastungsstörungen zeigen. Betroffene erleben dann beispielsweise in sogenannten „Flashbacks“ die traumatischen Erlebnisse immer wieder neu; entwickeln chronische Angst- oder Schmerzerkrankungen, Depressionen, Zwänge oder Schlafstörungen. Traumafolgen können sich auf unterschiedlichste Art und Weise manifestieren; alle sind jedoch mit großem und nicht selten lebenslangem Leid für die Betroffenen verbunden.
Unbedachter Umgang mit psychischen Diagnosen
Es ist augenscheinlich, dass zwischen dieser eigentlichen Bedeutung eines Traumas und dem oben beschriebenen Alltagsgebrauch Welten liegen. Die Bedeutung des Begriffs in diesem Maße aufzuweichen und ihn für alles zu verwenden, das den*die Sprecher*in auch nur irgendwie irritiert, schadet. Zum einen bedeutet es häufig eine besondere Verletzung für die Personen, die das angebliche Trauma hervorgerufen haben sollen. Wer möchte schon gerne bloß aufgrund seiner*ihrer Kleidung für die tiefe seelische Verletzung einer anderen Person verantwortlich gemacht werden? Zum anderen aber – und das ist viel schlimmer – wird auf diese Weise das Leid von Betroffenen klein geredet. Es wird missachtet, welchem Leid traumatisierte Personen ausgesetzt sind und der Eindruck vermittelt, es würde jede*r dauernd Traumata erleiden. Das ist ignorant und anmaßend.
Psychische Erkrankungen ernstnehmen
Woher kommt dieser unbedachte Umgang mit psychischen Diagnosen? Mangelndes Feingefühl und Unwissenheit des*der Sprecher*in sind sicherlich eine Voraussetzung dafür. Es wäre aber falsch, die Gründe allein auf der Ebene des Individuums zu suchen. Auch und besonders unser gesellschaftlicher Umgang mit psychischen Krankheiten muss in die Verantwortung genommen werden. Viele Störungsbilder gelten leider noch immer nicht als das, was sie sind: Ernsthafte und häufig lebenslange Krankheiten. Psychische Erkrankungen sieht man den Betroffenen in der Regel nicht an, weshalb ihre Bedrohlichkeit häufig unterschätzt wird. „Es ist doch bloß in deinem Kopf“, oder „Du willst es nur einfach nicht genug“ sind Beispiele für Sätze, die fast jede Person mit psychischer Erkrankung schon einmal gehört hat. Sie spiegeln die gefährliche und immer wieder replizierte Logik wider, die da lautet: Wenn ich dein Problem und dein Leid nicht sehen kann, dann existiert es nicht.
Ein Hohn für Betroffene
Auch deshalb müssen psychische Krankheiten endlich den gleichen Stellenwert erhalten wie physische. Die (Un-)Sichtbarkeit einer Erkrankung entscheidet nicht über ihre Ernsthaftigkeit, ihre Gefährlichkeit und ihren Behandlungsbedarf. Gleichzeitig sollten wir aufhören, psychische Krankheitsbilder ihrem Sinnzusammenhang zu entreißen und sie auf völlig unpassende alltägliche Situationen zu beziehen. Eine Depression ist mehr als schlechte Stimmung und eine Borderline-Störung mehr als ein unerwarteter Gefühlswechsel. Klar definierte Diagnosen sprachlich aufzuweichen ist ein Hohn für Betroffene und stützt das geltende Narrativ von psychischen Erkrankungen als Krankheiten zweiter Klasse.
Sprache schafft Realität
All jenen, die nun augenverdrehend vor dem Bildschirm sitzen und sich fragen, ob „das jetzt nicht etwas übertrieben ist, schließlich weiß doch jede*r was gemeint ist“, sei gesagt: Sprache schafft Realität. Es weiß auch jede*r, dass Politiker und Moderatoren sowohl weiblich, als auch männlich sein können und dennoch führt die Nutzung des generischen Maskulinums vorwiegend zu Assoziationen von männlichen Vertretern dieser Berufe.¹ Bei sensibler Sprache geht es nicht um Wissen. Es geht um eine angemessene Darstellung der Wirklichkeit. Und es geht um Empathie mit denen, die von dem Gesagten ganz persönlich betroffen sind.
¹Quelle: Sonnenmoser, Marion: Psychologie Heute, Februar 2002
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