„Die Flasche dreht sich. Ich weiß, dass das nicht gut ausgeht. Ich würde jetzt gerne aufstehen und gehen, aber das kann ich nicht. Ich könnte ja so tun, als wolle ich mir nur ein Bier holen und dann einfach wegbleiben. Es tauchen dauernd neue Leute auf, die ein Bier in der Hand halten, ich muss mich beeilen, sonst ist keins mehr da, also auch kein Vorwand. Ich wette, die Flasche bleibt bei Sandor stehen. Wenn nicht jetzt, dann später. Sandor, der schöne Sandor, der selbst nur matt spiegelnde Gegenstände wie Löffel oder Fotorahmen benutzt, um darin kurz ein Blick auf sich selbst zu werfen. Maggie, die gedreht hat, überlegt sich inzwischen schon etwas teuflisches, das er sagen oder machen soll. Sandor wird Kris, die genau neben ihm sitzt, ganz aus den blonden Strähnchen zu bestehen scheint mit denen sie dauernd spielt und hoffnungslos in ihn verliebt ist, unweigerlich das Herz brechen. Hmmh, vielleicht hat er’s ja mitbekommen und verhält sich sensibel. Hmmh. Vielleicht bildet sich auch spontan eine Zeitschleife und die Flasche dreht ewig weiter. Wer weiß.“
Peter steht auf und sagt: „Ich geh mir mal ein Bier holen.“ „Ist keins mehr da“, ruft ihm jemand zu. „Ok“, Peter denkt kurz nach, „dann geh ich mal eben auf die Toilette.“ Mit den unsicher-sicheren Schritten eines Lügners geht er zur Badtür, die blöderweise in Sichtweite des Trau-Dich-Oder-Bekenne-Kreises ist. An dieser hängt ein Zettel: „Beeil Dich – Zeit ist Geld“. Peter klopft. Keine Antwort. Er drückt die Klinke. Zu. Er blickt zur Flasche, die sich immer noch dreht. „Ich probier mal das Bad unten“, sagte er, zeigt nach unten und geht in den Garten. Im Zettelbad ist indes Kasia, die seit zehn Minuten (ihre Konfirmierungsuhr, zerkratzt, doch geliebt, zeigt elf an) schon an der Innenseite der Türschwelle steht. „Ist es möglich, dass ich je das Waschbecken erreiche?“, denkt sie, „ich stehe jetzt hier und das ist alles.“ Die Musik draußen erreicht Kasia nicht. Als man auf der Wippe noch hoffen konnte, irgendwann so hoch zu wippen, dass man die Wolken berührt, hat Kasia versucht so schnell in den Spiegel zu schauen, dass sie sieht, wie er wirklich aussieht, aber bis auf ein paar wenige Male ist es ihr nicht gelungen. „Ich weiß wie der Raum jetzt aussieht, ich weiß, wie ich mich jetzt fühle, welches Wetter draußen ist, wessen Geburtstag heute gefeiert wird. Doch der ganze Rest ist so weit weg, dass er eigentlich nicht weit weg ist, sondern zu einer ganz anderen Welt gehört. Wenn ich bis zum Morgen eine Hausarbeit fertig machen muss, so ist das viel zu wenig Zeit, wenn ich aber um drei Uhr morgens innehalte ist es, als sei für alle Ewigkeiten drei Uhr morgen. Ist es möglich, dass ich jemals mit dem Studieren fertig bin? Ist es möglich, dass ich jemals heirate, wirklich erwachsen werde, richtig arbeiten werde, sterbe? Kasia – wer ist das? Eine Sammlung von Glukose- und Eiweißketten, die heute Abend zu viel oder zu wenig getrunken hat und sich jetzt dumme Gedanken macht.“ Und dann, nach einer Weile: „Ich geh mal zu Zach.“
Zach, Kasias handsome devil, der sich seit einem Monat nicht mehr weigert, mit ihr zusammen zu wohnen, liefert sich gerade im Garten mit Jarjar einen Showkampf. Als die Geburtstagsgesellschaft erfuhr, dass die beiden sich vom Ringen kennen, bestand sie darauf, dass sie sich prügeln. Der Alkohol, der angenehm in ihren Venen peitscht und das selige Unwissen, dass sie die Grasflecken auf ihrer Kleidung nie, aber auch wirklich nie wieder herauskriegen, ergehen sie sich in Hebeln und Griffen. Die beiden Kämpfer bewegen sich sehr schnell – die faszinierten Zuschauer nehmen zwischendurch nur ein einziges verknotetes Körperding war. Dabei wissen sie, was der andere tut, bevor er es tut. Jarjar weiß, wo Zachs Hand, sein Wurf, seine Finte landen, wo sie ansetzen wird. Während sie ringen, nehmen sie Minuten nicht durch das schmale Fenster des Bewusstseins wahr, sondern durch und in den Bewegungen, die sie ausführen. Erst später wird Zach sich daran erinnern, dass ihm der lehmige Geruch des Bodens auffiel, als Jarjar ihn im Haltegriff hatte.
Peter schaut ihnen einen Augenblick zu, nippt dann an seinem Weinglas, hofft, dass Jarjar sein T-Shirt auszieht. Als er es nicht tut, stellt Peter sich zu einer Gruppe von Erstsemestern, die Mickey um sich gescharrt hat. Mickey hat unheimlich tief einliegende Augen und flechtet sich Zöpfe in seine langen Haare und seinen Bart. „Manchmal hört man ja“, erzählt er und versucht ohne Erfolg seinen Blick von einem Sommersprossen-Ausschnitt neben ihm zu lösen, „dass jemand „Chronometer“ sagt, wenn er Uhr meint. Meistens um sich wichtig zu machen. Das kommt jedenfalls von Chronos, dem Gott der Zeit. Die Griechen hatten genauer genommen zwei Götter der Zeit: Chronos und Kairos. Dabei ist Chronos Gott der großen Zeit, der Zeit, die man mit Uhren und Kalendern messen kann. Kairos dagegen ist der Gott der kleinen Zeit, beziehungsweise der gelebten Zeit. Später wurde Chronos zunehmend mit Kronos, dem Titanen und Chef des alten Göttergeschlechts verwechselt. Kronos fraß seine Kinder. Wenn man das jetzt zurückdenkt, kommt man zu der ganz interessanten Vorstellung, dass die Zeit ihre Kinder frisst. Wo hört das auf? Irgendwann gab Kronos’ Gattin ihm einen Stein zu essen, an dem er sich verschluckte und alle Kinder wieder hervorwürgte.“ Mickey selbst hört indes seinen eigenen Chronometer immer lauter Ticken. In absehbarer Zeit muss er mit Studieren fertig werden. An ihm nagt wie ein digitaler Virus an der Windowsuhr das Gefühl, seine Zeit vergeudet zu haben. „Kann man das vergleichen mit dem indogermanischen Zeitverständnis, das im Gegensatz zum semitischen steht?“, fragt ein vogelhaftes Mädel mit ungewöhnlich schönen Ohrläppchen. Mickey schürzt die Unterlippe, wie immer wenn er nachdenkt. „Das weiß ich jetzt nicht genau. Aber frag mal Barlo, ich glaub, der hat mal eine Hausarbeit darüber geschrieben.“
Barlo sitzt auf dem Bett der Geburtstätigen, Hannah. Irgendwann im Laufe des Abends war ihm danach, in Hannahs Zimmer zu gehen. Es war für die Jacken vorgesehen und in regelmäßigen Abständen kam jemand rein, sagte „Huch!“, sah sich aus den Augenwinkeln nach der zu erwartenden zweiten Person um und war verwirrt, dass er niemand antraf. Barlo war seit knapp einem Jahr nicht mehr hier, nämlich so lange wie Hannah ihren neuen Freund hatte. Erst nachdem sie diesen abgeschossen hat, war Barlo bereit, sie besuchen zu kommen. Nun sitzt er auf ihrem purpur bezogenem Bett und lässt das Zimmer auf sich wirken. Er stellt fest: „Dass Bett ist immer noch das gleiche, der Schrank auch, ebenso die Vorhänge. Neuer Schreibtisch oder zumindest die Platte. Mehr Bilder an den Wänden. Die Fotos von unserem Spanienurlaub hängen immer noch.“ Letztes lässt Barlos betont dunkles Herz heller schlagen. Während von außen „All good things“ ertönt, bewegt Barlo sich seitwärts: „Was wäre, wenn ich damals nicht so geschimpft hätte, wegen ihrer Vergesslichkeit, wenn ich mit ihr auf diesen blöden Ball gegangen wäre, wenn ich den Ring nicht verloren hätte. Wären wir noch zusammen? Würde ich dann jetzt in diesem Zimmer sitzen? Wären wir glücklich?“
Barlo, Barlo der Krebs, geht raus und setzt sich zu den Flaschendrehern. Die Flasche macht gerade noch eine halbe Umdrehung und bleibt dann bei Sandor stehen. Jemand sagt ihm: „Küsse das schönste Mädchen im Raum!“ Sandor sieht sich aufmerksam um, streicht sich durch sein gelocktes Haar und steht auf. Er hat noch keinen Schritt getan, als Kris auch aufsteht, „Entschuldigt mich“ murmelt und wegläuft. „Idiot!“, zischt Zuzu, die Kris gerade erst aus ihrer letzten Krise gerettet hat (und jetzt eine neue befürchtet) und läuft ihr nach. Sandor sieht aus wie ein Hund, der unbegründet angeschrieen wurde. Zuzu glaubt, Kris sei im Garten, kann sie dort aber nicht finden. „Hast du Kris gesehen?“, ruft sie Nick zu, der neben einem Mädel, das sie nicht kennt, auf einer Decke beim Feuer liegt. „Ich glaube, die wollte nach Hause“, antwortet er. „Mist!“, denkt Zuzu sich.
Es heißt, wenn man sehr glücklich ist, fliegt die Zeit, rinnt durch die Finger wie Sand. Auf der hellbraun-braun-gestreiften Decke liegen zwei Zigeuner, Bewohner eines kärglichen Felsens am Rande des Universums. Die Nacht erreicht gerade ihr Erwachsenenalter und gibt sich großzügig. Aus einer Box, auf der sechs halbvolle Flaschen stehen, schallt „Forever young“. Angelika, die Nick Lika nennt, strahlt: „Oh, ich liiieeebe dieses Lied!“ Dabei steht sie auf und fängt an zu tanzen. Das Feuer wirft seine Schatten auf sie. Nick betrachtet ihre selbstvergessenen Bewegungen, ihr hin-und-her-wirbelndes Haar (ungekämmt nach Rabenart), ihre nackten fin-de-siècle Knöchel und überlegt, ob sie gerade vielleicht nur für ihn tanzt. Vielleicht stimmt das ja doch nicht, das mit dem Verfliegen der Zeit. Vielleicht bleibt sie manchmal stehen.
Martin Gierczak