Einen Sonntag lang, in einer hessischen Regionalbahn mit zwei Wagen und 125 Sitzplätzen, habe ich die Lokführer und die Zugbegleiter als Praktikant oder Train-ee (purer Bahnwitz!) bei ihrer täglichen Arbeit begleitet. Von Schwarzfahrern über einen unfreiwilligen Fahrgast, den wir ausversehen mitgenommen haben, über Zugausfälle bis hin zu einem Polizeieinsatz war alles dabei.
Manche Menschen nutzen das Schöne-Wochenend-Ticket oder das Quer-durchs-Land-Ticket, um stundenlang mit dem Regionalverkehr durch Deutschland zu tingeln. Ich habe das Gegenteil getan und einen ganzen Tag im selben Zug verbracht und einiges erlebt. Dienstbeginn war um 06:00 Uhr in einer hessischen Kleinstadt, Startpunkt der Dreieichbahn in Südosthessen, einer eingleisigen, nicht elektrifizierten Bahn mit 23,5 km Strecke und elf Stationen, Fahrzeit nur ca. 30 Minuten.
In aller Frühe ging es erst mal gemütlich los: Zug aufschließen, Heizung einschalten, einrichten. Dann eine kurze Einweisung, wie ich mich zu verhalten habe und worin meine Aufgaben während des Tages bestehen, dann bekam ich noch ein Umhängeschild, um mich zu offiziell auszuweisen. Immer ganz entspannt agieren, frei im Zug bewegen, nicht zu aufdringlich werden und wenn es Stress gibt, immer in der Nähe bleiben und Präsenz zeigen und deeskalierend wirken, so meine Anweisungen zusammengefasst.
Dann stiegen die ersten Fahrgäste ein, mit einem Fahrradfahrer kam ich ins Gespräch, er war gerade auf dem Weg zur Arbeit, einem Wachjob in Frankfurt. Nach meiner Aufgabe gefragt erklärte ich ihm, dass ich den ganzen Tag mit dem Zug fahren werde. Die nächste Frage war, wie es denn mit der Arbeitszeitregelung aussehe, wenn man von morgens 6 Uhr bis nachts 24 Uhr arbeite. Ich antworte, so was gelte für mich nicht, ich sei Praktikant. Außerdem hätte ich bei jeder Zugwendung je eine halbe Stunde Freizeit. Schließlich wünschte er mir noch einen schönen Tag, denn er verließ den Zug schon nach zwei Stationen. Auf der ersten Fahrt war die Anzahl der Fahrgäste mit fünf noch recht überschaubar
So wenig Fahrgäste seien noch kein Grund, sofort kontrollieren zu gehen, meinte der Zugbegleiter Hermann; erst mal ruhig in den Tag starten war seine Devise. Hermann fährt in der Regel nicht auf dieser Strecke, sondern ist in größeren Zügen in Hessen unterwegs. Dieser Job am Sonntag sei einmal ein willkommener Anlass, es ruhiger angehen zu lassen. Dies bemerkte ich auch, als eine Familie noch am Fahrkartenautomaten stand als der Zug bereits einfuhr. Lokführer Peter rief der Familie zu, sie solle erst mal reinkommen, Tickets könne sie auch im Zug kaufen, man wolle jetzt abfahren. Was für ein Service, dachte ich mir, sonst fahren Züge eher gnadenlos pünktlich ab. Hermann saß noch gemütlich in der 1. Klasse, der Stammplatz aller DB Mitarbeiter, die Ruhe brauchen. Als ich mich wieder zu Peter in die Kabine vorne setzen wollte, beauftragte er mich doch zum Zugbegleiter Hermann zu gehen und ihm zu sagen, dass er der Familie noch Tickets verkaufen solle.
Auf manchen Strecken kleinerer Züge, z. B. Lüneburg-Lübeck, gibt es mittlerweile gar keine Zugbegleiter mehr. Das wurde auch in meinem Zug versucht, jedoch entstanden laut Hermann so Schwarzfahrerquoten von ca. 70%, weswegen seit Juli wieder den ganzen Tag Zugbegleiter eingesetzt würden. Diese Maßnahme hätte die Schwarzfahrerquote auf unter 5% gedrückt.
Schwarzfahrer
Immer wieder begegnen uns heute Schwarzfahrer. Die einen haben gar kein Ticket, die anderen ihre Zeitkarte vergessen oder ein falsches oder nicht gültiges Ticket. Der Erste hat seine Zeitkarte vergessen. Hermann teilt ihm mit, dass es 7 Euro Bearbeitungsgebühr koste, wenn er die Karte später vorzeigt oder aber er könne die kurze Strecke für drei Euro nachzahlen. Der Fahrgast sagt, er habe kein Bargeld dabei und werde die Zeitkarte später vorlegen, Ersparnis adé.
Der Nächste behauptet, der Automat sei kaputt, er nehme die EC-Karte nicht. Hermann schaut auf seinem Smartphone nach, ob es Fehlermeldungen aus den Automaten der Region gibt; das Smartphone zeigt in Grün zwei funktionierende Automaten am Bahnhof. Der Fahrgast möchte nun im Zug mit EC-Karte bezahlen. EC-Karte und Zugbegleiter, zwei Wörter, die noch nie gut miteinander konnten; Fahrkarten können nur Bar oder mit Kreditkarte erworben werden. Schließlich kommt es zur „Fahrpreisnacherhebung“, dem Fachwort für die Strafe von 60 Euro fürs Schwarzfahren, zahlbar per Überweisung oder Bar in einer Service-Stelle.
Eine sechsköpfige Familie samt Oma und Opa will einen Familienausflug machen. Leider hat keiner an einen Fahrschein gedacht, kurzerhand sagt Hermann entweder 4x Fahrpreisnacherhebung, denn Kinder unter 14 Jahren können keine Fahrpreisnacherhebung erhalten, oder jetzt sofort Ticket lösen. Hermann verkauft ihnen Tickets, obwohl er eigentlich auch alle hätte aufschreiben können.
Unfreiwillig produziert die DB aber auch selbst Schwarzfahrer.So steigt eine ältere Dame ein, geht zu Hermann und erzählt ihm, dass eine Person auf der Parkbank liegt und schläft, vermutlich sei da auch Alkohol im Spiel. Und dann sind die Türen schon zu und wir fahren ab. Dabei wollte die ältere Dame eigentlich gar nicht mitfahren, sondern nur Bescheid sagen. Hermann ruft seine Kollegin auf der Gegenrichtung an und teilt ihr mit, dass gleich noch jemand einsteigt der wieder kostenlos zurück fährt. Anschließend ruft er die Polizei, damit sie zur Sicherheit eine Streife schickt. Lebenszeitverlust für die Dame: 20 Minuten durch zwei unfreiwillige Bahnfahrten.
Brücke verzweifelt gesucht
An einer Station steht eine Rollstuhlfahrerin samt Begleitperson, die Suche nach der Brücke für die Überfahrt vom Bahnsteig in den Zug geht los. Es soll eine faltbare Brücke geben, aber diese befindet sich nicht am vorgesehen Ort vorne in der Fahrerkabine. Es wird jeweils in der einen Kabine gesucht und dann wieder in der anderen und wieder in der ersten, bis sie schließlich im Elektroschrank in der letzten Ecke, wo sie eigentlich nicht stehen darf, gefunden wird. Durch die Suche nach der Brücke haben wir nun schon sechs Minuten Verspätung. Einmal auseinandergefaltet, ist es kein Problem, die Rollstuhlfahrerin in den Zug zu bringen. Es geht weiter Richtung Dreieich mit acht Minuten Verspätung. Für den Anschluss an die S-Bahn sind jedoch nur vier Minuten Umstieg vorgesehen, unmöglich den Anschluss noch zu bekommen. Also telefonische Rücksprache mit der Transportleitung, ob die S-Bahn noch warten kann. Transportleitung sagt: Nein. Das Smartphone wird gezückt um zu schauen, ob die S-Bahn selber Verspätung hat. Schließlich fällt die Entscheidung, weil es draußen kalt und nass ist, dass die Rollstuhlfahrerin gerne im Zug warten kann, bis die nächste S-Bahn fährt, da wir in Dreieich eh Pause machen. Somit müssen weder sie noch die anderen Fahrgäste in der Kälte auf die nächste S-Bahn warten.
Tipp von Hermann: Man kann die gesamte Fahrstrecke vorab anmelden, damit Rollstuhlbrücken rechtzeitig herausgelegt werden können und pünktlich bereit liegen. Planung sei bei der DB alles.
Englisch ist eine Fremdsprache
In Deutschland spricht man Deutsch, so hält es auch die Bahn. Trotz aller verordneten Englischkurse für die Mitarbeiter, so wirklich können es die wenigsten. Also darf ich als Praktikant in allen Situationen, die mehr als ein „Your Ticket, please“ erfordern, vermitteln. Neben den Fahrplanauskünften und Informationen zu Anschlüssen gibt es auch Momente, die Fingerspitzengefühl verlangen. So reist eine junge Frau mit einem fünf Liter Benzinkanister, der auch ordentlich nach Benzin riecht. Ich habe die Wahl zwischen Russisch oder Englisch, wobei ich letzteres vorziehe. Ich erkläre ihr, dass es nicht erlaubt ist, gefährliche Güter, wozu auch Benzinkanister zählen, mit der Bahn zu transportieren. Obwohl ich schnell feststellen kann, dass der Kanister leer ist, ändert das nichts am Geruch und an den möglichen Flecken auf dem Boden. Bahn-Tipp für Profis: Auch leere Benzinkanister vor der Bahnreise von außen sauber machen.
Der nächste Fremdsprachler zeigt einen Ausdruck von einer Reiseverbindung und Ticketpreisen, alles kein gültiges Ticket. Ich soll das klarstellen. Also erkläre ich es detailliert und höre keinerlei Antwort. Fragen, ob man mich versteht, werden mit Blicken in den leeren Raum beantwortet. Schließlich die Frage „Do you have a ticket?“ und plötzlich wird die RMV Jahreskarte im Abo gezückt und vorgehalten. Mir stellte sich die Frage, ob das nicht gezielte Provokation war
Shake it Baby
Vollen Körpersatzeinsatz zeigten drei Jugendliche, die auf dem S-Bahnsteig in Dreieich-Buchschlag dem Snack- und Getränkeautomaten ordentlich zusetzten. Sie hängten sich an den Automaten und schüttelten ihn ordentlich durch, die Ware purzelte nur so herunter. Weit und breit war kein anderer Mensch zu sehen. Während der Pause war ich alleine am anderen Bahnstieg, habe also Notruf 110 gerufen, die Situation geschildert; ich solle warten, bis die Kollegen aus Neu-Isenburg kämen. Nach zehn Minuten war die Polizei dann da, aber die Jugendlichen schon über alle Berge. Wir sprachen noch kurz am Zug und ich erhielt die Nummer der Dienststelle zur Aufnahme meiner Aussage.
Zentrales Steuergerät, bitte kommen
Die erste Vollbremsung legten wir kurz nach Abfahrt aus einem Bahnhof hin. Das zentrale Steuergerät meldete mit einer tiefen Computerstimme „Störung“ und die Dienstanweisung sieht vor, sofort Halt zu machen und nachzuschauen, was los ist. Es fiel das erste Schimpfwort an diesem Tag. Anschließend ein paar Klicks, die unser Kutscher ins Steuergerät eingab, und es konnte weitergehen. Im Bordbuch wurde für die Werkstatt der Fehler vermerkt. Zuvor hatten wir schon einen anderen Mangel am Zug beseitigt: der Tankdeckel fehlte, scheinbar wurde nach dem Tanken vergessen ihn wieder aufzudrehen. Die Lösung: Ein „Tür defekt“ Aufkleber mit Gummiband fixiert und weiter gings.
Gegen Mittag kam unser neuer Fahrer, Bernd aus dem tiefsten Sachsen-Anhalt. Er wurde von der dortigen DB Regio nach Hessen verliehen, weil die bestellten neuen Züge in Hessen noch nicht da sind und aus Sachsen einige Züge nun vorrübergehend in Hessen fahren. Für Bernd ist das kein Problem, denn er hat zwar nur befristete Arbeitsverträge für halbe Jahre, verdiene sich nach eigener Aussage aber dumm und dämlich. Eine seiner Eigenarten war, ein kleines Radio mitzuführen, was nur zwei Sender empfangen konnte: HR1 und HR4, also Klassik oder moderne Musik, und die Lokführerkabine auf mollige 28 Grad zu heizen.
Bernd war in der Bedienung des Zuges erfahrener als Peter, denn er ging der Ursache nach dem Problem mit dem Steuergerät auf die Spur. So wälzte er in den Pausen das Handbuch, Baupläne und werkelte am Computer und Elektronik-Schrank herum. Schließlich kam er zu der Diagnose, dieser Zug werde bis heute Abend nicht mehr durchhalten.
Zur Tat schreitend beschloss Bernd also, wir müssten den Zug tauschen. Er informierte die Transportleitung. Bernd chauffierte den Zug von Siemens in die Werkstatt und holte sich einen neuen vom Parkplatz. Um wieder in den üblichen Rhythmus zu kommen, fielen zwei Verbindungen aus und es gab somit zwei Stunden Zwangspause.
Anschluss für dich
Auf unserer Verbindung lagen drei S-Bahnstationen, also versuchten wir so gut wie möglich, die Ankunft und Abfahrt mit der S-Bahn zu takten, damit die Fahrgäste ihre Anschlüsse bekommen. So schauten Kutscher und Zugbegleiter immer regelmäßig auf ihr Smartphone, um die Verspätung der S-Bahn zu erfassen. Insbesondere, da die Wartezeit auf den neuen Zug bei einer Stunde lag, war dies gerade in den frühen Morgenstunden oder abends wichtig. So warteten wir durchaus auch fünf Minuten auf die S-Bahn und entsprechende Zeit, bis die Fahrgäste vom anderen Gleis rüber kamen. Auf der vorletzten Tour kam erst die S-Bahn mit Verspätung und nur ein Fahrgast. Ich fragte ihn, ob er noch andere gesehen hätte, er verneinte . Ich sagte zum Kutscher, er solle noch eine Minute warten und tatsächlich kam noch eine junge Frau mit großen Koffer und war froh, dass wir noch nicht losgefahren waren.
Mit dreifacher Sicherheit
Eine ganze Stunde am Abend haben uns die Mitarbeiter von DB Sicherheit begleitet. Sie hatten einen Dienstplan mit einer Liste an Zügen, die für sie vorgegeben war. Bei uns einmal hin- und wieder zurück. Sie haben viel von ihrer Arbeit erzählt und wie häufig es Vorfälle in der Bahn gibt, gerade wenn es Abend ist und Alkohol mitspielt. Aber auch Jugendliche sind ein Problem, einige wollen einfach nur Macht demonstrieren und zeigen keinerlei Respekt gegenüber anderen. Alle Sicherheitskräfte haben die Schulung und Deeskalations-Trainings durchlaufen, haben jedoch auch Handschellen, Pfefferspray und Taschenlampen dabei. Irgendwie kamen wir zum Thema Suizid auf der Schiene. Ich berichtete von der Zahl von ca. 800-900 Vorfällen, die das Eisenbahnbundesamt bekannt gegeben hat, sie meinten es muss höher sein, weil nur in ihrem Zuständigkeitsbereich es fast täglich passiert und gerade in der Zeit vor und nach Festtagen vermehrt. Die Zugbegleiterin Petra erzählt vom letzten Jahr, wo es in ihrer Schicht zwei Mal passiert ist. Ich traue mich gar nicht zu fragen, wie es beim Zugführer ist.
Job für die Zukunft
Am Ende lasse ich den Tag Revue passieren. Ob der Job etwas für mich wäre? Wenn es nicht so schwierige Fahrgäste gäbe, die direkt, auf gut Deutsch gesagt, angepisst wären, dann ja. Heute aber wäre kein guter Tag gewesen. Sie kann meine Meinung gut nachvollziehen, man wird schon teilweise sehr eigenartig von den Fahrgästen angeschaut und es gibt wenig Anerkennung und Respekt. Insgesamt habe ich an diesem Tag sehr viel erlebt und es war gar nicht so ereignislos wie ich am Anfang dachte.
Autor: Christopher Bohlens
Hinweis: Die DB hat die Fahrtkosten sowie zwei Hotelübernachtungen bezahlt.