Antwortsuche in Seminar und Hörsaal. “What is love but the strangest of feelings?” Bei diesen Zeilen im Radio werden auch Wissenschaftler hellhörig. Die Band Razorlight stellt in ihrem Lied die gleiche Frage, wie sie auch Hirnforscher, Psychologen und Philosophen umtreibt. Ganz abgesehen davon, dass diese Frage auch im Alltag eine nicht unbedeutende Rolle spielt. Aber was ist Liebe?
Biologen nennen Botenstoffe, die beim Verlieben freigesetzt werden, Neurowissenschaftler Hirnpartien, die beim Liebesspiel aktiviert sind. Evolutionspsychologen suchen die Ursprünge der Liebe in der Entwicklungsgeschichte des Homo sapiens. Geisteswissenschaftler sprechen von kultureller Prägung und einem historischen Kontext unserer Vorstellung von Liebe.
Welche Disziplin hat Recht? Und wirken sich wissenschaftliche Erkenntnisse auf mein persönliches Liebesleben aus? Mit diesen Fragen beschäftigen sich derzeit die Erstsemester. Im fächerübergreifenden Leuphana Semester steht das Modul „Wissenschaft macht Geschichte“ unter dem Titel „Liebe. Zu Geschichte und Erscheinungsformen einer rätselhaften Emotion“. Die Veranstaltung besteht aus einer Ringvorlesung und Begleitseminaren, die aus einem breiten Spektrum gewählt werden können.
Annika, die sich an der Leuphana für Wirtschaftspsychologie eingeschrieben hat, besucht ein Seminar zu Sören Kierkegaards „Taten der Liebe“. Der dänische Theologe und Philosoph beschäftigte sich im 19. Jahrhundert mit dem christlichen Liebesgebot und trifft damit Annikas Interesse. Felix, Student der Kulturwissenschaften, interessiert sich mehr für die moderne Vorstellung von Liebe und ist begeistert von seinem Seminar über Liebe im Film. Er resümiert: „Mein persönliches Liebesverständnis wird durch das Modul erweitert. Andererseits kann man noch so viel über die Liebe wissen, anwenden kann man das deswegen immer noch nicht. Deswegen bleibt es spannend und romantisch“. Das Thema und die Seminare überzeugen, auch wenn die einzelnen Vorlesungen Jan und Alexandra, beide BWL-Studierende, weniger ansprechen.
Verantwortlich für die Lektionen in Sachen Liebe ist Christoph Jamme, Philosophieprofessor und Modulkoordinator für „Wissenschaft macht Geschichte“. Mit Univativ sprach er über die Ziele der Veranstaltung und erklärte was Wissenschaft zu einem Gefühl beitragen kann, dass jeder ganz individuell erlebt.
Univativ: Herr Jamme, wie kam es zu der Idee, eine Veranstaltung zum Thema Liebe zu machen?
Jamme: Das Thema Liebe zeigt, wie fließend die Grenzen zwischen Geistes- und Naturwissenschaften sind. Die Einzelwissenschaften können aber immer nur Teilbereiche erhellen. Das zeigt, wie wichtig unterschiedliche Perspektiven sind. Außerdem suchen wir natürlich immer Themen, die Studierende verschiedener Fächer ansprechen und was könnte auf breiteres Interesse stoßen als die Liebe?
Univativ: Wie passen Liebe und Geschichte zusammen? Ist sie kein universelles, überzeitliches Gefühl?
Jamme: Die Veranstaltung soll zeigen, dass Liebe auch ein historisches Phänomen ist. Die moderne Liebe, wie wir sie heute haben, ist ein relativ neues Konzept, das erst circa 200 Jahre alt ist. Eine rein auf Gefühlen basierende Ehe wäre man früher nicht eingegangen. Der scheinbar harmlose Satz „Ich liebe dich“ hat nicht nur eine Menge persönlicher, sondern auch historischer Voraussetzungen. Es ist spannend, diese Veränderung zu sehen.
Univativ: Kann man Liebe definieren?
Jamme: Die Auseinandersetzung mit dem Thema soll die Studierenden in ihrem normalen Verständnis verunsichern, sodass sie am Ende „Liebe“ nicht mehr so einfach unbelastet aussprechen, sondern merken, dass da eine ganze Menge an persönlichen, historischen, psychologischen und neurowissenschaftlichen Voraussetzungen mit verbunden sind. Jeder hat seine individuelle Definition, wenn er von Liebe spricht. Unterschiedliche Spielarten der Liebe reichen von Vaterlands- über Kinder- und Gottesliebe hin zur romantischen und sexuellen Liebe. Der Kontext ist entscheidend.
Univativ: Die Vorlesung beleuchtet das Thema Liebe zumeist aus künstlerischen Perspektiven. Macht Kunst Liebe erst greifbar?
Jamme: Zum einen wird sie in der Kunst greifbar, zum anderen erfahren wir aber auch etwas über die Spielarten der Liebe und über die historische Entwicklung. Bei Shakespeare wurde Liebe anders gedacht als in Goethes Werther, und erst recht als heute. Außerdem ist das Konzept von Liebe, das wir im Kopf haben, auch medial beeinflusst. Es kann schwer fallen, sich von Hollywood-Vorstellungen zu trennen. Unseren Alltag messen wir dann anhand dieser Konzepte, wenn wir uns fragen: „Liebe ich eigentlich den, der mir da am Frühstückstisch gegenüber sitzt? Müsste es nicht viel aufregender/schöner /harmonischer sein?“.
Univativ: Richard David Precht, Autor des Buches „Liebe. Ein unordentliches Gefühl“ und Gastdozent im Modul „Wissenschaft macht Geschichte“, hat in einem TV-Interview gesagt, die romantische Liebe habe in der heutigen Zeit als sinngebendes Element die Religion abgelöst.
Jamme: Bis ins 19. Jahrhundert haben die religiösen Bestimmungen dessen, was Liebe ist, eine große Rolle gespielt. Mit der Individualisierung wurden sie von einem Konzept abgelöst, dass auf persönliche Zuneigung gründete. Das hat es vorher so nicht gegeben. Damit wurde die Religion abgewertet, das Liebeskonzept auf der individuellen Ebene aber auch mehr belastet. Wenn alles bei Ihnen und Ihren persönlichen Empfindungen liegt, wenn Sie sich jeden Morgen fragen müssen, liebe ich die oder den noch, der mir da gegenüber sitzt, dann sind sie direkt in der aktuellen Diskussion über hohe Scheidungsraten, serielle Monogamie und so weiter. In früheren Jahrhunderten wurden Sie verheiratet und dann war es gut. Sie fragten sich nicht jeden Tag: „Liebe ich den?“ Es war eher schädlich, wenn sie Emotionen hatten.
Univativ: Kann Wissenschaft diese Belastung nur feststellen oder auch konkrete Ratschläge geben?
Jamme: Wissenschaft hilft über die Bedingungen von Liebe nachzudenken und die damit verbundenen Schwierigkeiten. Sie hilft, sich klar zu machen, dass diese Verunsicherungen, mit denen wir im Alltag zu tun haben, Ursachen haben. Das kann ja auch schon entlasten. Dann weiß ich, wenn ich eine Beziehung aufbauen will, dass ich mich nicht nur auf die Emotion Liebe verlassen darf, sondern auch andere Faktoren eine Rolle spielen. Oder ich habe Erklärungsmöglichkeiten, wenn eine Partnerschaft in die Brüche geht.
Univativ: Was ist für Sie persönlich Liebe?
Jamme: Abgekürzt würde ich sagen: Liebesglück ist harte Arbeit. Das Gefühl des Verliebtseins überfällt Sie in der Regel. Aber Liebe dauerhaft zu gestalten, erfordert Einsatz. Wir haben immer das Bedürfnis nach Ekstase und gleichzeitig nach Vertrautsein. Beide Gefühle bekämpfen sich. Da muss jeder einen individuellen Weg finden. Über diese Schwierigkeit, Liebe dauerhaft zu erhalten, und über Einflüsse auf unsere Vorstellung können die Wissenschaften ganz gut aufklären.
Von Michelle Mallwitz