Zeitenschwund

Wo ist unsere einfache Vergangenheit hin?

Wir geben Acht auf unsere Sprache. Sprache ist menschengemacht, weswegen wir (um ein Beispiel zu nennen) zunehmend ein großes Augenmerk auf eine gendergerechte Sprache legen. Bei aller Achtung auf Korrektheit in mündlichen und schriftlichen Ausführungen – Wo ist unsere einfache Vergangenheit hin? Horcht auf das Präteritum.


Zur Exaktheit im Schriftlichen und Mündlichen

Nicht nur das gendergerechte Sprechen/Schreiben, auch die Vielzahl von fachsprachlichen Ausdrücken aus den verschiedenen Disziplinen und Wissenschaften übermannt uns wie eine Flut. Zuweilen ist es schwierig den Überblick zu behalten, sich korrekt auszudrücken, niemanden mit Äußerungen zu diskriminieren. Gleichzeitig möchten wir uns exakt ausdrücken, auf den Punkt genau. Wir bedienen uns für Exakt- und Korrektheit an fachsprachlichen Termini, die – in Abhängigkeit des Begriffes – von Nichtfachangehörigen nicht selten im Duden nachgeschlagen werden müssen, um sie zu verstehen.

Bezogen auf Exakt- und Korrektheit sind wir auch auf der Suche nach präzisen Substantiven, Verben und Adjektiven, um Ereignisse, Situationen, Handlungen oder bloße Erzählungen auf den Punkt zu bringen. Was jedoch nicht auffällt ist der Wandel, der sich im Deutschen hinsichtlich der Zeitformen vollzieht: Wir sprechen kaum noch in der einfachen Vergangenheit. Doch wo ist unser Präteritum beziehungsweise Imperfekt geblieben? Während es in der gesprochenen Sprache nahezu gänzlich ausbleibt, findet es im Schriftlichen noch eher Verwendung. Woran liegt das?

Anzeichen und Ursachen des Sprachwandels

Beim Lernen einer neuen Sprache werden wir nicht nur mit dem Einstudieren von Vokabeln konfrontiert – auch die Zeiten mit ihren Konjugationen, Merkmalen und Signalwörtern werden uns eingehämmert. In unserer Muttersprache denken wir über den Gebrauch der verschiedenen Zeiten nicht nach, sprechen und schreiben so wie wir es für richtig oder in jener Situation für angemessen halten. Im Deutschen kommen wir daher fast nahezu mit der gesprochenen Gegenwart und dem gesprochenen Perfekt aus.
Bei der Ursachenfindung und Erklärungsansätzen zum Verdrängen des Präteritums handelt es sich um ein eigenständiges Forschungsgebiet in der Germanistik. Je nach Perspektive wird in der Germanistik von einem „Präteritumschwund“ oder von einer „Perfektexpansion“ gesprochen. Beide Forschungsgebiete beziehen sich auf denselben Prozess, jedoch aus verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet. Trotzdem bleibt die Frage offen, warum wir das Präteritum in der gesprochenen Sprache kaum noch einsetzen.

Interessant ist, dass sich der Schwund dieser Tempusform zunächst in südlichen Dialekten bemerkbar machte. So bilden beispielsweise das Schwäbische, Alemannische oder aber auch das Bairische das Kerngebiet des Präteritumschwunds (Fischer, S. 26 & S. 35). Wir können allgemein folgendes festhalten: „[…] in den süddeutschen Mundarten gibt es, von einigen Hilfsverben abgesehen, kein Präteritum […]“ (Ludwig, 1967, S. 118). Richtung Norden nimmt die Anzahl der präteritumbildenden Verben zu.

Zugleich zeigt sich der Sprachwandel auch in Abhängigkeit der Generationen (Fischer, S. 66). Während die älteren Generationen das Präteritum in Aktion treten lassen, schwindet der Gebrauch in den jüngeren Generationen.

Woran lag’s? Oder doch: Woran hat’s gelegen?

Der Schwundprozess betrifft zuerst die regelmäßigen und niedrigfrequentierten Verben (bitten, warten): „Je irregulärer und häufiger ein Verb ist, […] desto länger kann es Verdrängungsprozessen trotzen.“ (Fischer, S. 342-343 / beispielsweise finden, scheinen). Das ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass sich die Funktionen von Perfekt und Präteritum/Imperfekt überlappen. Ihre jeweiligen Gebrauchsbedingungen lassen sich nicht klar voneinander abgrenzen (Fischer, S. 63). In der Folge expandiert das Perfekt in unserem Sprach- und Schriftgebrauch, während das Präteritum verstummt.

Neben der Konfusion zu Funktionen und Gebrauchsbedingungen, gibt es einen wesentlichen Faktor, der das Perfekt erstarken lässt: seine einfache Bildung. Das Bilden des Perfekts ist weniger komplex. Mit der Konjugation deutscher Verben in der einfachen Vergangenheit stehen wir vor allem bei niedrigfrequentierten Verben ratlos dar und bedienen uns der Einfachheit halber der zusammengesetzten Vergangenheit. Außerdem bestehen im Deutschen nicht so strengen Zeitformen, wie etwa im Spanischen, Englischen oder Französischen (Aussage des Linguisten Herbert Genzmer).

In der geschriebenen Sprache ist das Präteritum weniger ganz verschwunden als in der gesprochenen Sprache. Wir verwenden es reichlicher in der Schriftsprache, da es sich eleganter liest und stringent anhört.
Und dennoch: der Exakt- und Genauigkeit wegen, sollten wir nicht nur im Schriftlichen auf die Verwendung der Zeitformen Acht geben. Mitunter bringt das Präteritum auch in der mündlichen Form Ereignisse, Situationen, Handlungen oder bloße Erzählungen auf den Punkt; mit der einfachen Regel, dass wenn wir in der einfachen Vergangenheit sprechen, Gewesenes meinen und Ereignisse beschreiben, die in der Vergangenheit abgeschlossen wurden. Mit dem Bestehenlassen des Präteritums im Schreiben und Sprechen vergewissern wir uns nicht nur der Exaktheit und Genauigkeit, sondern stiften andere zum Aufhorchen an, vor allem bei bedeutenden und gehaltvollen Angelegenheiten.

 

Weitere Informationen finden sich bei Fischer, Hanna (2018): Präteritumschwund im Deutschen. Dokumentation und Erklärung eines Verdrängungsprozesses. Berlin: De Gruyter.


Titelbild: © Eugene Shelestov auf Pexels

Merle Schütt

studiert Kulturwissenschaften und interessiert sich besonders für Sprache und Sport, kocht gerne und isst anschließend alles Süße, das ihr zwischen die Finger kommt.

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