Rund 1.400 Wissenschaftler:innen unterzeichneten im Zuge der pro-palästinischen Proteste an der Freien Universität Berlin einen kritischen Brief, der das Recht auf friedlichen Protest und Meinungsfreiheit betonte. Als Konsequenz für das Unterzeichnen des Briefs haben Teile des Bildungsministeriums (BMBF) offenbar erwogen, Fördermittel zu streichen. Das BMBF entließ die verantwortliche Staatssekretärin.
Auslöser dieser Entlassung war ein offener Brief, den inzwischen über 1.400 Lehrende unterzeichnet haben, nachdem Anfang Mai ein propalästinensisches Camp an der Freien Universität Berlin geräumt worden war. Die Unterzeichnenden äußerten sich nicht zur Situation in Israel, sondern betonten das Recht auf friedlichen Protest sowie die Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Acht Lehrende der Leuphana Universität Lüneburg haben diesen Brief ebenfalls unterzeichnet.
Interne Mails, die der NDR veröffentlichte, zeigen, dass die Hausleitung die Mitarbeitenden im Bildungsministerium um zwei Dinge gebeten hat: Eine »juristische Prüfung einer möglichen strafrechtlichen Relevanz der Aussagen im offenen Brief« und eine »förderrechtliche Bewertung, inwieweit vom BMBF förderrechtliche Konsequenzen (Widerruf der Förderung etc.) möglich sind.« Gemeint ist eine mögliche Bestrafung der Unterzeichnenden durch den Entzug von Fördermitteln.
Nachdem der Fall in der Presse landete und diskutiert wurde, zog das BMBF am 16. Juni Konsequenzen: Die Wissenschaftsfreiheit ist verfassungsrechtlich geschützt und Wissenschaftsförderung erfolgt nach wissenschaftlichen, nicht politischen Kriterien. Am 11. Juni 2024 wurde eine E-Mail publik gemacht, die eine Prüfung förderrechtlicher Konsequenzen für die Unterzeichnenden des Briefes erwog. Es wurde klargestellt, dass eine solche Prüfung tatsächlich erbeten wurde. Die Staatssekretärin Prof. Dr. Sabine Döring, verantwortlich für den Prüfauftrag, erklärte, dass sie sich missverständlich ausgedrückt habe. Diese Mail erwecke den falschen Eindruck, dass das BMBF förderrechtliche Konsequenzen auf Basis eines offenen Briefes in Erwägung zieht, was den Prinzipien der Wissenschaftsfreiheit widerspricht. Aufgrund des Vertrauensverlusts in das BMBF wurde die Staatssekretärin auf Bitte des Bundeskanzlers in den einstweiligen Ruhestand versetzt.
Situation an der Leuphana
Die Univativ fragte bei allen acht beteiligten Lehrenden nach:
A) Haben Sie seit Unterzeichnung des Aufrufs negative Konsequenzen jeglicher Art verspürt? B) Haben Sie derzeit selber Forschungsprojekte oder in Kooperation Forschungsprojekte, die vom BMBF gefördert werden? Wenn ja, wie lautet der Titel und wie hoch ist die BMBF-Förderung? C) Wie bewerten Sie das Vorgehen des BMBF? Könnten Sie hier zitierfähige Aussagen dazu geben.
Eine weitere mitarbeitende Person, die auf eine Namensnennung verzichtet, meldete sich und schloss sich der untenstehenden Meinung an.
Serhat Karakayali und Susanne Leeb antworteten gemeinsam, da wissenschaftliche Mitarbeiter:innen nicht unmittelbar von der Prüfung des Entzugs von Fördergeldern bedroht sind:
Zu A) „Wir haben, anders als andere Kolleg*innen, die von der Bildzeitung an den Pranger gestellt wurden, keine unmittelbaren persönlichen Konsequenzen verspürt. Die Diskussionsräume an der Leuphana sind offen. Allerdings sind wir natürlich über mediale Darstellungen wie Bild oder BZ oder Statements auf X (ehemals Twitter) entsetzt, die den Brief mit seinem Eintreten für friedlichen Protest in die Ecke des Antisemitismus stellen. Zur Erinnerung: Der Brief hatte sich nur auf das Hausrecht der FU als Grund für die Räumung bezogen und wurde verfasst, bevor es zu einer Eskalation kam. Da war noch nichts von Antisemitismusvorwürfen bekannt. Die Bundespressekonferenz zu diesem Brief hat viel geklärt im Hinblick auf Versammlungsfreiheit, Grundrechte etc. Negative Konsequenzen können sich in dem aktuellen politischen Klima gerade und vor allem für jüngere Kolleg*innen auswirken, etwa wenn ein Vertrag nicht verlängert würde wegen einer Unterschrift oder jemand erst gar nicht eingestellt wird. Das wäre nur nie aktenkundig. Das sind zumindest die Sorgen jüngerer und prekären Wissenschaftler*innen. Wichtig ist anzumerken, dass Bettina Stark-Watzinger auch stellvertretende Vorsitzende des Kuratoriums der VW Stiftung ist, einer weiteren insbesondere in Niedersachsen wichtigen Fördereinrichtung. Sollte es hier zu ähnlichen Versuchen kommen, wäre das eine klare Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit. Aber glücklicherweise wurde dieses Vorgehen ja bereits medial breit kritisiert.“
Zu B) „Serhat Karakayali ist stellvertretender Regional-Koordinator eines vom BMBF geförderten Netzwerks (https://www.winra.org/). Susanne Leeb hatte ein BMBF-Projekt (Promovieren im Museum 2017-2019). Künftige Förderungen wären, hätte das Ansinnen der Leitung des BMBF Erfolg gehabt, damit für uns ausgeschlossen gewesen, was einen Nachteil für uns als Wissenschaftler*innen im Hinblick auf Chancengleichheit bedeutet hätte.“
Zu C) „Wir würden nicht vom BMBF insgesamt sprechen, sondern von der Hausleitung. Denn die Arbeitsebene des BMBF hat ja die dringliche Bitte der Hausleitung sofort zurückgewiesen. Eine Prüfung auf Rückzug von Fördergeldern wegen eines Briefes, der Grundrechte verteidigt hat, ist ein Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit und in die Meinungsfreiheit. Die Hausleitung wollte Förderungen an Unterschriften knüpfen, obwohl der Brief für Grundrechte eintritt. Politisch so vorzugehen scheint uns gefährlich. Projektanträge dürfen in Deutschland nur nach rein wissenschaftlichen Kriterien vergeben werden. Zu erfahren, dass die Hausleitung solche Prüfungen angeordnet hat, macht deutlich, wie wichtig es ist, Wissenschaft vor politischen und staatlichen Einflussnahmen zu schützen. Dies gilt gerade und vor allem auch im Hinblick auf die gerade stattgefunden habende Europawahlen. Sehr problematisch sehen wir das hier zur Schau gestellte Lagerdenken, das sich Ministerin und die nun schon ehemalige Staatssekretärin unkritisch zu eigen machen und das in starkem Kontrast zu einer wissenschaftlich-differenzierten Haltung steht. Lagerdenken und Polarisierung sind typische Symptome eines mit Gewaltmitteln ausgetragenen Konflikts, in dem vermittelnde und differenzierende Position nicht mehr möglich sind und wo dann alles daraufhin abgeklopft wird, ob es der je einen oder anderen Seite zurechenbar ist. Differenzieren heißt aber, sagen zu können: Das Anliegen ist legitim, nicht alles, was die, die das Anliegen vortragen, äußern ist moralisch oder politisch richtig. Autoritäres Denken dagegen sträubt sich gegen solche Ambivalenzen, möchte vereindeutigen. Hierbei kommt es dann auch zu falschen Vereindeutigungen wie im Fall des Briefes. Problematisch erscheint uns das Vorgehen im Hinblick auf ein künftiges Klima an den Hochschulen. Die Ministerin für Bildung und Forschung hätte die Zuständigkeit, sich für die Hochschulautonomie einzusetzen, statt sie zu beschneiden. Ihr Vorgehen beschädigt den internationalen Wissenschaftsstandort Deutschland.“
Die anderen fünf Unterzeichnenden antworteten nicht auf die Anfrage der Univativ. Weitere Berichterstattung zum Thema:
- »Perfide«, »Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit«, »Gutsherrenart«
- Als Reaktion auf Kritik: Bildungsministerium wollte Fördermittel streichen
- Schweigen ist jetzt keine Option
- Nach Kritik von Hochschullehrenden soll Döring gehen
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