Wie Religionen entstehen

Die Menschheit hat im Laufe ihres Erblühens wohl tausende Religionen, Kulte und Sekten hervorgebracht; manche davon weit verbreitet und langlebig, andere nur von kurzer Dauer und regional begrenzt. Doch was braucht es für die Entstehung einer Religion? Die Antwort ist überraschenderweise: nicht viel.

Anhänger des Prinz Philip-Kultes / (C) Wikimedia Commons
Anhänger des Prinz Philip-Kultes / (C) Wikimedia Commons

Man möchte meinen, die Entstehung einer neuen Religion zu beobachten, sei unmöglich. Sind Religionen doch etwas Uraltes, über lange Zeit Gewachsenes und irgendwie nicht Greifbares. Natürlich gibt es neue Zweige bereits bekannter Religionen oder obskure Zwerg- und Personenkulte,  eine neue Religion konnte jedoch noch nie von ihrem Entstehungsprozess bis zum Untergang detailliert beobachtet werden.

Wären da nicht die Cargo-Kulte. Die Cargo-Kulte haben ihren Namen vom englischen Wort cargo für Frachtgut, wobei Cargo-Kulte nur ein Überbegriff ist für viele verschiedene, aber doch recht ähnliche religiöse Kulte in Melanesien, einer pazifischen Inselgruppe nordöstlich von Australien, zu der auch Papua-Neuguinea gehört.

Die Cargo-Kulte entwickelten sich im Laufe des Zweiten Weltkrieges. Interessant dabei ist, dass sich Cargo-Kulte unabhängig voneinander auf verschiedenen Inseln entwickelten, die sowohl geografisch, als auch kulturell weit voneinander entfernt waren. Austausch gab es also nicht. Die meisten von ihnen haben gemeinsam, dass die Angehörigen auf einen Messias warten, der ihnen am Tag des Weltuntergangs die „Fracht“ bringen wird. Dieser Messias, oft „John Frum“ genannt, soll laut einer Legende ein kleiner Mann mit hoher Stimme, ausgeblichenen Haaren und glänzenden Knöpfen gewesen sein, der Prophezeiungen aussprach. Ob John Frum jemals wirklich existiert hat, ist unklar.

Am Tag des Weltuntergangs sollen laut Ansicht der Anhänger alte Menschen wieder jung werden, Krankheiten werden geheilt und „die Berge werden flach zusammenfallen, und die Täler werden aufgefüllt.“ Letzteres hat Frum wohl genau so aus der Bibel (Jesaja 40, 4) geklaut – ebenso wie die Macher der Bibel wiederum selbst viel von älteren Religionen abgekupfert haben.

Einen der berühmtesten Cargo-Kulte, der zudem noch heute existiert, möchte ich hier exemplarisch vorstellen, inklusive Grund seiner Entstehung.

Wir schreiben das Jahr 1941. Ort: Die Insel Tanna, den Neuen Hebriden, seit 1980 Vanuatu, zugehörig. Die amerikanischen Soldaten – es könnten genauso gut britische Kolonialbeamte oder Missionare sein – leben ein entspanntes Leben. Sie verrichten keine, für die Inselbewohner als solche zu erkennende Arbeit, denn alles, was sie tun, ist hinter Schreibtischen zu sitzen, hohe Masten mit Drähten daran aufzustellen, in kleine Geräte zu sprechen, sobald Lichter daran blinken, oder sinnlos im Kreis zu marschieren. Daher ist für die Einheimischen klar: Dies müssen religiöse Handlungen sein, für die die Vorfahren – oder wahlweise ein Gott – die Weißen in regelmäßigen Abständen mit kostbaren Gütern belohnen.

Um zu beschreiben, was in den möglicherweise Köpfen der Inselbewohner vorgehen musste, passt ein Zitat des Physikers und Science-Fiction Autors Arthur C. Clarke: „Jede ausreichend hoch entwickelte Technologie ist von Zauberei nicht zu unterscheiden.“

Die Inselbewohner sahen also den Weißen dabei zu, wie sie wiederholt diverse Güter erhielten, ohne, dass sie sie selbst herstellten mussten und schlossen daraus: Die Fracht musste übernatürlichen Ursprungs sein. Sie begannen daher, die Weißen nachzuahmen. Nachdem die ersten Flugzeuge den Weißen Fracht gebracht hatten, rodeten die Inselbewohner sogar auf einem Stück der Insel das Buschwerk, bauten eine Landepiste und daneben einen Kontrollturm aus Bambus inklusive „Fluglotsen“ mit Kopfhörern aus Holz sowie Flugzeugattrappen. Dies alles sollte das Flugzeug des Messias John Frum anlocken – der zum Glück nicht kam, denn das wäre laut Kultideologie buchstäblich das Ende der Welt gewesen.

Die Entstehung des Kultes ist an dieser Stelle eigentlich abgeschlossen – und sie lebten glücklich mit den falschen Deutungen der Realität bis ans Ende ihrer Tage. Doch wie es bei Religionen so üblich ist, war auch der Cargo-Kult auf Tanna einigen Wandlungen unterworfen, die den wahren Entstehungsgrund immer mehr verwischten.

Nach einigen Jahren kam nämlich eine neue, aber nicht weniger falsche Lehre auf (ein Schelm, wer sich Neues Testament dabei denkt): John Frum sei König von Amerika. Da passte es gut zur Festigung dieses Glaubens, dass amerikanische Soldaten – unter ihnen auch Farbige, die trotz ihrer Hautfarbe ebenso übernatürlich mit Gütern versorgt wurden – auf Tanna auftauchten. Der neue Kult war gefestigt. Der Kult wandelte sich erneut, als das britische Königspaar die Insel besuchte. Rasch wurde Prinz Philip ebenso vergöttlicht wie John Frum und der Kult erlebte eine Renaissance.

Doch kein Kult ohne angeblichen Vermittler zwischen Götter- und Menschenwelt. In unserem Falle ein Oberpriester namens Nambas. Dieser behauptete fest, er spreche regelmäßig über „Funk“ mit John Frum, wobei das Funkgerät aus einer alten Frau bestand, die einen Draht um die Taille gewickelt hatte und in Trance sprach, was Nambas dann als Frums Aussagen deutete und übersetzte.

John Frum sollte an einem 15. Februar unbekannten Jahres wiederkehren. An diesem Datum versammeln sich noch heute Anhänger des Kultes, um ihn willkommen zu heißen. Dass er nie kam, entmutigte die Gläubigen nicht. Auf die Frage, warum sie denn (nach 19 Jahren) immer noch warteten, antwortete ein Anhänger: „Wenn ihr zweitausend Jahre auf Jesus Christus wartet, und er kommt nicht, dann kann ich auch mehr als 19 Jahre auf John warten.“

Was kann man also aus der Geschichte der Cargo-Kulte lernen? Aus diesem exemplarischen Beispiel über die Entstehung von Religionen kann man vier Schlüsse ziehen:

1. Kulte entstehen ungeheuer schnell.

2. Spuren des Entstehungsprozesses verwischen ungeheuer schnell.

3. Die menschliche Psyche ist sehr anfällig für solche Trugschlüsse – schließlich haben sich sehr ähnliche Kulte unabhängig voneinander entwickelt.

4. Religionen ähneln sich. Ebenso wie der Cargo-Kult war wohl auch das Christentum ein lokaler Kult, der, aus welchen Gründen auch immer, den Lauf der Zeit überstand.

Religionen können also auf erschreckend einfache Weise entstehen und selbst nach Ereignissen, die den Grundlagen des Glaubens widersprechen, bestehen bleiben. Aus einzelnen, mangels Verständnis als Wunder gedeuteten oder gar nie wirklich stattgefundenen Geschehnissen, entstehen Legenden, die ausgeschmückt und umgedichtet werden, bis ihr Ursprung vollkommen unkenntlich ist. Mischt man jetzt noch eine Prise menschlichen Wunderglauben hinzu, lässt alles von einem Prediger umrühren, der sich davon persönliche Vorteile verspricht, und stellt es einige Jahrhunderte in den Ofen: Voilà, eine neue Religion ist entstanden.

Autor: Ernst Jordan

Ernst Jordan

dont wait for me, if i care bout anything, anywhere losin myself, i get the stares what im lookin at, wasnt there (wasnt there)

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