Es war die größte Anti-Castor-Demo in der Geschichte Deutschlands: Bis zu 50.000 Menschen versammelten sich am 6. November in Dannenberg, um gegen Laufzeitverlängerung und Atommülltransporte zu demonstrieren. Doch dies war nur eine von vielen Aktionen, die anlässlich des zwölften Castor Transportes vom französischen La Hague ins niedersächsische Zwischenlager Gorleben stattfand. Hier berichten drei Lüneburger Studierende, wie sie die Proteste erlebt haben.
Eine Frau im Baum
Über den einsamen Feldern von Oldendorf in der Göhrde ist es lausig kalt. Zum ersten Mal hängt Rauhreif in den Gräsern. Wetterfeste AktivistInnen hüpfen, um nicht zu frieren. Nur das aufgebaute Zirkuszelt verheißt Wärme. Schwaden von heißem Tee ziehen. Ein verschwörerischer Blick streift die Runde. Heute soll der zwölfte Castortransport über die nahe gelegene Bahnstrecke nach Dannenberg rumpeln.
Plötzlich fährt ein Schrei durch die Menge. „Da sitzen Menschen im Baum!“ Die Gruppe eilt die Straße hinunter. Sie stellt sich dem spärlichen Verkehr entgegen. Sie besetzt den Weg. Ein klimperndes Gestell schiebt sie vor sich her: Es ist ein abgeliebter Krake aus Stoff und Toilettensaugnäpfen. Voller Bewunderung bleiben alle mitten auf der Chaussee stehen. Eine Frau erklimmt den Wipfel einer Linde.
Wenig später stehen Einsatzkräfte der Polizei neben uns. „Das ist eine unangemeldete Versammlung! Die Krake muss von der Straße verschwinden!“ Eine pensionierte Lehrerin protestiert. Sie trägt eine Mütze mit gehäkeltem gelbem Stoff-X. „Dann geben Sie uns schriftlich, dass es eine Spontandemo ist!“ Der Polizist mault. Er meldet am Sonntagmorgen nichts auf Kreisstraßen an. Die Hundertschaft wird größer. Sie drängt den Kraken von der Straße. Leider sitzt immer noch die Frau im Baum. Mittlerweile hat sie ein Anti-Atom-Transparent über die Straße gespannt. Sie hängt in den Seilen wie in einer hohen Schaukel. Ihre roten Haare wehen im Wind. Mit kindlichem Stolz blickt sie auf ihr Publikum hinab. Die bunte Gruppe applaudiert. Kinder erheben kreischend die Hände. Weiße Terrier bellen. Nervös murmeln die Beamten. Die Frau muss da raus. Doch sie schüttelt einfach lächelnd den Kopf. Entschlossen zücken Einsatzkräfte die Funkgeräte. Kurze Zeit danach rollt eine Hebebühne der Polizei über die Felder. Eine weitere Hundertschaft marschiert über den vereisten Asphalt. Eine angewachsene Menge umrundet die Alleebäume. Polizeikräfte drängen Protestwillige von der Straße: Die pensionierte Lehrerin und ihre beste Freundin pöbeln.
Plötzlich bricht der Schall von ratternden Motoren die kalte Luft. Die Masse dreht sich zur Brücke um, unter der die Bahnschienen entlangführen: Zehn grüne Traktoren mit wehenden Fahnen parken darauf. Herausfordernd lehnen zwanzig einheimische Bauern daran: „Wi wüllt den Schiet nich hem!“ Ihre Unterstützung jubelt. Missmutig stecken die Einsatzkräfte die Köpfe zusammen. Die Brücke ist verboten! Zeit vergeht. Eine weitere Hundertschaft marschiert in die Göhrde. Anschließend röhrt ein bestelltes Fahrzeug die Kreisstraße entlang: Trecker abschleppen. Die Bauern amüsieren sich. Mal was Anderes als Rüben auskriegen! Außerdem hängt immer noch diese kichernde Rothaarige im Baum. Eine letzte Warnung ergeht. Wenig später ist die Brücke frei. Schließlich kann sich die Masse ihrer Heldin widmen: Seit einer Stunde tut sie so, als würde sie hinabklettern wollen. Sie windet sich. Einer Spinne gleich, die ihr Netz spinnt, zögert sie. Einsatzkräfte umringen den Stamm des Laubbaums. Unter tosendem Applaus steigt die junge Frau hinab. Ihre Fans schützen sie. Drei Stunden später ist die Feldfeier vorbei.
Drüben bei Leitstade werden seit Stunden die Schienen geschottert. Von alldem wissen die Einsatzkräfte nichts. Gebannt haben sie die Show verfolgt.
Von Heike Hoja
(Langjährige Castor-Aktivistin)
Der Widerstand lebt!
„Sie haben sich ja gar nicht informiert“, sagte der Mann, als wir gerade zur Auftaktkundgebung nach Dannenberg fahren wollten. Was wir angeblich nicht wussten: „In Frankreich nutzen 80 Prozent der Leute Atomenergie. Dies ist ja auch total sicher. Außer Tschernobyl ist ja noch nichts passiert!“
Mit diesem Erlebnis im Kopf ging es zu der größten Demonstration, die es im Kampf gegen ein atomares Endlager ,, Univativ 64 · Januar 2011 · 7 TITEL in Gorleben jemals gegeben hat. Vor Ort kamen uns Tausende von Menschen auf dem Weg zum Demonstrationsgelände entgegen. 50.000 mal fröhlich, bunt und friedlich. Protest in seiner schönsten Form. Genau das selbe Bild bot sich auch am nächsten Abend in Harlingen, wo circa. 8.000 Menschen bei minus fünf Grad Celsius die ganze Nacht friedlich die Gleise blockierten. Bis zur Räumung gab es dort Chilli con und sin Carne, vegane Kürbissuppe von der Volksküche oder Decken und Kekse von Spendern. Bei der 50 Leute zählenden Schienenblockade kurz hinter Wendisch-Evern bei Lüneburg am Nachmittag zuvor hatte das irgendwie gefehlt.
Auf dem späteren Weg zum Zwischenlager Gorleben hatte die Bäuerliche Notgemeinschaft einmal mehr ihre ganze Kreativität gegenüber der Polizei gezeigt und quasi alle noch befahrbaren Straßen blockiert. Für Demonstranten gab es Schleichwege, die kein Polizei-Nachschub passieren konnte. Auf der Xtausendmalquer-Blockade vor der Straße zum Zwischenlager Gorleben, zeigte sich wieder der organisierte Protest: eigene Dixie-Klos, massenweise Stroh und leckere Volksküche inklusive selbstgebautem Pizzaofen. Was für ein Vergleich, wenn man an die Anfänge des Anti-Atom- Protests in Gorleben oder an den ersten Castor-Transport denkt.
Mit der durchweg friedlich verlaufenden Räumung durch die Polizei am nächsten Morgen endete dieser Castor-Protest für uns und viele andere, die mehr als zwei Tage auf der Straße von ihrem Grundrecht auf Demonstration Gebrauch gemacht haben.
Den Mann vom Anfang wiesen wir übrigens darauf hin, dass wir ein anderes Sicherheitsverständnis als er hätten und es weltweit immer noch kein sicheres Endlager gibt. Dieser ging dann schnell wortlos und kopfschüttelnd weiter. Er hatte sich wohl nicht informiert.
Von Lajos A. Rakow
(Seit 1996 im Anti-AtomWiderstand)
Protestieren will gelernt sein
Es ist kurz nach acht, in der Tagesschau zeigen sie Bilder aus Berlin. Atomkraftgegner rollen gelbleuchtende Fässer von LKWs und stapeln sie reihenweise vor dem Deutschen Bundestag. Meine Cousine sagt: „Wenn die mal wirklich arbeiten müssten, kämen sie nicht mehr auf solche Ideen. Die sollten erst mal was leisten und Steuern zahlen, bevor die auf die Straße gehen.“
Meine Cousine ist so alt wie ich. Sie arbeitet und leistet etwas fürs Bruttosozialprodukt. Ich studiere, werde von meinen Eltern finanziert und fahre diesen Herbst nach Dannenberg. Wenn ich meine Cousine richtig verstanden habe, ist das genau der richtige Ort für Leute wie mich.
Ich lade mein Auto voll mit einer Mischung aus Schönwetter- Demonstranten und langjährigen Castor-Gegnern. Je näher wir Dannenberg kommen, desto häufiger sieht man gelbe Kreuze am Wegesrand. Eine erfahrene Mitreisende sagt: „Die stehen da immer. Das ist nicht nur was für den Moment.“
Als wir Dannenberg erreichen und von Ferne die aufgereihten Polizeifahrzeuge sehen, kommt mir erstmalig der Gedanke, dass das hier ernst ist, dass Bilder, die ich sonst nur aus der Tagesschau kenne, mich wirklich betreffen. Es ist eine merkwürdige Begegnung mit der politischen Wirklichkeit. Über unseren Köpfen kreisen Hubschrauber, sie haben uns alle im Blick.
Das Kundgebungsgelände ähnelt stark dem eines Festivals. An den Ständen wird Bio-Bratwurst verkauft, es gibt Dixi- Klos und eine große Bühne, auf der Bela B. ruft: „Angela, du Biest, das ist für dich!“. Überall leuchten grüne und gelbe Flaggen – für die Grünen, die Republik Freies Wendland, die Anti-Atomkraft-Bewegung. Am Straßenrand steht ein abgehalfterter Rocker, der die Revolution ausruft und uns mit den Worten „Welcome to Castor Country!“ begrüßt. Es gibt Kinderpunsch von der kommunistischen Partei und ein Typ mit freundlichem Gesicht sagt: „Willste? Atomausstieg ist Handarbeit.“ Er drückt mir einen Zettel in die Hand, ein Aufruf zum Schottern – ein Wort, das ich bis zu diesem Tag gar nicht kannte.
Nach Polizeiangaben haben sich mehr als 20.000 Demonstranten auf den Weg Richtung Dannenberg gemacht. Glaubt man den Veranstaltern, sind es sogar 50.000. Auf mich wirkt die Menge sehr homogen, wie ein eingeschworener Kreis. Ich hatte erwartet, nach den politischen Beschlüssen der letzten Zeit hier mehr unterschiedliche Bevölkerungsgruppen zu finden. Ich hatte erwartet, mehr Leute würden begreifen, dass es sie etwas angeht. Und dennoch: der Applaus, die Pfiffe, die Zustimmungsrufe – das Gefühl von Gemeinschaft und Solidarität verbindet. Und da denke ich an meine Cousine und bin mir sicher, dass ich ihr doch einiges voraus habe.
Von Wiebke Melle
(Das erste Mal auf einer Anti-Castor-Demo)