Sind wir mal ehrlich: Solange es uns gut geht, sind uns die Armen egal. Uns reicht die Sensibilisierung für Armut vollkommen, wirklich etwas dagegen tun wird schon jemand anderes. Mit diesem Egoismus muss Schluss sein.
Alle Jahre wieder erscheint ein Armutsbericht. Alle Jahre wieder wird uns aufgezeigt, dass die Arm-Reich-Schere – dieser, in die Belanglosigkeit abdriftende Begriff – sich immer weiter öffnet. Und alle Jahre wieder stimmen die Medien ins Klagelied über die auseinanderbrechende Gesellschaft ein und beweinen die Armen, wahlweise die ebenfalls ärmer werdende Mittelschicht, denn die kauft ja die Zeitungen.
Doch ist das nicht, wie von der Grande Dame der Arbeiterlieder, Ernst Busch, besungen, der Krieg der Herrscher der Welt gegen die Arbeiterklasse. Es ist keine Verschwörung von ganz oben, wo nasal lachend mit Champagner auf die Unterdrückung der anderen angestoßen wird. Es ist der Krieg der Mittelschicht, der Egozentriker und der Hedonisten gegen die unteren Klassen und sich selbst.
Für das gute Gefühl regt sich eine längst von allen Nöten des Prekariats entfremdete Klasse auf, für die der übermäßige Verzehr von rotem Fleisch als weit größere Bedrohung erscheint, als Armut oder gesellschaftlicher Abstieg. Oder mit DCVDNS gesprochen: „Du machst dir keine Gedanken, solange die Nutella nicht nach Scheiße schmeckt.“
Und mit dem Denken an uns selbst, statt an Hilfsbedürftige, stehen wir auch in guter Tradition. Bereits unsere Väter und Großväter beschwerten sich über zu hohe Steuern und Uropa lamentierte darüber, dass die Versorgung einer*s Behinderten pro Tag so viel koste, wie die Versorgung einer ganzen gesunden deutschen Familie! Ein Skandal.
Wir, die Herrscher*innen der Welt, die Akademiker*innen und Wohlsituierten, haben längst keine Existenznöte mehr. Und da ist es ganz praktisch, wenn alle Parteien sich der Mitte annähern und für ebendiese arbeiten, womit die Unterschicht abgehängt und ausgeschaltet wird. So müssen wir nichts abgeben, von unserem vertraut und alltäglich gewordenen Luxus. Also warum sollten wir? Teile und herrsche gilt eben nur für die, die allein nicht herrschen könnten.
Oft hört man ja auch „Den Armen geht es doch gut“. Balsam für die geschundene Bürgerseele. Dabei sinkt die Lebenserwartung von Geringverdiener*innen zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg. Alle anderen werden selbstverständlich immer älter. Dazu ein kleines, ganz naives Zahlenspiel: Geringverdiener*innen sterben im Schnitt mit 75,5 Jahren, Bezieher*innen höherer Einkommen mit 83,4 Jahren. Das sind runde acht Jahre Unterschied. Und da statistische Durchschnittswerte viel schöner und eleganter sind als Einzelschicksale: Wie wäre es denn, wenn wir die Lebenserwartung von Geringverdiener*innen komplett angleichen, aber dafür etwa jedes zehnte Kind von Hartz4-Empfänger*innen von der Klippe schmeißen, wie es in Sparta gute Sitte war? Nein? Das wäre dann doch etwas zu inhuman? Statistisch gesehen nicht. Aber wir würden uns dann ja auch die Finger sichtbar und mit konkreten Taten schmutzig machen und nicht nur durch Nichtstun. Pfui bah.
Ich habe diese Heuchelei einfach satt. Entweder wir scheißen, auf gut Deutsch gesagt, auf die Armen und sagen: „Uns doch egal. Für mein Gewissen reicht taz-Lesen und hier und da mal ein Bio Apfel.“ und sprechen offen darüber, dass wir bei der Spendenwerbung mit den halbverhungerten Kindern wegschalten. (Das wäre wenigstens ehrlich.) Oder wir beklagen uns weiter über die wachsende Armut in Deutschland. Das hieße dann aber, dass wir auch liebgewonnene Meinungen über Bord werfen müssen.
Zum Beispiel das Denken Kapitalismus schaffe Wohlstand für alle, was heute schlicht nicht mehr stimmt. (Und ich sage absichtlich heute und nicht zu Wirtschaftswunderzeiten, in denen es noch sinnvoll war, immer mehr zu produzieren.) Keine Lobpreisungen auf die Agenda2010 mehr, höhere Steuern für die, die es sich leisten können, um damit sinnvolle Sozialleistungen sowie Bildung zu finanzieren und ein unbedingter Vorrang des Sozialen und Ökologischen vor der viel beschworenen „ökonomischen Vernunft.“
Autor: Ernst Jordan