Vipassana – Zehn Tage ohne Worte

Was tun in den Semesterferien, wenn die Klausuren stressen? Am besten: einfach mal die Klappe halten. Unsere Autorin erzählt von ihrem zehntägigen Meditationskurs.

Semesterferien sind zur Erholung da – ein weit verbreiteter Irrtum, dem ich jedes Jahr wieder auf den Leim gehe, bis ich dann urplötzlich mitten in der Prüfungsphase stecke. Und mir wünsche, mit dem Lernen doch etwas früher angefangen zu haben. Ist diese anstregende Zeit erstmal vorbei, habe ich manchmal noch einige Woche oder Tage Zeit, bis es dann wieder losgeht mit dem neuen Semester. Aber wie kann ich diese Zeit am besten nutzen? Backpackertrips oder Pauschalurlaub am Strand, Praktika oder Volunteerarbeit: es gibt viele Möglichkeiten. Und es gibt Vipassana.

Leises Rascheln ist das Einzige, was zu hören ist, während sich ungefähr 130 Leute schweigend zwischen den blauen Kissen auf dem Boden bewegen auf der Suche nach ihrem Platz. Nach wenigen Minuten kommen auch die letzten Geräusche zu Ruhe und wir sitzen im Schneidersitz in Decken gewickelt da. Die Silhouetten vor mir thronen im Dämmerlicht auf ihren Kissen. Sie wirken, als wären sie schon Buddhas und die Atmosphäre im Raum lässt mich erwartungsvoll auf meinem Platz hin und her rutschen.

 

Was ist Vipassana?

Vipassana ist die Meditationstechnik, die vor 2500 Jahren dem Buddha Gotama unter einem Baum in Bodhgaya im Bundesstaat Bihar, Indien zur Erleuchtung geführt haben soll. Zu seinen Lebzeiten und auch danach verbreitete sich die Technik in Indien und vielen der umliegenden Ländern. Doch irgendwann verschwand sie aus den Köpfen und dem Bewusstsein der Menschen und ging in ihrer reinen Form verloren. Überall? Fast überall, eine kleine Gruppe von Mönchen bewahrte das Wissen in Burma, dem heutigen Myanmar, durch die Jahrhunderte.

Dort kam der Industrielle Narayan Goenka erstmals mit Vipassana in Berührung und wurde zum Schüler des dortigen Lehrers. Als er es nach Jahren selber zum Lehrer brachte, trug ihm sein eigener Lehrer auf, das bewahrte Wissen einer alten Prophezeiung folgend wieder nach Indien, seinem Ursprungsland, zurück zu bringen.

Goenka gelang es nicht nur, Vipassana wieder in Indien zu etablieren, sondern er reiste zum Beispiel auch in die USA und gründete Zentren in der ganzen Welt. Seit zehn Jahren gibt es nun auch ein Zentrum in Deutschland, eine Anlage auf einem Buckel in der Nähe des winzigen Dorfes Triebel im tiefsten Sachsen.

Es ist auch Goenkaji’s Stimme, so die respektvolle Anrede, die uns an diesem ersten Abend über ein Tonband begrüßt und uns die Funktionen der fünf Regeln erklärt, die wir als neue Schüler*innen zu Beginn des Kurses während der Anmeldung akzeptiert haben. Goenkaji erklärt uns außerdem die Funktion der „edlen Stille“, dem Schweigegebot, das während der zehn Tage gelten wird.

Ja, richtig gelesen! Aber das Schweigen ist nicht die einzige Einschränkung, der man sich während des Kurses verschreibt. Auch Dinge wie Lesen, Schreiben, Musik hören, Sport – im Prinzip alles, was nicht Meditieren, Essen und Schlafen ist – dürfen wir nicht praktizieren. Hört sich zunächst ziemlich anstregend und langweilig an. Es folgt sofort die entgeisterte, ja empörte Frage, warum ich mich solchen Strapazen denn aussetzten sollte. Und es stimmt, es sind Strapazen. Wir sind so daran gewöhnt von unendlichen vielen Sinneseindrücken umgeben zu sein und uns mit beliebig verfügbaren Geräten, Medien oder Menschen ablenken zu können. Ein solches „Fasten“ stellt also eine ziemliche Herausforderung dar. Aber es ist eine,  die sich lohnt. Wir rennen bei jeder Kleinigkeit zu Ärzt*innen, Spezialist*innen oder unseren besten Freund*innen – das ist ja auch gut so. Wir können uns immer Hilfe holen, wenn man wir sie brauchen. Aber im Endeffekt ist der einzige Mensch, mit dem ich wirklich mein ganzes Leben verbringen werde, ich selbst. Sollte es da nicht möglich sein,  zehn Tage nur mit mir allein zu sein?

Die Technik

Die Technik selber besteht aus drei Teilen:  Moral, Kontrolle über den Geist und Weisheit.

Klingt als erstes etwas hochtrabend, aber das Schöne an Vipassana ist, dass uns die Lehrer*innen vor Ort das Ganze nicht nur erklären, sondern auch direkt praktisch beibringen. So praktisch, wie sie Spiritualität eben vermitteln können. Dabei stehen sie für Fragen und Kritik zu Verfügung.

Den ersten Teil erfüllen wir, indem wir uns an die fünf Regeln halten:

  1. kein lebendiges Wesen zu töten
  2. nicht zu lügen
  3. kein sexuelles Fehlverhalten
  4. nicht zu stehlen
  5. keine Drogen oder Alkohol zu konsumieren

Das klingt erstmal machbar, oder? Der grundlegende Gedanke ist eigentlich, das Leiden der Menschen zu beenden, indem ich lerne, im Augenblick zu leben. Das heißt konkret, weder in die Zukunft zu flüchten, noch an der Vergangenheit zu hängen. Buddha erkannte, dass wir auf alles, was uns passiert mit negativen Emotionen wie Abneigung oder Hass oder aber mit Sehnsucht reagieren. Wir belasten uns so mit Wünschen und Abneigungen, die wir nicht erfüllen können.

Was Vipassana mir beibringt ist, nicht intuitiv auf äußere Reize zu reagieren, sondern zu reflektieren, ob das Objekt meiner Begierde oder meiner Abneigung es überhaupt wert ist, die Energie und Zeit die es erfordert, aufzubringen. Wenn jemand mir etwas Negatives entgegen bringt, kann ich entscheiden, inwiefern ich darauf regiere – oder ob ich überhaupt reagiere. Wenn ich diese Negativität annehme und genauso laut zurück brülle, fülle ich mein Leben mit negativen Gefühlen. Ich verletzte mich selber mehr, als ich meinen Gegenüber verletzte.

Warum Vipassana?

Die meisten Sehnsüchte, die wir entwickeln, binden uns an Dinge, die vergänglich sind. Das sind oft kommerzielle Objekte, die nicht wirklich einen Einfluss auf unser Leben haben. Klar hängst du an deiner Lieblingsjeans aber macht es wirklich einen Unterschied, ob du diese oder eine andere Hose trägst? Vipassana macht uns auch die Vergänglichkeit aller Dinge bewusst und dass wir uns gut überlegen sollten, woran wir unser Herz hängen. Gerade durch die Vergänglichkeit erhalten sie ihren Wert. Um über diese Reaktionen entscheiden und reflektieren zu lernen, gibt es Vipassana.

Ein Highlight in den zehn Tagen: der abendliche Dhamma-Diskurs, bei dem Goenkaji per Video die Geschehnisse des Tages reflektiert und mit herzallerliebsten Anekdoten und Geschichten die Technik erklärt. Wie ein kleiner indischer Yoda in seinen Sarong gewickelt, sitzt er da und lächelt so liebevoll, dass du ihm all die Schmerzen und Langweile verzeihst, die du den Tag über ertragen hast. Eine weitere Erfahrung, die Vipassana bietet, ist der zehnte und letzte Tag, an dem das Schweigegebot außerhalb der Mediatationshalle aufgehoben wird und alle Teilnehmer*innen zum ersten Mal wieder sprechen können. Ein unbeschreibliches Gefühl, energiegeladen und intensiv. Man erlebt Interaktion und Kommunikation viel intensiver und bewusster als zu vor und trifft auf viele interessante Menschen.

Ich persönlich glaube weder an ein Leben nach dem Tod, noch an Wiedergeburt oder ein Nirvana. Aber ich nutze die Zeit, um zu mir zu finden oder all die Gedanken zu Ende zu führen, die ich im Alltag nicht zu Ende denken konnte, weil neue Sinnesreize mich überwältigten. Und ich nutze sie, um in der Langweile Kreativität zu finden, mich mit mir selber und alten Erlebnissen auseinanderzusetzen. Manchmal kommen dabei sehr unangeneme Erinnerungen hoch, die ich erneut durchlebe, aber danach ruhen lassen kann. Oder es ploppen kleine Gedanken oder nur Fragmente von Erinnerungen auf. Sie sind zu klein, als dass ich sie vorher groß beachtet hätte, aber so schön, dass sie mir jetzt die Tränen in die Augen treiben. Dann lasse ich sie gehen. Es ist anstregend nichts zu tun haben, anstrengend, sich nicht ablenken zu können und sich nur mit den eigenen Gedanken beschäftigen zu können. Aber es kann sich lohnen, denn ich weiß jetzt, dass ich es schaffe, zehn Tage auf mich selber zurückgeworfen zu sein.

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Autorin: Ella Pouwels