Uwe Timm war erster Heinrich-Heine-Gastdozent

Neues Literaturprojekt an der Uni Lüneburg. Wenn ein Autor offenbart, dass Literatur nicht notwendig sei, dann sorgt diese Aussage zunächst einmal für Verwunderung. Und wenn er skeptisch die Frage stellt, was Literatur überhaupt erreichen könne, so überrascht dies ganz besonders. „Menschen, die nicht lesen, bestrafen sich selbst permanent“ – spätestens nach dieser Bemerkung jedoch war allen der etwa 250 Anwesenden, die am Freitag, den 24. April, zur Vorstellung des ersten Heinrich-Heine-Gastdozenten erschienen waren, klar, dass sie hier genau richtig waren.

Die Heinrich-Heine-Gastdozentur ist ein Kooperationsprojekt von Universität und Literaturbüro Lüneburg e.V., welches in diesem Jahr erstmals erfolgreich umgesetzt wurde. Dabei besucht ein angesehener Autor bzw. eine Autorin aus der literarischen Praxis die Universität und hält eine öffentliche Vorlesung. Im Anschluss wird ein Kompaktseminar für Studierende angeboten. Ziel ist es, den Austausch zwischen Autor und Studierenden zu fördern und Literatur aus erster Hand erfahrbar zu machen. Abgerundet wird die Veranstaltung durch das von Heinz Kattner angebotene Seminar „Literarisches Schreiben“. In dieser Veranstaltung lernen die Teilnehmer verschiedene Techniken des literarischen Schreibens kennen und können ihrer eigenen Kreativität freien Lauf lassen. Das Projekt ist zunächst auf drei Jahre ausgelegt und wird durch das Ministerium für Wissenschaft und Kultur in Hannover finanziert. Neben dem Heinrich- Heine-Stipendium ist die Gastdozentur somit das zweite Literaturprojekt, das das Land Niedersachsen in Lüneburg unterstützt.

 

Uwe Timm gehört gegenwärtig zu den wichtigsten deutschen Schriftstellern. Er ist gebürtiger Hamburger, lebt mittlerweile aber in Berlin und München. Zu seinen bekanntesten Werken zählen „Die Entdeckung der Currywurst“, „Am Beispiel meines Bruders“ sowie der Kinderbuchklassiker „Rennschwein Rudi Rüssel“. Außerdem hat er sich als Drehbuchautor unter anderem mit „Die Bubi-Scholz-Story“ und „Eine Hand voll Gras“ einen Namen gemacht. Für den 69-Jährigen war dies bereits der zweite Besuch in Lüneburg: 2007 kam er als Ehrengast des Heinrich-Heine-Hauses. Gleich zu Beginn der Veranstaltung stellte Timm seine Menschenkenntnis unter Beweis. Dem Publikum, das nach einer Reihe von Reden bereits leicht ermüdet war, präsentierte er spontan einen Auszug aus seinem Roman „Heißer Sommer“. Dabei sorgte in erster Linie die Kombination aus pointiertem Witz und Wortspiel dafür, dass er die Zuhörer schnell auf seiner Seite hatte. Anschließend widmete Timm sich dem Klassiker „Die Entdeckung der Currywurst“ sowie seinem neuen Roman „Halbschatten“, der 2008 veröffentlicht wurde.

Moderiert wurde die Veranstaltung von Publizist und Redakteur Wend Kässens, der viele Jahre als Leiter der Literaturredaktion von NDR Kultur arbeitete. Im Laufe des Abends diskutierten Moderator und Autor vor allem über zentrale Motive der Werke Timms sowie über autobiographische Elemente und die Bedeutung des erzählerischen Schreibens an sich. „Literatur sensibilisiert die Sinne, sie reaktualisiert Emotionen und kann damit eine neue Realität schaffen“, erklärte Timm. Trotzdem zeigte er sich skeptisch hinsichtlich der Frage, was Literatur tatsächlich erreichen könne. „Die Qualität von Literatur besteht gerade darin zweckfrei zu sein und keine Ideologie zu verfolgen“, erläuterte er. Auch das Kompaktseminar am darauffolgenden Tag wurde sehr gut besucht. Etwa 30 Studierende aus den unterschiedlichsten Fachbereichen nutzten die Chance, Uwe Timm ihre Fragen zu stellen. Dabei ging es nicht nur um ihn als Person, sondern ausdrücklich auch um die Studierenden selbst. „Man hat gemerkt, dass Uwe Timm echtes Interesse an uns hatte“ meint Hellen, die im 4. Semester Kulturwissenschaften studiert. Gemeinsam diskutierten Autor und Studierende über zeitgenössische Literatur und natürlich darüber, welchen Stellenwert literarisches Schreiben hat. Dabei stellte sich heraus, dass viele der Teilnehmer selbst regelmäßig schreiben und ihre Alltagserfahrungen in Form von Tagebucheinträgen oder Kurzgeschichten festhalten. Besonders interessierten sich die Studierenden dafür, woher der Autor die Ideen für seine Werke bezieht. „Egal wo ich gerade bin“, erklärte ihnen Timm, „ich habe immer ein kleines Buch dabei, in dem ich meine Gedanken festhalte“. Viele seiner Arbeiten sind daher eine Mischung aus tatsächlich erlebten und fiktiven Ereignissen. Im Rahmen einer Übung stellte der Autor außerdem die Kreativität der Studierenden auf die Probe. Aufgabe war es, sich die Herkunftsgeschichte eines eiförmigen Kieselsteins auszudenken, den Uwe Timm seit Jahren in seinem Arbeitszimmer aufbewahrt. Er selbst könne sich nicht mehr daran erinnern,

woher der Stein stamme, fügte der Autor hinzu und spielte damit auf die Erinnerung, ein zentrales Motiv seiner Werke, an. Form und Inhalt konnten von den Studierenden völlig frei gewählt werden, sodass Erzählungen unterschiedlichster Art entstanden. Von den Ergebnissen war Timm offenkundig beeindruckt und ermunterte die Schreiberlinge, ihr Talent nicht aus den Augen zu lassen. Nach einer kleinen Verschnaufpause traf der Autor sich abends schließlich noch mit einer Gruppe Studierender im PONS, um den Tag bei einem gemeinsamen Bier ausklingen zu lassen.

 

Der erste Durchlauf der Heinrich-Heine-Gastdozentur hat die Erwartungen aller Beteiligten übertroffen. Auch Kerstin Fischer, Leiterin des Literaturbüros, ist sehr zufrieden und resümiert: „Das Konzept ist gänzlich aufgegangen. Die Studierenden identifizieren sich mit dem Projekt. Sie wissen, Uwe Timm ist ihr Gastdozent.“ Ein großer Teil des Erfolges geht dabei nicht zuletzt auf den Autor selbst zurück, der an beiden Tagen ein gutes Gespür für seine Zuhörer entwickelte. So konnte er in jeder Beziehung für eine lockere und zugleich produktive Arbeitsatmosphäre sorgen. Eine Wiederholung der Gastdozentur ist für das Sommersemester 2010 bereits fest eingeplant. Wir dürfen also gespannt sein, welcher Autor oder welche Autorin sich als nächstes auf den Weg nach Lüneburg macht.

 

Isabell Sluka