Lüneburg. In den Bäumen vor dem Hauptgebäude der Uni flattern Wimpelketten unter denen sich Menschen plaudernd in kleinen Gruppen zusammenfinden. Musik klingt aus Lautsprechern, sodass es sich wie angekündigt eher anfühlt wie ein Festival als eine akademische Konferenz. Auf dem Weg zur Eröffnungsveranstaltung riecht es überall nach Kaffee, der kostenlos ausgeschenkt wird. Bei den offiziellen Veranstaltungen der Utopiekonferenz füllen viele Zuhörende ihre Notizbücher. Doch besonders der informelle Austausch der Akademiker:innen, Politiker:innen und Bürger:innen lässt sie zu kritischen Denker:innen werden und sich gegenseitig inspirieren.
„Sie zur Utopiekonferenz begrüßen zu dürfen, fühlt sich fast schon utopisch an“ eröffnet Sven Prien Ribke als Hauptverantwortliche die Konferenz. Zum ersten Mal seit 2018 findet die 4-tägige Konferenz für utopische Ideen wieder in Präsenz auf dem Campus statt. Aufgrund der Coronalage konnten letztes Jahr Vorträge nur online und Diskussionen nur dezentral in hundert kleinen Camps verteilt über ganz Deutschland stattfinden. Die erste Rede der Konferenz hält Universitätspräsident Spoun, der an Mut, Fantasie und Klugheit aller Teilnehmenden appelliert. Wir sollten es wagen auch politisch und kollektiv, statt nur privat zu träumen. Zeitgenössische Politik sei davon geprägt, überwältigt von Krisen, ausschließlich zu reagieren. Doch wir sollten uns Zeit nehmen Utopien zu entwickeln, um wieder ins Agieren zu kommen, daher die Konferenz. Andrea (55), die als Gestalttherapeutin in Hamburg arbeitet und sich bei Extinction Rebellion und dem Aufstand der letzten Generation beteiligt, ist überrascht wie viel Raum dem Präsidenten auf der Eröffnung gegeben wird. Denn im Sommer letzten Jahres kritisierte die studentische Protestgruppe #LeuphanaDivest, dass das Präsidium nicht Utopie-freundlich handele, weil das Stiftungskapital der Universität bei der Nordischen Landesbank liegt, die klimaschädliche Investitionen tätigt.
Ein Highlight des Eröffnungstages ist eine Diskussion zwischen den Stargästen Maja Göpel und Richard David Precht, die bei einem Panel auf Aktivist:innen und Unternehmer:innen treffen. Sie stoßen Fragen an und eröffnen Spannungsfelder, die die Besucher:innen der Veranstaltung die nächsten drei Tage über begleiten. Ist in die neoliberale Gegenwart ein gutes Zeitfenster für Utopien? Sollen wir lieber große Utopien träumen oder uns auf nächste Schritte konzentrieren? Wie gehen wir mit der Dringlichkeit zu handeln um, die die Klimakrise fordert? Fokussieren wir uns auf ein Spezialgebiet oder stellen wir uns breit auf?
Am nächsten Morgen ist das Auditorium voll und bunt erleuchtet. Ein farbenfroher Vorgeschmack für das Gespräch zwischen Philosoph Richard David Precht und Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda, in dem die beiden betonen, dass Utopien gewollt werden müssen. Brosda begegne in der neoliberalen, nach technischen Lösungen lechzenden Zeit immer wieder Ablehnung gegen utopische Ideen, so wie den Ausbau des Kulturbetriebs. Außerdem appellieren Henrik von Wehrden, Dekan der Fakultät für Nachhaltigkeit, und Steffi Hobuß, Leiterin des Leuphana Colleges, daran die Beziehung von Wissenschaft und Gesellschaft nicht als Sender-Empfänger Modell zu verstehen. Sie sind der Überzeugung: wir müssen Raum für Dialoge, sogar Multiloge, schaffen, damit Gesellschaft und Wissenschaft, gemeinsam Wissen zu schaffen und eine Vision für die Zukunft gestalten können. Im Anschluss treffen sich auf der Bühne des Auditoriums Wissenschaftler:innen, Aktivist:innen und Künster:innen und halten inspirierenden Plädoyers zu Energiedemokratie, Ernährungsdemokratie, Grundeinkommen, die Schule als Gasthaus des Lernens, Bürger:innen-Rat und Digitale Gemeingüter. Sie sind die sogenannten Advokat:innnen, die als Expert:innen und Befürworter:innen zu sechs politischen Ideen in den nächsten Tagen die Werkstätten begleiten. Die Werkstätten bilden einen der beiden Stränge der diesjährigen Veranstaltung: Während die Vorträge der Denkräume Besucher:innen auf philosophischer und theoretischer Ebene Utopien nahebringen, setzen sich die Werkstätten intensiv und konkreter mit je einer der sechs politischen Ideen auseinander.
Die Werkstätten beginnen ihre Arbeit mit kurzen, intensiven thematischen Inputs der Advokat:innen. Anschließend gehen die Teilnehmenden in einen Austausch. Mit einem Blick über die Baumkronen des Wilschenbruchs setzten sich hier Menschen in gebügelten, blütenweißen Hemden und silbernen Haaren neben andere in ausgelatschten Turnschuhen. Sie legen ihre metallenen, teuren Kulis, aufgeschlagene Blöcke und wiederverwendbaren, vollgestickerten Wasserflaschen auf Gruppentischeaugenscheinlichen Unterschiede entstehen hier lebendige Diskussion über die politischen Ideen.
Zwischen verschiedenen Gesprächen in den Denkräumen ermöglicht der von Gesche Keding angeleitete gemeinsame Spaziergang am Nachmittag etwas, was Sophia-Christina (28), die aus Braunschweig kommt und Transformation Design studiert, überraschte. Neben einem Austausch über all die Eindrücke und Gedanken, scheint Kedings Apell, sich wirklich zuzuhören, zu wirken. Die Teilnehmenden unterhalten sich angeregt und lassen eigene Vorurteile aufbrechen. Dass eben auch ältere Personen sich für Digitalisierung interessieren, merkt Sophia.
Während Philosophin Véronique Zanetti im Hörsaal 4 über Utopien und Kompromisse spricht, erzählt der Rassismusforscher und Lyriker Ozan Zakariya Keskinklç am späten Nachmittag im Gespräch mit Steffi Hobuß von bereits nebeneinander existierenden Heteropien, anderen Orten und ihrem transformativen Potential. Utopien müssten gar nicht in der Zukunft liegen, sondern schon jetzt könnten wir gesellschaftliche Ideen umsetzen und visionäre Räume gestalten.
Nach einem feurigen veganen Chili vom Essenstand Klippo geht der volle Tag in die Lange Nacht der utopischen Praxis über, bei der genau solche, schon jetzt in Micro-Utopien lebenden Menschen von ihren Projekten berichten. Haluk (55), der beim Landesbund für Vogelschutz in Bayern mit Jugendlichen arbeitet, meint das wichtigste der Utopie Konferenz für ihn sei es gewesen, all diese aktiven Menschen zu treffen und ein Netzwerk aufzubauen. Spouns Appell an Mut, Klugheit und Fantasie fügt er noch Vertrauen und Zuversicht als wichtige Zutaten für die Utopische Praxis hinzu.
Das Erproben von Utopien stellt auch Kübra Gümü?ay in ihrem Denkraum „Sprache und Sein“ am Donnerstagmorgen vor. Sprache sei zwar nicht Anzeiger oder zwangsweise Vorrausetzung für eine inklusivere Gesellschaft, könne eine Transformation in diese Richtung aber erleichtern. Denn Sprache verändere unsere Wahrnehmung, zum Beispiel durch das Benennen von Ungerechtigkeiten oder Unbenanntem. „Krass“ hört man aus dem Publikum, als Kübra über die Sprache der indigenen Potwatomi erzählt, die nicht die menschliche Perspektive, sondern auch die Natur und der Erde in ihrer Sprache zum Ausdruck bringen. Für eine Veränderung der Sprache sollten wir neugierig gegenüber scheinbar Unsichtbarem sein und nicht nach Erlaubnis fragen, um Neues auszuprobieren, so zum Bespiel Worte für Unbenanntes schaffen und so Neues in den Diskurs rücken. Für diese Transformation bedürfe es einer neue Fehlerkultur. Statt sich auf die Schwächen von Menschen zu fokussieren, sollten wir Lernprozesse erlauben. Nach dem Gespräch entbranndet Applaus, Kübras Art hat die Zuhörenden berührt, mit ihrer poetischen und doch so präzisen Art zu sprechen und der Begeisterung für ihr Thema und ihre Vision, die sie ausstrahlt. Diese unermüdliche Motivation zu sehen, sei für Haluk auch einer der wichtigsten Momente auf der Konferenz gewesen. Andere Menschen kennenzulernen, die Utopien leben und anstoßen, motiviere auch ihn wieder. Und auch wenn nach den Gesprächen Zeit für Diskussion ist, ist die Utopiekonferenz von einem frontalen Format geprägt, bei denen das Publikum lediglich zuhört. „Natürlich sind die Denkräume philosophischer angesetzt“ räumt Sophia ein, „aber das kann man ja auch praktischer“. Sie, die grade von der undjetzt?!-Konferenz kommt, die viel interaktiv arbeitete, wünscht sich mehr Praxen des Miteinanders. Statt nur über Utopien zu reden, könne man sich in der Art wie wir das tun, andere Formate ausprobieren, die ein Vernetzen erlauben. Das würde das hierarchisch Sender-Empfänger-Modell zwischen Expert:innen und Zuhörenden, dass Steffi Hobuß und Henrik von Wehrden am Morgen kritisierten, aufbrechen.Als die Sonne untergeht und die Lichterketten aufleuchten, sprechen im Auditorium die Bundesvorsitzende der Jungen Liberalen (JuLi) Franziska Brandmann, Nadja Yang, Präsidentin der „European Young Engineers“ und Ulf Kämpfer der Oberbürgermeister von Kiel mit Maja Göpel und Richard David Precht über Klimawandel und Freiheit. Die Fragen danach, was Freiheit im Angesicht der dringenden Klimakrise heißt und ob wir ein individualistisches Freiheitsverständnis beibehalten können, sorgen hier für hitzige Auseinandersetzungen. So hört man Buhrufe aus dem Publikum, als sich Franziska Brandmann gegen ein Tempolimit ausspricht. Die Äußerung der JuLi-Vorsitzenden, dass jede:r selbst entscheiden solle, ob er:sie klimafreundlich handeln wolle, wird in der anschließenden Diskussion hart kritisiert. Eine Person fragt drängend, wie man noch über einen liberalen Freiheitsbegriff diskutieren könne, wenn in Pakistan, Kenia und Puerto Rico schon heute Menschen an den Folgen des Klimawandels, also unserem ausschweifenden Konsum, sterben. In allen möglichen Veranstaltungen kommt diese Spannung zwischen realpolitischen Kompromissen, dem Bestreben von Politiker:innen in einem demokratischen System weitergewählt zu werden und der Tödlichkeit der Klimakrise auf. Andrea kritisiert, dass in dieser Diskussion Stimmen von den am meisten betroffenen Personen auf der Konferenz zu kurz kommen. Es sein zwar einige Menschen of Color[1] eingeladen, doch Perspektiven aus dem globalen Süden oder auch von Menschen mit Behinderungen seinen unterrepräsentiert. Diversität der Vortragenden sei etwas, was bei dieser Konferenz deutlich zu kurz kommt, sagt auch Sophia. Man könne sich zwar ein diverses nicht rein weißes [2] Programm zusammenstellen, aber wenn man keinen Wert auf die Hinterfragung von Machtstrukturen legt können wir ebenso gut ausschließlich weißen Männern, die “man halt aus dem Fernsehen kennt” zuhören, beschreibt Sophia die Unterrepräsentation marginalisierter Perspektiven polemisch.
Mit einem Kaffee in der Hand treffen sich die Teilnehmer:innen in der Morgensonne des letzten Tages, um sich auszutauschen und nachzuholen, was die vorherigen Tage vielleicht ein bisschen kurz kam. Mit der Idee sich in ihren Städten und Umgebungen zu vernetzen und die getankte Motivation und Ideen in die Tat umzusetzen, stellen sie sich geografisch von Norden nach Süden geordnet neben dem Libeskindgebäude auf. Im Anschluss werden in drei Utopie-Arenen die Konferenzinhalte verknüpft. Hier begegnen sich nicht nur die Denkräume-Philosoph:innen und die Werkstatt Praktiker:innen wieder, sondern auch die politischen Ideen, die vorgestellt und diskutiert werden. Es kommen Bedenken, Begeisterung und Fragen auf, die die Utopien auf unsere Gegenwart werfen.
Ganz zum Schluss kommen noch einmal alle Teilnehmenden auf den roten Sesseln des Auditoriums zusammen und lauschen einem Poetry-Slam über Konsum und Reisen, Liebe und Verständnis, Fehler und Lernen. Wie die Slammerin appellieren anschließend auch die Advokat:innen der Werkstätten nochmals an die Zivilgesellschaft, ihre Ideen weiterzubringen, ganz nach dem Schlusssatz des Slams: “Mach mit sonst bleibt meine Revolution nur eine Illusion.”. Die letzten Minuten fassen gut, was Sophia zuvor kritisiert. Drei weiße Männer rekapitulieren die letzten Tage und philosophieren über die Spannung zwischen Krise und Utopie. Philosoph David Richard Precht, Universitätspräsident Spoun und Organisator der Konferenz Sven Prien-Ribke kommen zu dem Schluss, dass auch in der von Krisen beherrscht politische Kultur kleine parallele Utopien, ja Heterotopien wie Ozan Zakariya Keskinklç sagte, entstehen können und in Summe zu einer Transformation beitragen. Trotz spannenden Gedankenanstößen, interessanten Diskussionen und utopischen Bestrebungen reproduzieren sich auch hier im Redeverhalten bekannte gesellschaftliche Machtstrukturen. Meist dominieren weiße ältere und/oder männliche Personen die Panels. Auch in Diskussionen beteiligen sich, trotz ausgeglichener Teilnahme der Geschlechter, Männer oft mit anekdotischen Gedankenausschweifungen, während Frauen kaum Wortbeiträge äußern. Das beklagt auch Sophia und merkt an, dass man diese Dynamik durch Methoden, wie Austausch in Kleingruppen, auffangen könne.
Die Utopiekonferenz hat es geschafft ein Philosophie- und Ideen-Festival zu sein. Auch wenn die Formate oft eher einer Konferenz ähneln, äußern sich Haluk und Andrea einstimmig: „Man hat sich einfach wohlgefühlt”. Zwischen Lichterketten, buntbeleuchteten Bäumen und am Lagerfeuer wurde sich über Utopien ausgetauscht, kritisiert, gelacht. Wenn die eine oder der andere sich doch im Libeskindbau verirrte, stand einem ein freundliches Team aus Studierenden zur Seite. Nur einen Essensstand mehr hätte es geben können, meint Haluk lachend. So begegne man sich zwar, aber meist eher hungrig und kurz angebunden.
[1] Meint keine biologische Eigenschaft, sondern ist eine Selbstbezeichnung von/für Menschen die Rassismuserfahrung machen. Rassismus ist dabei ein gesellschaftliches System, das weiße Menschen, basierend auf jahrhundertelanger Geschichte von Benachteiligung und Gewalt an Schwarzen, Indigenen und anderen Menschen of Color, u.a. durch den Kolonialismus und Sklaverei, privilegiert. Siehe dazu auch EXIT RACISM von Tupoka Ogette.
[2] Meint ebenfalls keine biologische Eigenschaft, sondern eine Machtposition innerhalb rassistischer Gesellschaften. Weiß wird daher kursiv geschrieben, um deutlich zu machen, dass es sich nicht um die Hautfarbe, sondern um eine soziale Position handelt.
Anm.d.Red.: Der Rassismusbegriff von [1] schließt rasissmus unter Weißen, z.B. gegen Slaven, nicht mit ein, diese sind hier explizit ausgenommen.
Photos: Maike Huber.