The Empty Man: Die Monstrosität des Gedankens

Mit The Empty Man schuf David Prior einen Debutfilm, der in einem Genre anzusiedeln ist, dass seit jeher rar in der Filmgeschichte gesät war. Denn The Empty Man ist ein Werk, dass die Mittel des Films (in diesem Fall die Mittel des Horror-Films) bedient, um ein philosophisches Konzept so durchzuspielen, dass es in den Augen des Zuschauers an Anschaulichkeit gewinnt. Auch wenn der Film an der einen oder anderen Stelle straffer hätte erzählt werden können, so ist die visuelle Ästhetik des Erstlingswerkes doch beeindruckend. Prior ließ sich dabei stark von den Werken des polnischen Surrealisten Zdzislaw Beksinski beeinflussen1.

Die Handlung des Films beginnt zunächst in Bhutan, wo der Zuschauer vermeintlich in die Gesetzmäßigkeiten der Filmwelt eingeführt wird. Eine Gruppe von Freunden geht wandern, wobei einer von ihnen ein Geräusch zu hören scheint, das alle anderen nicht wahrnehmen können. Auf der Suche nach dem Ursprung fällt er in eine Felsspalte. Einer seiner Freunde steigt schließlich auch in die Spalte hinab, wo er seinen Freund anscheinend meditierender Weise vor aufgebahrten Gerippen findet. Doch ist es nicht möglich ihm zu helfen. Zwar gelingt es, ihn aus der Felsspalte zu befreien, doch bleibt er in einem katatonischen Zustand. Die Gruppe sucht Zuflucht vor dem rauen Wetter in einer kleinen Hütte und von da an beginnen merkwürdige Ereignisse sich abzuspielen: Seltsame Gestalten tauchen im Schnee auf und des Nachtens flüstert scheint der Geplagte zunächst von seiner Katatonie geheilt und flüstert seiner Begleiterin etwas ins Ohr. Am nächsten Tag eskaliert die Situation: Der vormals Kranke sitzt zu Fußen einer Brücke und bläst eine alte Ritualflöte. Als seine Freunde dazukommen, packt jene Frau, der ins Ohr geflüstert wurde, ein Messer und tötet erst ihre Freunde und schließlich sich selbst.

Nach dem beinah halbstündigen Prolog beginnt die Haupthandlung des Filmes. Auf Wunsch einer Freundin hin, ermittelt ein ehemaliger Polizist (James Badge Dale) in dem Verschwinden eines jungen Mädchens. Bei der Befragung einer Freundin stellt sich heraus, dass das verschwundene Mädchen zusammen mit einigen Freunden auf einer Brücke ein Ritual zelebrierte, dass auf einem alten Aberglauben basiert. Jeder der Freunde blies dabei in eine Flasche, flüsterte drei Mal ,,The Empty Man“ und dachte dabei an den so beschworenen Geist. Kurz darauf sind alle Schüler, die damals an dem Ritual beteiligt waren, tot. Nun wird auch Dales Charakter von dem seltsamen Geist heimgesucht. Die genauen Regeln, denen diese Entität folgt, scheinen dabei immer unschärfer und willkürlicher zu werden. Seine Ermittlungen in dem Fall des verschwundenen Mädchens führen Dale schließlich zu einer düsteren Sekte, die selbstzerstörerischen Manifestationsritualen abhalten und mit einem geheimnisvollen Komapatienten im Zusammenhang stehen. Gegen Ende des Films stellt sich schließlich heraus, dass Dale selber gar kein Mensch ist, sondern ein Tulpa. Er ist eine fleischgewordene Manifestation, ein Medium in Menschengestalt, das Resultat einer Gruppenmeditation der Sekte. All seine Erinnerungen sind somit falsch. Als in einer Halluzination der Dämon ihn ergreift, fällt er in der Realität ins Koma. Er nimmt nun den Platz des mysteriösen Komapatienten ein, der nicht mehr länger am Leben gehalten werden kann. Der alte Tulpa war jener Wanderer, der in Bhutan in die Felsspalte fiel. Nun, da Dale seine Stelle eingenommen hat, gibt es ein neues Medium, durch das der Empty Man übertragen werden kann.

Teil I:

Materie und Geist

  1. Der kartesische Dualismus

Es gibt inzwischen kaum ein Psychologiebuch oder eine Neurowissenschaftsvorlesung, wo nicht damit begonnen wird, was für einen schwerwiegenden Fehler Renée Descartes mit der Annahme der Getrenntheit von Geist und Körper machte. Wie weit, so heißt es dann immer, könnten wir wissenschaftlich sein, wäre diese Trennung nicht über so viele Jahrhunderte hinweg übernommen worden. Ich verzichte an dieser Stelle einmal darauf, darzulegen, dass diese Kritik oft sehr verkürzt und ein Stück weit ungerecht ist. Stattdessen müssen wir uns aber damit auseinandersetzen, welche Überlegungen Descartes damals vollzog, denn die Abarbeitung diverser Denker an seiner Philosophie ist die spirituelle Grundlage von The Empty Man.

Renée Descartes lebte zur Zeit der Renaissance und somit ist sein Denken im Kontext der gerade geborenen empirischen Wissenschaften zu sehen. Ein großer Teil der in der Renaissance zusammengetragenen wissenschaftlichen Erkenntnisse widersprach den Dogmen der katholischen Kirche. Auf eben dieses Spannungsfeld zwischen tradiertem Wahrheitsanspruch der Kirche und der frisch entstandenen empirischen Wissenschaft reagierte Descartes‘ Philosophie mit dem kartesischen Dualismus. Er teilte die Welt in zwei Sphären: physische Materie und menschlichem Geist. Die physische Materie folgt den Naturgesetzen und ist somit Gegenstand empirischer Untersuchungen. Der menschliche Geist, die Seele, menschliches Verhalten und das Selbst (!) hingegen ist frei von physischer Substanz und somit legitimer Gegenstand von klassisch theologischen Untersuchungen. Der menschliche Körper, der das zentrale Nervensystem einschließt, wurde dabei vollständig auf Seiten der Materie verortet. Die daraus resultieren Vorstellung, dass das menschliche Verhalten losgelöst von physischen Prozessen zu denken sei, erwies sich im weiteren Verlauf der Wissenschaftsgeschichte als ein überaus persistenter Irrtum2.

Seine Meditation, in der Descartes systematischen Zweifel an allem Seienden übte, mündet schließlich in einem der berühmtesten Sätze der Philosophie: Cogito ergo sum3. Damit begründet Descartes gleichsam eine der bedeutendsten Theorien des Subjekts, die das selbstbestimmende Subjekt im Bewusstsein des eigenen Seins verortet, ein Bewusstsein, an dem kein weiterer Zweifel mehr möglich ist, da der Vorgang des Zweifelns bereits ein Sein voraussetzt. Auch in Nietzsches Wahrnehmungstheorie spielt die Wahrnehmung des Wahrnehmenden als solcher eine entscheidende Rolle. Mit anderen Worten ist es bei Nietzsche die Wahrnehmung selber, die zur Entität der Erkenntnis wird.

Im Zentrum der Philosophie von The Empty Man steht das Leib-Seele-Problem. Schon bei einer ersten flüchtigen Betrachtung fällt auf, auf wie vielfältige Weise der Film (menschliche) Körper platziert und wie omnipräsent mystische wie psychologische Konzepte des Geistes hier sind.

  1. Körper als Raum

Bleiben wir zunächst auf der Seite des Körpers und interpretieren diesen, ganz im Sinne Descartes, als physische Materie. Denn es ist eben das Konzept der Leere, der Abstinenz weiterer Materie im Inneren, das in der Geschichte der Physik eine Schlüsselrolle spielt.

Die Gravitationsgesetze, wie sie Isaac Newton formulierte, sind bis heute eine der präzisesten Formeln, die uns erlauben alles Mögliche zu bauen und zu konstruieren. Dennoch basieren die Formel auf einer Annahme, die sich später als inkorrekt herausstellen sollte. Newton nahm an, dass es die Materie in einem Raum ist, über die Gravitation ihre Wirkung entfaltet. Allerdings blieb bei dieser Annahme unerklärbar, wie die Sonne oder Mond durch den leeren Raum hinweg Geschehnisse auf der Erde beeinflussen können. Newton selber wusste bereits um diese Schwachstelle, doch dauerte es bis zur Formulierung der Relativitätstheorie durch Einstein, bis ein Lösungsansatz auf die Frage gefunden wurde. Einsteins Lösung war bahnbrechend. Er postulierte, dass es auch eine Größe gäbe, die auch im leeren Raum existiere und die bestehe im Raum selber. Der Raum selbst ist das Medium der Gravitation. Mit einem einfachen Gleichnis versuchte Einstein zu erklären, wie große Körper einen Einfluss auf die Form des Raums haben. Legt man eine Murmel auf eine Tischplatte, so rollte sie gerade. Ist die Platte aber hingegen ausgebeult, etwa durch Hitze, so wird auch die Murmel nicht mehr gerade rollen. So wie die von Hitze ausgebeulte Tischplatte verhält sich auch die Raum. Der Raum ist dreidimensional und krümmt sich um einen Gegenstand. Allerdings ist in Wirklichkeit nicht nur der Raum, sondern auch die Zeit verzerrt. Die Krümmung des Raums wie der Zeit bedürfen selber aber keinen weiteren Einfluss, da sie selber Gravitation sind. Mit anderen Worten: Gravitation ist die Verzerrung der Umgebung, die von einem Objekt verursacht wird und die Bewegung anderer Objekte beeinflusst4.

Was hat das alles nun mit The Empty Man zu tun? Eine ganze Menge, denn der Titel des Films deutet bereits darauf hin, dass der Dreh und Angelpunkt hier nicht der Mensch ist, wie wir ihn kennen, sondern der leere Mensch. Leere Körper kommen in vielfältiger Form im Film vor. Da wäre zunächst die leere Flasche, die von den Schülern auf der Brücke geblasen wird und die Ritualflöte, die primär über einen Hohlraum funktioniert. Dann wären da aber auch noch der katatonische Bergsteiger und der Komapatient. Beide sind in dem Sinne leer, dass sie nicht mehr in irgendeiner Form geistesgegenwärtig sind. Sie sind leer Hüllen; der Mensch reduziert zum nackten, physischen Sein. Ähnlich wie der Raum das Medium ist, durch das Gravitation wirkt, so sehen wir auch in diesem Film eine unheimliche Entität, die durch (leere) Körper hindurch wirkt. Es ist schließlich die leere Flasche wie die hohle Flöte, die das dämonische Ding herbeiruft.

In der Schlusspointe des Films stellt sich heraus, dass Dale in Wirklichkeit gar kein Mensch, sondern ein Tulpa ist. Ein Tulpa ist ein Bestandteil der tibetanischen Mythologie, der unter anderem im tibetischen Totenbuch vorkommt5. Der Mythologie zufolge werden Tulpas einzig durch einen Akt des bestimmten Wollens erschaffen. Sie sind mehr oder weniger leere Objekte in Menschengestalt, die durch Geister oder den Tod beseelt werden können6. Die Anhänger von Pontifix, so erfahren wir, haben Dale durch eine kollektive Meditation ins Leben gerufen. Er soll nun den Platz des Komapatienten einnehmen und das Medium sein, durch das der Empty Man mit der Welt kommuniziert. Dass er zunächst eigenständig ermitteln kann und nicht dem Willen der Sekte unterworfen ist, zeugt von einer gewissen natürlichen Emanzipation der Manifestation von den Meditierenden. Gemäß der tibetischen Mythologie können Tulpas ein Eigenleben entwickeln7.

Doch was ist nun der Empty Man?

  1. Descartes‘ Dämon

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir noch einmal zum Körper-Geist-Dualismus zurückkehren. Wie bereits erwähnt ist das Selbst gänzlich auf der Seite des Geistes angesiedelt. Das erscheint zunächst kontraintuitiv, da wir geneigt sind, uns über unseren Körper wahrzunehmen. Man darf aber nicht verkennen, dass Descartes in seiner Meditation auch den Zweifel am eigenen Körper vollzieht,8. Die Konklusion Cogito ergo sum ist demnach ein körperloses Denken. Hier erscheint das Subjekt in sich selbst zurückgezogen. Es ist an seinem Nullpunkt. Hier ist die größtmögliche Reduktion erreicht, an dem das Sein durch das Denken als reiner Prozess begründet liegt. Was einst als Subjekt erschien, entpuppt sich bei näherer Betrachtung auch nur als Objekt. Es gibt das körperliche Subjekt nicht, dass hier denkt. Die Einheit von Körper und Geist ist negiert. Der Geist ist ein Eindringling; der Gedanke denkt sich selbst durch den Körper, in dem er eingedrungen ist9, 10.

Genau das ist der Empty Man. Er ist der Gedanke, der von jedem Körper differente und unabhängig ist; das Selbst das Einzig im geistigen Prozess begründet ist; der Gedanke, der als Fremdkörper, als Parasit vom Leib Besitz ergreift. Der tatsächliche Alptraum, den der Film uns zeigt, ist nicht der gewaltsame Tod der Charaktere, sondern deren Erfahrung auf eben dieses körperlose Subjekt zurückgeworfen zu sein. Der schwarze Dämon ist also die Monstrosität des Gedankens, dem das blanke Fleisch ausgeliefert bleibt. Im Finale fährt der schwarze Dämon in die leere, menschliche Hülle des Tulpas, der von nun an im Koma liegt und als Medium fungiert. Der Gedanke denkt sich selbst durch den Tulpa und das eben ist es, was den Grundbaustein der Philosophie des Empty Man ausmacht, die die Sekte empfängt.

Viele mögen den Eindruck haben, Descartes‘ Gedankenexperiment sei eine rein metaphysische Spielerei. Doch in der Tat gibt es ähnliche Überlegungen auch in den empirischen Wissenschaften. So wunderte sich der Biologe Richard Dawkin, weshalb bestimmte Verhaltensweisen, die dem Individuum mehr schaden als nutzen, derart weit verbreitet sind. Schließlich ergibt es evolutionär gesehen kaum Sinn, dass Menschen für ihren Glauben sterben oder für ihre Kunst bereit sind in Armut zu leben. Dawkins überraschende Begründung für ein solches Verhalten knüpft an Descartes Vorstellung des Selbst an. Nicht das Individuum (als das physisch klar benennbare Lebewesen) profitiert von diesen Verhalten, sondern die Idee hinter dem Verhalten. Die unsterbliche Wiederkehr dieser Idee durch verschiedene Individuen ist das, was Dawkin als Meme bezeichnet11 – ein Virus des Geistes12.

Teil II:

Welt ohne Gott

  1. Die Nacht der Welt

Im cogito ergo sum ist der Mensch auf die nackte Existenz zurückgeworfen. Was Descaretes in seiner Meditation beschreibt, ist der radikale Selbst-Rückzug, der Nullpunkt des Denkens. Die gesamte den Menschen umgebene Realität (einschließlich seiner physischen Hülle) ist hier suspendiert. Die gesamte Welt erscheint an diesem Punkt des Denkens als Trugbild, als Illusion, als bloßes Resultat verzerrter Wahrnehmung13. Um diesen Nullpunkt des Seins kreist die gesamte Lehre und Praxis der Pontifix-Sekte. Die Haupttätigkeit der Mitglieder besteht in der Mediation, also dem Rückzug ins Selbst, was bisweilen, wie man auf dem Video an einer Stelle sehen kann, extreme Ausmaße annehmen kann. In der Szene, in der Dale zum ersten Mal unter die Anhänger der Sekte mischt, hört er einen Vortrag von eines von Stephen Root gespielten Anführers. In der Ansprache kommt er genau auf diesen Nullpunkt zu sprechen. Er sagt: “There is no such thing as disunity; only a great bindning nothingness of things”. Die Lehre, der die Sekte folgt und die im weiteren Verlauf des Films immer wiederholt wird, lautet auch schließlich, dass nichts existiert und falls doch etwas existieren sollte, so kann der Mensch nichts darüber wissen.

Ein Philosoph wird im Film selber auch explizit benannt, nämlich Friedrich Nitzsche. In Jenseits von Gut und Böse weist Nietzsche darauf hin, dass von allen Punkten herkommend, das Vordringen des Denkens zum An-sich in radikaler Konsequenz immer zu demselben Resultat führen muss:

„Auf welchen Standpunkt der Philosophie man sich heute auch stellen mag: von jeder Stelle aus gesehn ist die Irrthümlichkeit der Welt, in der wir zu leben glauben, das Sicherste und Festeste, dessen unser Auge noch habhaft werden kann (…)“14.

Die Kategorien unseres Denkens sind somit illusionär. Im An-sich existieren weder kausale Gesetzmäßigkeiten noch Gründe, Notwendigkeiten oder Freiheiten. All dies sind Kategorien des menschlichen Denkens, der menschlich normativen Rekontextualiserung der Welt. Der Mensch ist ergo auch in Zeiten nach der Aufklärung unfähig sich von der Mythologisierung der Welt zu befreien. Nietzsches Kritik an der Philosophie ist eine Warnung vor dem, was er die ,,Verführung durch Worte“ nennt15. Darin greift Nietsche die grundsätzliche Form, in der wir denken und sprechen an. Jede Sprache und jedes Denken weist in reduziertester Form einem abgegrenzten Wesen eine Tätigkeit oder Eigenschaft zu. Nietzsche schreibt, dass wo der Mensch eine Veränderung an sich selbst bemerkt, so akzeptiert er dies nicht als natürlichen Entwicklung, sondern erklärt sie zu etwas Externem, Abgegrenzten (z.B. eine Krankheit). So wird aus dem Prozess eine Eigenschaft:

,,(…) wir haben die Wirkung als Wirkendes angesetzt und das Wirkende als Seiendes. Aber auch noch in dieser Formulierung ist der Begriff “Wirkung” willkürlich: denn von jenen Veränderungen, die an uns vorgehen und von denen wir bestimmt glauben, nicht selbst die Ursachen zu sein, schließen wir nur, daß sie Wirkungen sein müssen: nach dem Schluß: “zu jeder Veränderung gehört ein Urheber;”— Aber dieser Schluß ist schon Mythologie: er trennt das Wirkende und das Wirken“16.

Die Konsequenz aus dieser Mythologisierung, die jedem Konzept von der Welt innewohnt, ist dass der Mensch erkennen muss, dass jede Wahrheit rein subjektiv ist. Die Frage der Realität vollzieht sich also lediglich auf verschiedenen ,,Stufen der Scheinbarkeit“17. Descartes‘ Cogito ergo sum beschreibt somit den Rückzug zu eben jenem Punkt, an den man von jedem Punkt der Philosophie aus landen muss. Doch schon Hegel sah die Parallele zwischen jener gewaltsamen Innenkehr, die alles außerhalb leugnen, und dem Wahnsinn. Diese Verfinsterung der Realität beschreibt Hegel als ,,Die Nacht der Welt“, in der das Subjekt die existenzielle Erfahrung des ,,reine Selbst“ macht18. Aus dieser Erfahrung aus dem Tiefsten Inneren des Wahnsinns, dem Herz der Finsternis kehrt nun alles in das Seiende zurück. Die symbolische Ordnung, die Namen und Sprache verleihen dem Gegenstand sein Dasein. Hegel kehrt also die Frage des Wahnsinns um: Der Mensch kommt von der existenziellsten Erfahrung der Nacht der Welt wieder ins Licht der Normalität eines symbolischen Universums. Der Weg durch den Wahnsinn ist also ontologische Notwendigkeit19.

Nota bene – Nietzsche und Hegel gehen also den gleichen Gedankengang, nur in verschiedene Richtungen. Sie verhalten sich zirkulär und ebenso zirkulär ist auch die Praxis von Pontifix. Durch Meditation wird der Nullpunkt der Existenz erreichbar gemacht und eben jener monströse Gedanken des Empty Man tritt erneut in die Leere und von dort aus in die Normalität unserer Welt. Daraus folgt auch, dass der Empty Man nicht zerstört werden kann, er ist Teil der Welt und des Welt-Werdens. Somit ist es auch weitestgehend egal, wer ihn ruft. Durch das Denken eines Jeden kann er sich manifestieren und seine Manifestation ist eine existenzielle Erfahrung. Verhalten sich nicht alle Charaktere, die von ihm schließlich gefunden werden wie Wahnsinnige? Die einen bringen sich selber um, die anderen gehen auf ihre Mitmenschen los und einige wenige verlieren sich in der katatonischen Schizophrenie des Tulpa.

  1. Der Abgrund und die Brücke

Als Dale nach der Ansprach des Anführers das Gespräch mit ihm such20, da führt dieser eine berühmte Stelle aus dem Werk Nietsches an, nämlich den Aphorismus 146 aus Jenseits von Gut und Böse:

„Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein“21.

Die Pointe des Films liegt schließlich darin, dass David Prior Nietzsche hier wortwörtlich nimmt. Dale tritt an, um dem Monster die Stirn zu bieten und wird schließlich selbst das Medium des Empty Man. Der Abgrund hat in ihn hineingeschaut…

Für Nietzsche ist die Arbeit am Selbst eine fröhliche Wissenschaft, an deren Ende der Mensch sich selbst zum moralischen Wesen machen kann. Das Monster ist also das Gegenteil des moralischen Menschen, der sich noch in Kunst und Ästhetik über kann. Moral hat also weniger mit Religion zu tun als vielmehr mit Ästhetik und somit auch mit Wahrnehmung22. Der Abgrund ist der absolute Nihilismus, der Punkt der Impotenz aus dem der Mensch außer zu Zynismus zu nichts mehr in der Lage ist. Nietzsches Abhandlung über die Verschiedenen Stufen des Scheinbaren ist also nicht als Aufruf zum absoluten Zynismus zu begreifen, sondern als ein Aufruf zu einem moderaten, existenziellen Nihilismus, der es einem ermöglicht die Tiefe der Realitäts- und Sinnlosigkeit zu durchschreiten23.

Das Heilsversprechen der Pontifix Society ist eben dieser Durchquerung des Nihilismus, zurück zur Hoffnung. Das schwarze Monstrum sollte man also hier weniger als Bedrohung, als viel mehr als ultimative Hoffnungsschimmer sehen. Der Empty Man in schwarze Gestalt, der durch die verschneiten Landschaften Bhutans wabert, ist die Rückkehr Gottes. Nicht unbedingt Gottes im Sinne einer moralisch-ethischen Instanz, sondern als die Rückkehr, der Einheit aus Körper und Geist. Denn der Tod Gottes kann bei Nietzsche auch als das Ende des Körpergewordenen Geistes begriffen werden, der in letzte Konsequenz auch zur Abschaffung des Menschen führen muss. Denn ein Denken, dass allen Sinn, alle Kausalität negiert, wäre dem Menschen nicht möglich24. Durch den wabernden, schwarzen Dämon oder den Tulpa, in dem der Geist wieder mit dem Körper versöhnt wird, rettet sich die Menschheit und tritt aus der Nacht der Welt heraus in eine sinnhafte Normalität.

Und wir? Am Ende dieser Überlegung erkennen wir nun, dass Nietzsche recht hatte, als er in seiner Abhandlung über den illusionären Charakter des Realen darauf hinweist, dass auch die Unwahrheit dem Leben dienlich sein kann. Die wahre Natur der Welt zu kennen, ist nicht unbedingt sinnvoll25. Aber man sollte verstehen, dass es um das Eingeständnis selbst geht, dass man jenseits der Wahrheit besser lebt, das uns neue Perspektiven ermöglicht:

„Die Unwahrheit als Lebensbedingung zugestehn: das heisst freilich auf eine gefährliche Weise den gewohnten Werthgefühlen Widerstand leisten; und eine Philosophie, die das wagt, stellt sich damit allein schon jenseits von Gut und Böse.“26

 


Literatur

1 Als Inspiration ließe sich z.B. dieses Bild anführen: https://www.wikiart.org/de/zdzislaw-beksinski/untitled-185.

2 Riekki, T., Lindemann, M. & Lipsanen, J. (2013). Conception About the Mind-Body Problem and their Relation to Afterlife Beliefs, Paranormal Beliefs, Religiosity, and Ontological Confusion. Advances in Cognitive Psychology, 9, 112-120.

3 Descartes, R. (1641). Meditationes de prima philosophia. Lateinisch-Deutsche Ausgabe, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 1959, 30-61.

4 Green, B. (2012). Die verborgene Wirklichkeit: Paralleluniversen und die Gesetze des Kosmos. Siedler Verlag, S. 24-30.

5 Evans-Wentz, W. T. (2000). The Tibetan Book of the Dead: Or The After-Death Experiences on the Bardo Plane, according to L?ma Kazi Dawa-Samdup’s English Rendering. New York: Oxford University Press, 29–32.

6 Mikles, N., L. & Laycock, J., P. (2015). Tracking the Tulpa: Exploring the „Tibetan“ Origins of a Contemporary Paranormal Idea. Nova Religio: The Journal of Alternative and Emergent Religions. 19(1), 87–97.

7 David-Neel, A. & D’Arsonval, A. (1929). Magic and Mystery in Tibet. Escondido, California: Book Tree.

8 Descartes, R. (1641). Meditationes de prima philosophia. Lateinisch-Deutsche Ausgabe, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 1959, 30-61.

9 Žižek, S. (2003). Die Puppe und der Zwerg: Das Christrentum zwischen Perversion und Subversion. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main.

10 Žižek, S. (2014). Was ist ein Ereignis? Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 93-102.

11 Dawkins, R. (1989). The Selfish Gene, 2nd edn. Oxford: Oxford University Press.

12 Dawkins, R. (1993). Viruses of the mind. Dennett and his critics: Demystifying mind, 13, e27.

13 Žižek, S. (2014). Was ist ein Ereignis? Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 93-10

14 Nietzsche, F. (1886). Jenseits von Gut und Böse. In: Scheier C. (Hrsg.): Philosophische Werke in sechs Bänden, Band 1. Felix Meiner Verlag, Hamburg, 2013, 3-229.

15 Ebd.

16 Nietzsche, F. (1885/86). Nachlass, 2 (84). http://www.thenietzschechannel.com/notebooks/german/nache/nache2a.htm

17 Nietzsche, F. (1886). Jenseits von Gut und Böse. In: Scheier C. (Hrsg.): Philosophische Werke in sechs Bänden, Band 1. Felix Meiner Verlag, Hamburg, 2013, 3-229.

18 Hegel, G. W. F. (1805/1806). Jenaer Systementwürfe III. In: Werke in zwanzig Bänden, Band 2: Jenaer Schriften 1801-1807. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main.

19 Žižek, S. (2014). Was ist ein Ereignis? Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 93-102.

20 Die gesamte Szene hier: www.youtube.com/watch?v=V6Z4fkq3Zfc

21 Nietzsche, F. (1886). Jenseits von Gut und Böse. In: Scheier C. (Hrsg.): Philosophische Werke in sechs Bänden, Band 1. Felix Meiner Verlag, Hamburg, 2013, 3-229.

22 Nietzsche, F. (1887). Die fröhliche Wissenschaft. In: Scheier C. (Hrsg.): Philosophische Werke in sechs Bänden, Band 5. Felix Meiner Verlag, Hamburg, 2013, 121-171.

23 Es sei aber angemerkt, dass Nietzsches Position zum Nihilismus über sein Werk hinweg nicht ganz widerspruchsfrei ist

24 Nietzsche, F. (1887). Die fröhliche Wissenschaft. In: Scheier C. (Hrsg.): Philosophische Werke in sechs Bänden, Band 5. Felix Meiner Verlag, Hamburg, 2013, 121-171.

25 Nietzsche, F. (1886). Jenseits von Gut und Böse. In: Scheier C. (Hrsg.): Philosophische Werke in sechs Bänden, Band 1. Felix Meiner Verlag, Hamburg, 2013, 3-229.

26 Ebd.

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Johann Alexander Betker

Student der Kognitiven Neurowissenschaften. Seit 2022 ist er Mitglied der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung. Seine Texte haben nicht den Anspruch einer politische Positionierung zu dienen, ebensowenig wollen sie die Gesellschaft transformieren. Vielmehr dienen sie dazu, neue Perspektiven in bestehenden Debatten aufzutuen. Seine Artikel finden also in dem Rahme dessen statt, was Marx als rücksichtslose Kritik bezeichnet: ,,Ist die Konstruktion der Zukunft und das Fertigwerden für alle Zeiten nicht unsere Sache, so ist desto gewisser, was wir gegenwärtig zu vollbringen haben, ich meine die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden, rücksichtslos sowohl in dem Sinne, daß die Kritik sich nicht vor ihren Resultaten fürchtet und ebensowenig vor dem Konflikt mit den vorherrschenden Mächten.” (Marx, 1843, MEW 1).

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