Die Leuphana überlegt die Anwesenheitspflicht wiedereinzuführen.
Sollen die Ergebnisse des Bildungsstreiks über Bord geworfen werden? Wandelt sich die Universität der Zivilgesellschaft des 21. Jahrhunderts in eine Schule mit Klassenbuch um die Anwesenheit festzustellen?
In Rahmen der Bildungsproteste 2009 unter dem Titel „Bildungsstreik“ wurden an über 70 Hochschulen Hörsäle und weitere Räume besetzt. Hintergrund war die schlechte Umsetzung des Bologna-Prozesses, die Studiengebühren und Ökonomisierung der Bildung. An der Leuphana wurde der Hörsaal 1 für einige Wochen besetzt. Das Präsidium der Leuphana fand sich zu einem Gespräch mit den protestierenden Studierenden im Hörsaal 1 zusammen. Die Ergebnisse und Verlauf des Protestes finden sich in der Senats-Drucksache 183/47/3 WiSe 2009/10 wieder.
In einem Schreiben von Präsident Spoun vom 17.12.2009 an alle Lehrenden der Leuphana wird klargestellt, dass es keine Anwesenheitspflicht gibt:
„Hauptthema der Diskussion mit den Studierenden war die Verbesserung der Zusammenarbeit von Studierenden und Lehrenden, mit Fragen nach Anwesenheitspflicht und Prüfungen. Die Frage der Anwesenheitspflicht der Studierenden ist als eine inhaltliche Frage aufzufassen und zu beantworten. Es macht einen Unterschied, ob sich Studierende an einem Seminar oder an einer Vorlesung beteiligen. Vorlesungen sind in diesem Sinne als Angebote zu verstehen. Studierende müssen selbst entscheiden können, ob sie von dem Angebot Gebrauch machen, oder nicht. Die Zusammenarbeit in Seminaren hat einen anderen Charakter und eine andere Verbindlichkeit. Hier geht es darum, gemeinsam einen Diskussions- und Lernprozess zu gestalten. Alle Seminarteilnehmenden sind verpflichtet, daran mitzuwirken und nach ihren Möglichkeiten zur Erarbeitung eines Ergebnisses beizutragen.
Gemäß § 6.2 Satz 1 und § 3.5 der Rahmenprüfungsordnung setzt das Studium die Teilnahme und aktive Mitarbeit an Lehrveranstaltungen voraus. Dies ist nicht gleichzusetzen mit der physischen Präsenz in jeder Veranstaltung. Die Lehrenden gestalten ihre Veranstaltungen, wobei allfällige Anwesenheitspflichten in Übungen, Laboren und Seminaren sich aus der Natur der Sache ergeben müssen und nur mit Augenmaß einzufordern sind. Zum Beispiel soll das erfolgreiche Ablegen einer Modulprüfung nicht von der Anwesenheit in einer einzelnen Veranstaltung abhängig gemacht werden. Nicht Rahmenbedingungen, sondern Inhalte sollen entscheidend sein, das heißt über Formalia soll kein Druck aufgebaut werden. Der Besuch von Lehrveranstaltungen soll sich also vor allem aus deren Qualität ergeben und nicht aus dem Verteilen von Anwesenheitslisten.“
Aktuelle Diskussion in der ZSK College
In den Monaten September und Oktober hat die Zentrale Studienkommission College (ZSK), die sich mit allen fakultätsübergreifenden Angelegenheiten von Studium und Lehre im Rahmen des College (Bachelor-Studium) auseinandesetzt, zum Thema Anwesenheitspflicht eine andere Auffassung vertreten. In diesem Zeitraum hat die Kommission bisher drei Mal getagt und ist derzeit mit der Reform der Rahmenprüfungsordnung (RPO) beschäftigt. Die Rahmenprüfungsordnung regelt den Ablauf des Studiums, Prüfungen, Leistungsanforderungen.
In der Senats-Sitzung am 23.10.2013 erklärte Präsident Spoun aufgrund einer Anfrage der Senatsliste „Leuphana gemeinsam gestalten“ den aktuellen Stand der Reform. Die ZSK beschäftigt sich mit einer grundlegenden Reform der RPO, die im Wesentlichen seit 2009 nicht grundlegend geändert worden ist, sondern nur über die letzten Jahre leicht angepasst wurde. Die Eindrücke und Erfahrungen der Lehrenden der letzten Jahre sollen hierfür in die Reform einfließen. Die ZSK, so Spoun, arbeite prozessorientiert, das Feedback für die Reform der RPO wurde von den Fakultäten eingeholt, auf den ZSK Sitzungen besprochen und soll später dem Senat zur endgültigen Abstimmung und Inkrafttreten vorgelegt werden. Geplanter Termin die neue RPO im Senat zu behandeln ist für den 20.11.2013 vorgesehen. Zuvor wird sich am Mittwoch 06.11.2013 die ZSK noch zu einer weiteren Sitzung treffen.
Grundlage der Diskussion um die Anwesenheitspflicht in der ZSK
In der ZSK soll eine grundsätzliche Diskussion über die Anwesenheitspflicht stattgefunden haben und man habe sich hier an Beispielen wie den RPO der Universitäten Bonn und Hamburg orientiert. Die RPO der Universität Hamburg erlaubt die freiwillige Festlegung von Anwesenheitspflichten durch Dozenten. Die Einführung einer Anwesenheitspflicht müsste jedoch durch die RPO konkret geregelt werden, wie häufig man nun fehlen dürfte. Hierzu war es schwierig, eine konkrete Anzahl an Terminen zu nennen, sondern es wurde sich darauf verständigt, die Zahl von 80 % der Veranstaltungstermine als Anwesenheitspflicht festzusetzen.
Konsequenzen für das Unterschreiten der 80 % Anwesenheitsquote sollten jedoch keine harten Konsequenzen sein, wie die fehlende Zulassung zur Studien- oder Prüfungsleistung oder das Nicht-Bestehen des Moduls. Aber dennoch müsste eine Regelung gefunden werden, wie die fehlende Anwesenheit kompensiert werden könnte. Die Konkretisierung ist offen.Dieses führte zu der folgenden Formulierung in den bisherigen Roh-Entwurf der neuen RPO, der Univativ vorliegt:
„§6 Modularisierung und Lehrveranstaltungsarten
(2) Das Studium setzt die kontinuierliche Teilnahme und aktive Mitarbeit an den Lehrveranstaltungen, die im Rahmen eines Moduls zu erbringen sind, deren unterschiedlichen Lehr- und Lernformen sowie ihre Vor- und Nachbereitungszeit voraus. Kontinuierlich teilgenommen hat grundsätzlich, wer nicht mehr als 20 Prozent der Präsenzzeit versäumt hat.“
Was sagen die Studierendenvertreter?
In der vorliegenden Anfrage einer Senatsliste, die als Tischvorlage im Senat verteilt wurde, vertreten zwei studentische Mitglieder im Senat folgende Position:
„Nach Meinung von Leuphana gemeinsam gestalten stellt die Einführung einer prozentualen Anwesenheitspflicht kein adäquates Mittel zur Verbesserung der Lehre dar. Vielmehr sollte sowohl von den Studierenden als auch von den Lehrenden unserer Universitätsgemeinschaft ein Mindestmaß von Engagement und Eigenverantwortung erwartet werden können. Des Weiteren sollte die Grundlage zur aktiven Teilnahme an Lehrveranstaltungen die intrinsische Motivation der Studierenden sein. Insbesondere in Seminaren kann aus unserer Sicht nur dann eine engagierte Diskussion entstehen, wenn die Studierenden sich nicht zur Teilnahme gezwungen fühlen. Die bloße Befürchtung, das mehrfache Versäumen einer Präsenzveranstaltung könne Auswirkungen auf das Bestehen der Modulprüfung nehmen, kommt einem solchen Zwang gleich, den wir nicht befürworten können.“
Kommt es zu einer Abstimmung der neuen RPO in der Sitzung des Senats im November, so treten drei Studierendenvertreter gegen zehn Professoren, drei wissenschaftliche Mitarbeiter und drei Mitarbeiter aus Technik und Verwaltung an. Das Abstimmungsergebnis dürfte spannend sein. Wofür die Studierendenvertreter damals beim Bildungsstreik 2009 gekämpft und schließlich auch erreicht haben, die Anwesenheitspflicht aufzugeben, wird nun vier Jahre später von der Leuphana scheinbar ignoriert. Schließlich darf man nun auch nicht vergessen, dass viele der damaligen Studierenden, welche 2009 den Hörsaal besetzten, nun nicht mehr an der Leuphana sind. Hat die Leuphana darauf spekuliert, dass sich niemand mehr erinnert, wie die Studierenden gegen die Anwesenheitspflicht sind?
Autor: Christopher Bohlens