Mit Künstlern und Erlebnissen will das Lüneburger Startup SPACITY den Einzelhandel vor Online Konkurrenz, Geschäftsketten und steigenden Mietpreisen retten. Am 7. Mai 2016 veranstalteten sie ihren „Erlebnistag“, auf dem Künstler in Geschäften ihr Schaffen vorstellten. Wir waren da.
Samstag, 7. Mai, 13.47 Uhr. Neben dem Wasserturm steht ein kleines Elektronik-Geschäft. EP: Electro Kaufer verkauft Küchengeräte, Waschmaschinen und Staubsauger. Dinge, die ihr wahrscheinlich von Mediamarkt, Saturn oder anderen großen Geschäftsketten kauft. Anstelle von parkplatzsuchenden Autos verirren sich heute größere Menschenmassen vor dem kleinen Laden. Sie stehen Schlange und warten, während die Sonne Lüneburg auf bis zu 25 Grad aufheizt. Ganz hinten steht eine junge Frau. Sie trägt eine Virtual Reality Brille und fummelt in der Luft herum. Wer die Sims gespielt hat, erkennt die Gestik wieder. Die Brille gehört zum Occulus Rift Developer Kit, das von Facebook entwickelt wird.
Dieses „Erlebnis“ ist die erste Station des SPACITY Erlebnistages. Eine ganze Reihe solcher Erlebnisse hat SPACITY organisiert. Mit dem Erlebnistag starten sie den ersten Versuch eines Geschäftsmodells.
Die Oculus Rift Brille stammt vom Digital Media Student*innen der Leuphana. SPACITY vermittelte besagte Student*innen.
Warum die Brille? Viele Leute von der Straße haben das Spektakel bemerkt und stehen nun in der Warteschlange. Vom Elektronik-Geschäft haben einige vorher noch nie etwas gehört. Jetzt schon. Wenn der Betreiber des Geschäftes seinen Namen etwas in die Welt tragen möchte, hat er das nun geschafft. Ob er neue Kunden gewonnen hat, wird sich erst noch zeigen. Die vielen Menschen sind jetzt in erster Linie wegen der Brille da.
Weiter geht’s mit der zweiten Station: Der „Schauspielerischen Lesereise“, wie es im Programmheft heißt. Um 14 Uhr beim Rathausplatz führt die Lüneburger Schauspielerin Marit Persiel ihr Programm vor. Marit Persiel trat bereits im Kinofilm „Die Krone von Arkus“ auf. In Begleitung von weiteren Unterhaltern will sie im Buchhandel „Lünebuch“ das Muttertagsshopping aufpeppen: Bunt geschminkt, jonglierend und Seifenblasen pustend unterhalten sie Vorbeigehende und mögliche Gäste des Buchgeschäfts. Sei es durch Improvisationstheater-Einlagen oder durch das Rezitieren von Witzen oder Dialogen aus Kriminalromanen.
Während die Zuschauer teils skeptisch dreinblicken, weil eventuell die eine oder andere Erinnerung an die Hotel-Animateure vom Ibiza-Urlaub hochkommt, feiern die Kiddies im Bällebad ihre Helden des Tages. Für sie scheint es, im Gegensatz zu manchen Erwachsenen, tatsächlich ein noch Erlebnis zu sein, wenn jemand aus einem Buch vorliest.
„Kannst du die Prinzessin nochmal herschicken? Meine Schwester will das Lego Buch haben aber meine Mami will nicht“, ruft ein kleines Mädchen einem Verkäufer zu, als das Künstler-Duo ihre Unterhaltungsform wieder nach draußen verlagert. „Sie kann es sich ja zum Geburtstag wünschen“, wird sie später hören.
Mit der Zeit begeistern sich doch noch einige Passanten. Hier fällt mir zum ersten Mal das filmende und fotografierende Kamerateam auf, welches die Künstlergruppen noch für den Rest des Tages begleitet. Es hat den Auftrag, Foto und Videomaterial zu produzieren, das den Künstlern und den Geschäften zukommt.
Um 16.30 Uhr geht es weiter im Möbel und Einrichtungshaus Crull in der Illmenaustraße 15. Hier stellen der Künstler Human Flashboy und Kollegen aus Lüneburg und Umgebung ihre Werke vor. Human Flashboy beschreibt seine eigene Kunst als „salonfähige Streetart“, die LZ sieht das auch so. Einige seiner Werke stellte er auch auf dem Lunatic Festival vor.
Zwischen den teuren, aber hochwertigen Designermöbeln hängen nun die Gemälde, deren Stil nahtlos am Mobiliar anschließt. Während die Inhaberin des Hauses schon einmal Weißwein eingießt, führen die Künstler*innen bereits die ersten Besucher herum. „Kunstaustellungen bei uns sind keine neue Idee an sich“, erzählt mir die Besitzerin Frau Crull. Interessant wirkt das Konzept trotzdem.
Um 18 Uhr geht es weiter mit dem Nachteulenflohmarkt hinter dem Museum in der Willy Brandt Straße. Das Format kennen vielleicht manche von euch entweder aus Lüneburg oder aus Hamburg: Ein abendlicher Flohmarkt mit vielen Sitzgelegenheiten, Snackverkauf und entspannter Musik. Die Idee an sich stammt nicht von SPACITY – sie haben sich mit den Veranstaltern zusammengesetzt und nach Absprache den Flohmarkt in ihr Programm integriert. Das gemeinsame Interesse fußt jedoch auf der ursprünglichen Idee SPACITYs: die Vermittlung von Handel, Dienstleistung und Kultur in leere Räume, in diesem Falle die Fläche hinter dem Museum.
Das letzte Erlebnis beschallt ein kleines Geschäft am Sande. Die „Lüneperle“ ist ein neuer Kiosk, der in der Woche auch nachts geöffnet hat. Das Sortiment umfasst kleinere Kosmetikartikel wie Brillenputztücher bis hin zu exotischen Kuriositäten, wie portugiesischem Gebäck.
Hier legt DJ Paul Jansen auf, der sich selbst eher als eifrigen Plattensammler beschreibt. Dazu stehen draußen Stehtische mit Knabberzeugs und besagtem portugiesischem Gebäck, während die Musik im Hintergrund alle möglichen Stilrichtungen abgrast. Während die Besucherzahlen zu Beginn um 20 Uhr eher bescheiden sind, tummeln sich ab 22 Uhr bis zu fünfzig Personen um die Stehtische herum.
Wie bei fast allen anderen Geschäften ist hier das Ziel, den jeweiligen Laden bekannt und interessant zu machen. Bei mir hat es funktioniert, ich hatte den Kiosk nie zuvor bemerkt. Erst recht nicht, weil sich der kleine Laden in seiner schmalen Lage zwischen den Geschäften unauffälliger gibt als ein englisches Reihenhaus.
Das Konzept des Startups funktioniert also wie folgt: Die Geschäfte wenden sich an SPACITY, SPACITY wendet sich an Künstler*innen und vermittelt sie an die Geschäfte, die Geschäfte buchen dann die Künstler.
Jetzt kann man sich fragen, ob SPACITY mit ihrem Konzept die Künstler*innen dazu zwingt, ihre Kunst zu kommerzialisieren. Die Künstler*innen müssen nämlich ihr Schaffen auf die Nachfrage beschränken, wodurch sie auch ihre eigene Kreativität drosseln.
Schaffen die Künstler*innen aus Lüneburg und Umgebung in Zukunft also nur noch Kunst, die von Geschäften für ihr Marketing genutzt werden kann?
Dagegen spricht die Umsetzung: SPACITY sucht die passenden Künstler*innen für die richtigen Läden und umgekehrt. Die Künstler*innen müssen sich also nicht dem Markt anpassen, SPACITY passt den Markt an die Künstler*innen an.
Der Gedanke, die Künstler*innen würden einseitiges Marketing betreiben, stimmt in der Hinsicht nicht, weil sie beidseitiges Marketing betreiben: „Die Fotos und Videos unseres Medienteams bekommen die Künstler für ihre Öffentlichkeitsarbeit. Das war jeweils Teil des Vertrags“, meint Mitgründer Franz Vergöhl.
Außerdem können die Künstler*innen ihr Schaffen einem Publikum präsentieren; eine Möglichkeit, die sie sonst vielleicht nicht hätten. „Es ist cool, dass wir die Chance haben, unsere Sachen zu zeigen“, meint Pepe Peps, der gemeinsam mit Human Flashboy ausstellt.
Somit schafft SPACITY ein Geschäftsmodell, welches in seiner Idee eine Kontroverse mit sich bringt, die das vierköpfige Team aber durch die geschickte Umsetzung ausschaltet.
Autor: Jan Gooß mit Material von SPACITY