Seinsvergessenheit und Kriegspropaganda

Ein Versuch Defätismus zu verbreiten

Deutschland ringt gerade um eine Haltung bezüglich des Ukraine-Krieges. Dabei kollidieren die Grundsätze des Pazifismus sowohl mit der Verantwortungsethik als auch mit jenen logischen Problemen der Weltanschauung (seine Nicht-Verteidigbarkeit), die man in Friedenszeiten so leicht zu verdrängen wusste. Das Resultat dieses Konfliktes ist eine allgemeine Verwirrung, in der sich die einzelnen Parteien wechselseitig Zynismus vorwerfen1 und es in vielen Fällen beinah unmöglich scheint, Kriegsrhetorik von der Anti-Kriegs-Rhetorik zu scheiden.

In den Krieg einzusteigen sei, so hört man, die einzige Möglichkeit Krieg zu verhindern. So postuliert beispielsweise Elmar Brok (CDU), dass jetzt auch ein paar Opfer in Kauf genommen werden müssen und dass ,,Weltkrieg verhindern heißt jetzt Putin zu stoppen”2. Wie sind solche Argumentationsstränge, die auf die militärische Verteidigung von Rechten und Werten abzielen nun einzuordnen? Ist das Kriegspropaganda oder doch eine Rhetorik, die sich wahrheitsgemäß für Frieden und Menschenrechte einsetzt?

Tatsächlich ist sie beides! Diese Pointe ist leicht zu übersehen, wenn einem entgeht, was in jedem Kriegs- wie Anti-Kriegs-Narrativ nicht auftaucht: nämlich das isolierte Subjekt. In beiden Schlüsselerzählung ist das Ich in einer höheren Bedeutungsebene suspendiert, die dem Krieg oder der Gewaltfreiheit einen höheren Sinn gibt. Die Grundlogik des Patriotismus, des Pazifismus und der aktuell von allen Seiten heraufbeschworenen Verantwortungsmoral ist somit dieselbe3. Das zeigt sich, wenn wir das einzelne Subjekt wieder ins Zentrum der Überlegung rücken; wenn wir uns trauen, uns klar zu einer wahrlich ego-istischen Position zu bekennen.

Schuld und Sühne

In der laufenden Debatte ist das Subjekt abwesend. Ja, es muss sogar abwesend sein, denn wer von ihm ausgehen würde, der erreiche nicht die Ebenen eines höheren Sinns sondern verweile stets auf der Ebene eines persönlichen Pragmatismus und persönlicher Sinnsetzung. Bemerkenswert in der aktuellen Diskussion ist allerdings das Fehlen von Elementen der klassischen Sinnstiftung. Hier soll nicht das Wohl des Vaterlands, der Heroismus oder die Ehre des Mannes dem Krieg eine höhere Rechtfertigung oder Erhabenheit verleihen. Stattdessen wird sich von beiden Seiten auf die Verantwortungsethik berufen. Man sollte sich allerdings nicht davon täuschen lassen. Denn egal ob die westlichen Werte in der Ukraine verteidigt werden sollen oder es der Pazifismus gebietet, auf eine Verhandlungslösung auch angesichts russischer Panzer zu insistieren; die Interessen des einzelnen sind hier einem höheren Grundsatz untergeordnet.

Die moralische Pflicht wird dabei stark an den Begriff der Schuld geknüpft. Der russische Präsident, so heißt es, hat nicht nur der Ukraine, sondern auch den westlichen Werten und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker den Krieg erklärt. Diejenigen, die jetzt noch einen Kompromiss mit Russland suchen, relativieren und leugnen Russlands Schuld (so der Vorwurf bspw. gegen Linken-Politikerin Sarah Wagenknecht4).

In dieser Diskussion wird allerdings oft verkannt, dass die Frage der Schuld Russlands verhältnismäßig irrelevant ist für die Frage, ob eine europäische Intervention – sei sie direkt oder indirekt – geboten sei. Denn wer nur nach einer objektiven Begründetheit einer Handlung fragt, verkennt sämtliche sozialen, symbolischen und strukturellen Dimensionen der Handlung. Nicht ohne Grund lehrt uns die Psychologie das Handeln selbst und nicht deren Begründetheit zu untersuchen. Wer beispielsweise eine panische Angst vor Spinnen hat, die einen dazu veranlasst alle dunklen und feuchten Räume zu meiden und stündlich das Zimmer nach dem gefürchteten Tier abzusuchen, der leidet unter einer phobischen Störung. Dieses Verhalten, das mit massiven Einschränkungen in das Leben des Betroffenen einhergeht, ist allerdings nicht weniger pathologisch in Ländern, die in der Tat vielen tödliche Spinnen eine Heimat bieten. Anders ausgedrückt kann ein Verhalten auch dann pathologisch sein, wenn es im einzelnen wohlbegründbar erscheint.

Konkret ist es in der Diskussion über die Schuld und die Verbrechen Russlands die gesellschaftliche Dimension der Schuld selbst, die verkannt wird. Der Psychoanalytiker Léon Wurmser arbeitete zurecht heraus, dass eine Schuldzuweisung seitens eines Staates meist die Funktion erfüllt, Kriegshandlungen zu legitimieren. Oder noch allgemeiner gefasst, dient eine Schuldzuweisung stets der Legitimation. Schuld fungiert (wie auch die Scham) gesellschaftlich als Machtschranke. Während die Scham sich dabei auf das eigene Versagen richtet, richtet sich die Schuld auf die willentliche oder ungewollte Verletzung der Rechte oder Bedürfnisse anderer5.

Die Konsequenzen für unsere Überlegungen über den Krieg in der Ukraine sind eindeutig. Die Schuldzuweisung seitens des Westens dient dazu eine bestimmte Intervention zu legitimieren. Selbst wenn wir erkennen, dass Russland sich schuldig gemacht hat, kann man doch zu dem Schluss kommen, dass Zugeständnisse zu Russland der richtige Weg sind. Ebenso muss man aber auch anerkennen, dass Russlands Angriff auf die Ukraine ein Verbrechen darstellt. Das ist auch dann noch der Fall, wenn wir davon ausgehen würden, dass auch die USA ein Kriegstreiber seien und NATO-Erweiterungen eine direkte Aggression gegenüber Russlands darstelle. Und schließlich schließt eine Schuld seitens Russlands keinesfalls logisch aus, dass auch der Westen Machtinteressen in Osteuropa verfolgt.

In den Fängen des Man

Wer Aussagen – egal von welcher Seite – zum aktuellen Krieg oder zum Krieg allgemein hört, der wird ein Wort so gut wie nie zu hören bekommen: Ich. Kaum einer äußert sich in die Richtung »… für die westlichen Werte lege ich mich gerne in den Schützengraben…« oder »… bei solchen Verbrechen muss ich einfach zur Waffe greifen…«. Stattdessen fällt in Diskussionen über die Konsequenzen aus Kriegsgeschehnis immer dieses andere, ominöse Wort: Man. Wer hier unterstellt, dass Man in diesem Kontext so viel bedeutet wie jemand anderes, der macht es sich ein wenig zu leicht. Denn dieses Wort würde in der Äußerung von Soldaten, die durchaus in Ukraine geschickt werden könnten, nicht in geringerer Dichte fallen.

Tatsächlich verstrichen viele Jahrhunderte, bis der Philosophie auffiel, wie schwierig besagtes Man zu fassen ist. Erst Martin Heidegger führte eine systematische Analyse dieses Begriffes und alle damit verbundenen Konstrukte des Denkens in die Philosophie ein. Man könnte sagen, Heidegger verhielt sich wie ein philosophischer Voyeur: er bespitzelt das Subjekt in seiner Anonymität des Banalen und des Durchschnittlichen. Was damit gemeint ist, kann schon verstanden werden, wenn man einfach seinen Assoziationen folgt. »Man müsste mal etwas tun!« »Was man eben so im Urlaub macht!« »Was man so empörend findet«6. Der Mensch ist in dem Sinne unfrei, dass er durch seine Umwelt, durch soziale Normen und durch Traditionen (bei Heidegger Mitwelt) in seiner Handlungsfreiheit beschränkt ist. Dabei bleibt allerdings die Einschränkung unserer Handlungsalternativen recht anonym. Es ist nicht eine benennbare Person, die uns einschränkt, sondern ein Gesamtkonstrukt7. Das Man ist also eine Un-Person, das Nicht-Subjekt, die anonyme Einzelbeobachtung im empirischen Durchschnitt.

Die anonyme Unbestimmtheit des Man birgt aber darüber hinaus auch noch die Möglichkeit des Verdrängens. Die Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit, mit dem Sein zum Tode, wird in die Sphären wabernder Unbestimmtheit verschoben. Gerade deshalb wies der niederländische Philosoph Peter Sloterdijk zurecht darauf hin, dass das Denken im Man zentral für die Auseinandersetzung mit dem Kriege und somit auch für jede damit in Verbindung stehender Rhetorik ist. Sloterdijk will ich hier einmal im Wortlaut zitieren:

,,Wer aufrüstet, ersetzt den »Mut zur Angst vor dem eigenen Tod« durch militärischen Betrieb. Das Militär ist der größte Garant dessen, daß ich nicht meine »eigenen Tod« sterben muß; es verspricht mir Hilfe beim Versuch das »Ich sterbe« zu verdrängen, um an seiner Stelle einen Man-Tod zu bekommen, einen Tod in absentia einen Tod in politischer Uneinigkeit und Betäubung. Man rüstet, man zerstreut sich, man stirbt. (…) Was die Gesellschaft uns als Zweck in ihrem Betrieb vorgibt, bindet uns immer schon ins uneigentliche Dasein. Der Weltbetrieb tut alles, um den Tod zu verdrängen – während jedoch »eigentliches« Existieren sich erst daran entzündet, daß ich wach erkenne, wie ich in der Welt stehe, Aug in Aug mit der Todesangst (…)8

Diese existenzialistische Pointe ist es, die wir in der Auseinandersetzung mit dem Ukraine-Krieg erkennen müssen. Ich selber könnte im Falle einer weiteren Eskalation des Krieges zwischen Russland und dem Westen fallen. Aber auch: Ich selber könnte im Krieg sterben, so man Russland nicht Einhalt gebietet. Natürlich ist diese Einsicht trivial, doch ist sie eben der Faktor, den alle Diskussionen gerade zu umschiffen versuchen. Selbst dort, wo der Tod explizit genannt wird (z.B. bei den gefallenen ukrainischen Soldaten), dort wird er zum Mittel zum Zweck degradiert. Darin eben liegt die Gefahr der Schuldfrage: Sie setzt den Zweck, nämlich die Sanktionierung der russischen Schuld, um dadurch den Tod des einzelnen einen höheren Sinn zukommen zu lassen.

Es geht an dieser Stelle nich darum ein rein egoistisch-libertäres Handeln zu propagieren, in dem jeder nur für sein eigenes (Über)Leben verantwortlich ist. Genauso gut kann man schließlich zu dem Schluss kommen, dass die westliche Demokratie und Rechtsstaatlichkeit den eigenen Tod (oder den der Söhne) wert ist. Aber sollte dabei der Tod nicht verdrängt und zum bloßen Mittel zum Zweck degradiert werden. Er sollte stattdessen am Anfang der Überlegung stehen. Das Sein der Menschen ist ein Sein zum Tode. Es ist schließlich erst die zeitliche Begrenztheit der eigenen Existenz, die es einem erlaubt, ihr einen Sinn zu geben. Ich sterbe, die Frage ist nur wofür. In der aktuellen Diskussion sollte es also nicht darum gehen, Verantwortung, Pazifismus oder Schuld im Nebel des Allgemeinen zu verhandeln, sondern den Krieg vom eigenen Tod her zu denken. Deshalb sind auch Kriegsrhetorik und Anti-Kriegs-Rhetorik von der Logik her gleich: Sie beide dienen der Verdrängung.

Es ist also egal, welche Haltung man zu einer direkten oder indirekten Kofrontation mit Russland einnimmt. Zentral ist vielmehr, die Aktualität des zentralen Motivs des Barock nicht zu verkennen: Memento mori!


1 BR24 Redaktion (2022). ,,Aus der Zeit gefallen”: Scholz wirft Pazifisten Zynismus vor. BR24, 01.05.2022. https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/ukraine-waffen-kanzler-scholz-wirft-pazifisten-zynismus-vor,T4YjmN2

2 Die Welt (2022). ,,Ukraine Auslöschen: Putin wird sein Kriegziel nicht aufgeben. Welt Interview mit Elmar Brok. https://www.youtube.com/watch?v=GCoF83K5YjQ

3 Diese Erkenntnis ist zunächst recht banal, ist doch schließlich die Anti-Kriegs-Rhetorik nichts anderes als die Negation der Kriegsrhetorik. Die Negation invertiert die Logik des Objekts gegen das sie sich richtet.

4 Hauenstein, H. (2022). Sarah Wagenknecht bei Marcus Lanz: Der Westen eskaliert. Berliner Zeitung, 20.05.2022.

https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/sarah-wagenknecht-bei-markus-lanz-der-westen-eskaliert-li.228965

5 Wurmser, L. (1993). Die Masken der Scham – Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten. 3. erweiterte Auflage, Springer Verlag, Berlin, 112-153.

6 Heidegger, M. (1927). Sein und Zeit. CW Niemeyer Buchverlag, 125-130.

7 Ebd. i.V.m. Figal, G. (1992). Martin Heidegger zur Einführung. 7. vollständig überarbeitete Auflage, Junius Verlag GmbH, Hamburg, 2016, 65-81.

8 Sloterdijk, P. (1983). Kritik der zynischen Vernunft: Erster Band. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 383/384.


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Johann Alexander Betker

Student der Kognitiven Neurowissenschaften. Seit 2022 ist er Mitglied der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung. Seine Texte haben nicht den Anspruch einer politische Positionierung zu dienen, ebensowenig wollen sie die Gesellschaft transformieren. Vielmehr dienen sie dazu, neue Perspektiven in bestehenden Debatten aufzutuen. Seine Artikel finden also in dem Rahme dessen statt, was Marx als rücksichtslose Kritik bezeichnet: ,,Ist die Konstruktion der Zukunft und das Fertigwerden für alle Zeiten nicht unsere Sache, so ist desto gewisser, was wir gegenwärtig zu vollbringen haben, ich meine die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden, rücksichtslos sowohl in dem Sinne, daß die Kritik sich nicht vor ihren Resultaten fürchtet und ebensowenig vor dem Konflikt mit den vorherrschenden Mächten.” (Marx, 1843, MEW 1).

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