Russland? Russland!

Fremd und geheimnisvoll oder doch näher als man denkt? Als ich meinen Freunden erzählte, dass ich für ein Auslandssemester für sieben Monate nach Perm (Russland) gehe, war die mit Abstand häufigste Reaktion: „Russland? Warum das denn?!“ Nach wie vor kann ich die teils entsetzt klingende Frage nach dem „Warum“ nicht genau verstehen. Das einzige Warum, das mir bisher unbeantwortet blieb, ist das nach dem Desinteresse oder sogar der Ablehnungshaltung vieler Deutscher Russland gegenüber. Ich für meinen Teil kann nur sagen, dass ich damals mit Neugier, Vorfreude und einer Portion Respekt vor diesem riesigen und so fern scheinenden Land aufgebrochen bin. Und verliebt in eben dasselbe zurückkam.

Natürlich funktioniert Russland nicht wie Deutschland. Jedoch ist es bedeutend westlicher, als der durchschnittliche Westeuropäer annehmen mag. Kaufen kann man hier wie dort alles von Artischocken über Erdinger Weißbier bis hin zu Pringles. Allerdings mit dem kleinen Unterschied, dass dort die Supermärkte, sowie zahlreiche Apotheken und Blumengeschäfte 24/7 geöffnet sind. Ob man die 24-stündige Kaufmöglichkeit von Blumen mit dem in Russland noch stärker etablierten Chauvinismus begründen kann, dieses Urteil will ich mir nicht anmaßen.

Fest steht für mich aber, dass man im Alltag mehr Menschen und vor allem mehr junge Menschen und Kinderwägen auf den Straßen sieht. Die Anzahl der freundlichen Gesichter verhält sich dagegen eher umgekehrt proportional. Von den optisch nicht vor Glück strotzenden Russen sollte man sich allerdings nicht täuschen lassen. Hinter dieser rauen Fassade verbergen sich die herzlichsten und gastfreundlichsten Menschen. Und die sind im Großen und Ganzen fast genauso wie die Leute hier. Natürlich gibt es kulturelle Unterschiede: Es ist beispielsweise üblich, dass sich Männer untereinander mit einem Handschlag begrüßen, zwischen Männern und Frauen ist dies jedoch tabu. Darüber hinaus scheint in Russland auch unter jungen Menschen noch mehr Interesse an klassischer Kultur zu herrschen. So ist es dort für die meisten die normalste Sache der Welt, wenn auf einer Party jemand nach einigen Stunden Punkrock Lust hat, spontan ein Gedicht zu rezitieren. Verblüffenderweise sind dann alle ruhig und lauschen dem Vortragenden. Darüber hinaus beherrscht fast jeder ein Instrument, das häufig mit im Gepäck ist und zum gemeinsamen Singen verleitet. Das mag jetzt für die eine oder den anderen lahm klingen, aber glaubt mir, das ist es nicht.

Stereotype, die meiner Meinung nach aber zutreffen, sind zum einen der doch recht etablierte Vodkakonsum (auch wenn es sich dabei nicht zwangsläufig um die Müsliflüssigkeit handelt). Er ist abgesehen von Bier eines der beliebtesten alkoholischen Getränke. Ob es am gelegentlichen Alkoholgenuss liegt, dass eine Vielzahl der jungen Männer meint, ein Vokuhila sei eine schmückende Frisur, bleibt wohl vorerst ungeklärt. Aber dass Geräusche, die einer Pferdekutsche zum Verwechseln gleichen, einfach von einer der zahlreichen Gruppen junger Mädchen auf High Heels stammen, gehört mindestens genauso zu einer typischen Erscheinung.

Dass sich Vokuhila und High Heels voneinander angezogen fühlen, konnte ich auf der Hochzeit eines russischen Freundes miterleben. Ich war von der ganzen Sache zwar nicht 100 Prozent überzeugt, da sich die beiden gerade mal zwei Monate kannten. Aber was soll‘s, immerhin kostet eine Scheidung in Russland umgerechnet gerade mal zehn Euro.

Von Nora Prüfer