Neonazis in Lüneburg

Meinungsfreiheit gilt in Deutschland als Grundrecht und ist als solches im Grundgesetz verankert. Ihre Einhaltung zu gewährleisten, erfordert Toleranz. Wenn es sich bei einer Meinung allerdings um menschenverachtende Propaganda handelt, fällt das Tolerieren nicht ganz leicht.

Am 3. Dezember 2008 zog das Kleidungsgeschäft „Hatecore“ in die Altenbrückertorstraße in Lüneburg. Der seit 1998 in Lüneburg ansässige Laden, der vorher unter anderem Namen seinen Sitz in der Neuen Sülze hatte, bietet unter anderem Kleidung der rechtsextremen Marken „Thor Steinar“, „MaxH8“ oder „Eric & Sons“ an. Der Inhaber Christian Sternberg rief in der Vergangenheit mehrmals zu Neonaziaufmärschen auf, unter Mottos wie z.B. „Gegen linke Gewalt.“ Mit Erfolg. Zwar konnte das Lüneburger Bündnis „Netzwerk gegen Rechtsextremismus“ Gegendemonstrationen mit zahlenmäßig weit überlegenen Teilnehmern ins Leben rufen, aber gekommen sind die Neonazis immer.

Die „linke Gewalt“ richtete sich angeblich gegen die Fensterscheiben des Bekleidungsgeschäfts, die bereits mehrmals beschädigt worden sind und mittlerweile nachts mit einer Sperrholzplatte geschützt werden. Fakt ist, dass bis jetzt kein Täter ausfindig gemacht werden konnte. Es wird sogar darüber spekuliert, ob der Steinewerfer nicht aus den eigenen Reihen stamme, um Aufmerksamkeit zu erregen und eine angebliche „linke Gewalt“ zu inszenieren.

Wie fühlen sich die Lüneburger beim sonntäglichen Kirchgang in die St. Johannis Kirche direkt gegenüber des faschistischen Ladens, der auch als Treffpunkt für Anhänger der rechten Szene dient? Was sagen die Barkeeper der benachbarten linken Kneipe „Jekyll&Hyde“, wenn sie täglich von glatzköpfigen Rechtsradikalen beobachtet und sogar belästigt werden?

Was kann eine Stadt wie Lüneburg tun, die Rechtsextremismus keinen Raum geben will?

Historisch gesehen gehört Lüneburg zu einem Rückzugsgebiet von Nationalsozialisten nach dem Zweiten Weltkrieg. Viele Lehrer und Beamte behielten nach 1945 ihre Posten, da die Alliierten das Entnazifizierungsprogramm relativ schnell beendeten und zum „Alltagsgeschäft“ übergingen. Wahrscheinlich konnte sich auch deshalb ein so feines Netz von rechten Organisationen in Lüneburg, Uelzen und Umgebung spinnen, welches heute im Stande ist, Neonazis für Mahnwachen zu mobilisieren und rechtsradikale Propaganda zu verbreiten.

Der Lüneburger Antifaschist Olaf Meyer spricht von drei rechten Segmenten in Lüneburg. Zum einen gäbe es den Kameradschafts Trupp 16 (die Ziffer 16 stehe hierbei für die einstige Standarte der SA-Einheit im Bezirk Lüneburg; die Übernahme der Nummern der SA-Standarten sei bei Kameradschaften relativ gängig). Als zweites und drittes Segment nennt er die NPD und die DVU, wobei letztere eine eher unbedeutende Rolle spiele.

Die NPD hingegen sei seit Generationen mit der Region verwurzelt. Führende Köpfe der NPD waren während der Gründungsphase der Partei in Lüneburg beheimatet. Schlüsselfiguren wie der derzeitige Vorsitzende des Unterbezirks Lüneburg der NPD, Manfred Börm, spielen in der Parteiarbeit, besonders in Bezug auf Jugendarbeit, eine wichtige Rolle. So hätte er auch als Ordnungsdienstleiter (intern disziplinierender Schlägertrupp der NPD) fungiert, habe Jugendarbeit bei der Wiking Jugend und bei der Heimtatreuen Deutschen Jugend (HDJ) betrieben und sei bereits in den 1980er Jahren für die Rekrutierung und Schulung junger Skinheads verantwortlich gewesen. Zu seinen Zöglingen würden auch die aktuellen Protagonisten der Lüneburger NPD zählen: Christian Berisha, der für die Unabhängige Wählerliste (UWA) einen Sitz im Lüneburger Kreistag inne habe sowie Michael Grewe, der als Abgeordneter der NPD in einem Kreistag in Sachsen Anhalt tätig sei und Paul Plagemann, der als Kopf der Kameradschaft Trupp 16 operiere, sowie in führender Position am Netzwerk der Nationalen Sozialisten (NNS) beteiligt und Inhaber des Lüneburger Tattoo-Shops „Black Crow“sei.

In den vergangenen zwei Jahren habe sich die Szene deutlich verjüngt, womit sich auch die Etablierung des „Hatecore-Shops“ verbinden ließe, deren Kundenklientel hauptsächlich aus Jugendlichen bestehe. In diesem Zusammenhang geht Olaf Meyer auch davon aus, dass die Neonaziaufmärsche für Christian Sternberg eine ideale Werbeplattform für sein Geschäft darstellten.

Unmittelbar Beteiligte, wie z.B. Anwohner und Ladenbesitzer in der Nachbarschaft von „Hatecore“, fühlen sich nicht nur durch den rechten Laden an sich gestört, sondern auch durch die zunehmenden Auseinandersetzungen zwischen Rechten und Linken, die teilweise direkt vor ihrer Haustür ausgetragen werden und häufig nur durch das Einschreiten der Polizei aufgelöst werden können.

Das Bündnis „Netzwerk gegen Rechtsextremismus“, das aus 63 Mitgliedern, Lüneburger Vereinen, Parteien, der Antifa, der Kirche, der Universität und Gewerkschaften besteht, hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Rechtsradikalismus in Lüneburg öffentlich zu bekämpfen. „Keine Neonazis in unserer Stadt“, so lautete das Motto der Gegendemonstration am 23. Mai 2009. Doch vor Allem sehen sie die Chance, Neonazis in Lüneburg den Nährboden zu nehmen, indem sie mit Hilfe von Bildungs- und Aufklärungsarbeit Bürgerbewusstsein stärken.

Der Superintendantin der St. Johannis Kirche, Christine Schmid, liegt die Zusammenarbeit mit Schulen und Jugendlichen besonders am Herzen, um wirkungsvoll und nachhaltig gegen Rechtsradikalismus vorgehen zu können. Das breite Spektrum des Bündnisses verspricht vielfältige Ansatzpunkte und wird von den meisten Mitgliedern als Bereicherung angesehen. Es kam jedoch in der Vergangenheit auch zu Unstimmigkeiten innerhalb des Netzwerkes, sodass sich Mitglieder von Aussagen anderer Mitglieder öffentlich distanzierten. Dies sei auch der Grund, warum sich z.B. die CDU nicht am Bündnis beteilige: Sie könne nicht mit einer linksextremen Organisation wie der Antifa zusammenarbeiten.

Dabei gebe es laut Ariane Mahlke-Voss, Ratsfrau der Grünen, klare Vereinbarungen zur Gewaltfreiheit der Antifas, an die sie sich immer gehalten hätten. Auch Hiltrud Lotze, SPD-Bundestagskandidatin schätzt die Beteiligung der Antifa: Sie sei „sehr wertvoll“, weil die Antifa-Aktiven über Kenntnisse der Szene verfügten, die hilfreich seien. Außerdem, betont Ariane Mahlke-Voss, seien wir doch eigentlich alle Antifaschisten.

Vielen Bürgern und Politikern ist die Situation der Neonazi-Szene in Lüneburg entweder noch gar nicht oder erst vor wenigen Monaten bewusst geworden. Nach der Demonstration am 11. April diesen Jahres beklagten sich viele Geschäftsinhaber aus der Lüneburger Innenstadt in der lokalen Presse über Umsatzeinbußen an diesem Tag. Doch genau dies ist das Problem: Es mangelt noch immer an Wissen über rechtsradikale Strukturen und Arbeitsweisen. Die von Neonazis ausgehende Gefahr wird von einem Großteil unterschätzt. Dass Umsatzeinbußen ein kleineres Übel darstellen als zu schauen zu müssen, wie rechtsextreme Gruppen ungehindert durch Lüneburg marschieren, ist für wenige selbstverständlich.

Dem Vermieter des „Hatecore-Shops“, der namentlich nicht genannt werden möchte, sei nicht klar gewesen, auf wen er sich als Mieter eingelassen habe. Er sei über die Art der Verkaufsware getäuscht worden. Da man dem Ladenbesitzer aber in Bezug auf Täuschung oder dem Vertrieb von verfassungsfeindlichen Artikeln nichts nachweisen könne, habe er nichts gegen ihn in der Hand. Der Vermieter erklärte weiterhin, dass dem Mieter bereits gekündigt sei und dieser zum 31.12. diesen Jahres das Geschäft räumen müsse.

 

Bedeutet dies also, dass ab dem 1.1.2010 der ganze Spuk vorbei ist? Vermutlich nicht. Christian Sternberg wird eine neue Ladenfläche finden und die Neonazi-Szene in Lüneburg einen neuen Treffpunkt.

Besonders in Zeiten einer instabilen Wirtschaftslage und den damit verbundenen eventuellen Folgen, wie z.B. Arbeitslosigkeit, einer wachsenden Kluft zwischen sozialen Schichten und Vertrauensverlust in die regierende Politik, muss der Entwicklung neonazistischer Subkulturen verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Schließlich leben wir in einem Deutschland, das sich durch bunte Multikulturalität auszeichnet und als solches, als modernes, weltoffenes Einwanderungsland geschätzt wird. Und dabei soll es auch bleiben.

Lisa Otto