Musikalischer Streichelzoo

Irgendwo zwischen Akustik-Session, melodischer Gute-Nacht-Geschichte und Hardcore-Punk: mewithoutYou veröffentlichen mit „Ten Stories“ ihr fünftes Studioalbum.

Am 8. Februar 1878 verunglückte ein Zirkuszug in der Nähe von Philadelphia. Die Waggons entgleisten und rissen Tierkäfige mit. Ein Elefant befreite sich und richtete an der Unfallstelle ein gehöriges Chaos an. Unter anderem öffnete er in seiner wilden Trampelei den Käfig des Löwen.

Als die Polizeibeamten kurze Zeit später über den Bahndamm marschierten, sahen sie den geöffneten Käfig. Und das eigentlich wilde Tier, das freiheitsliebende und aggressive Zirkusmonster,  saß weiterhin seelenruhig in seinem Gefängnis. Der Löwe hatte sich so sehr daran gewöhnt, dass sein Wunsch nach Freiheit gestorben war. Die Beamten erzählten später, dass die Augen des Tieres grau gewesen sind.

Handzahm oder doch ein wenig mehr Gebrüll? © Fiona Dahncke

Das ist der Handlungsrahmen hinter „Ten Stories“, dem fünften Studioalbum von mewithoutYou. Angefangen haben die Herren um den charismatischen Sänger Aaron Weiss als Hardcore-Punkband. Später wurden ihre Songs dann feiner, melodischer und somit reicher. Bereits auf dem letzten Album, welches fast ausschließlich aus Akustiksongs besteht, haben mewithoutYou mit Symbolen und Tierfabeln gearbeitet. Konsequent wird dieses Motiv hier fortgesetzt und so entsteht ein musikalischer Streichelzoo aus Füchsen, Bären, Elefanten und dem abgestumpften Löwen.

Gesangstechnisch beweist Aaron erneut eine enorme Bandbreite an Stimmvariationen. Liest er in einem Moment noch Gutenachtgeschichten vor, flüstert verspielt und kindlich vor sich hin, so spuckt und knallt er im nächsten Moment dem Hörer in bester Tourette-Manier einen lautstarken Klangteppich um die Ohren. Sein besänftigendes Flüstern wird in Keifen aufgebrochen und offenbart dabei eine gehaltvolle Widersprüchlichkeit an brachial ehrlichen Emotionen. Als hätte sich um Hazel aus „Unten am Fluss“ eine melodieverliebte Punkband gebildet.

Herausgekommen ist bei „Ten Stories“ ein gutes, aber kein großartiges Album. Einzig der Auftaktsong „February 1878“ und „Fox’s Dream of the Log Flume“ stechen wirklich hervor. Handwerklich gut umgesetzt, sind es dynamische Songs, farbig und facettenreich. Stilistisch schwebt es irgendwo zwischen dem sanften Vorgängeralbum und dem Hardcore-Punk von früher. Aber es ist ein unentschlossenes Album. Es klemmt irgendwo zwischen Vergangenheit und Eingängigkeit fest, zwischen Wut und Träumerei.

Was verbleibt ist ein gutes Album, dass nur allzu gerne das Meisterwerk „Brother, Sister“ von 2006 zitiert, dabei eigene Akzente setzt und beim Hörer unweigerlich eine Flut an gedanklichen Bildern entstehen lässt.

Kostproben:

> Song „Fox’s Dream of the Log Flume“
> Song „Timothy Hay“ (Sleepover Shows Video)
> Facebook-Seite

Autor: Matthias Jessen