Morgen ist auch noch ein Tag!

Über das weit verbreitete Problem der Prokrastination

„Prokrastination – ein Problem, das ich direkt morgen angehe!“ Viele von euch kennen bestimmt diese StudiVZ-Gruppe oder sind vielleicht schon selbst eingetreten. Über 2000 Mitglieder, Tendenz steigend, gehören ihr bereits an. Doch was verbirgt sich eigentlich dahinter?

Etwas, das wohl fast jeder kennt: Von Prokrastination spricht man, wenn jemand Dinge, die er erledigen muss, immer wieder aufschiebt. Oft geht dieses Verhalten mit diversen Ablenkungstaktiken einher. Wer wurde nicht schon in Klausurphasen zum Putzteufel, Daily-Soap-Experten oder Spitzenkoch?

Besonders unter Studierenden ist Aufschiebeverhalten weit verbreitet. Während in der Normalbevölkerung 40 % angeben, Probleme mit Aufschiebeverhalten zu haben, sind es unter den Studenten ganze 70 %. Hier spricht man oft von „academic procrastination“. Auch Dr. Rolf Wartenberg von der Psychotherapeutischen Beratungsstelle des Studentenwerks in Lüneburg ist mit dem Problem Prokrastination vertraut. Er sieht die Ursachen in der hohen Selbstverantwortung während des Studiums: „Studenten tragen von Beginn ihres Studiums an plötzlich für alles selbst die Verantwortung. Schlagartig ist ihr Leben viel weniger strukturiert als es noch zu Schulzeiten der Fall war, als die meisten noch bei den Eltern lebten. Daran müssen sich viele erst gewöhnen.“ Nimmt man sich also vor, am nächsten Morgen pünktlich am Schreibtisch zu sitzen, verquatscht dann aber doch den ganzen Vormittag mit der Mitbewohnerin am Küchentisch, so ist man dafür niemandem Rechenschaft schuldig – außer sich selbst. Früher hingegen kontrollierten Eltern und Lehrer das Lernverhalten. Und im Beruf würden zu häufige Tratsch- und Kaffeepausen sofort negativ auffallen und vermutlich einen Rüffel durch den Vorgesetzten zur Folge haben. Für den Studenten hingegen liegen die Konsequenzen für sein Verhalten noch in weiter Ferne. Schließlich sind es ja noch vier Wochen bis zur Abgabe der Hausarbeit …

Wirklich wohl fühlen sich die meisten von Aufschiebeverhalten Betroffenen jedoch nicht. Auch wenn einem Ersatztätigkeiten wie Putzen oder Geschirr spülen kurzfristig das Gefühl geben, man habe ja etwas Sinnvolles getan, kann man sich selbst auf Dauer nicht täuschen. Das dauernde Gefühl, eigentlich müsse man ja lernen, kann einem irgendwann komplett die Freizeit vermiesen.

Warum also nicht einfach den inneren Schweinehund überwinden und sich voller Tatendrang an den Schreibtisch setzen? „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen!“, mahnt schließlich auch der Volksmund. Doch so einfach ist das nicht. Die Gründe fürs Aufschieben sind zahlreich. Oft will man unangenehmen Aufgaben ausweichen und entlastet sich, in dem man diese aufschiebt, sagt Psychotherapeut Wartenberg. Nun sei aber die Frage, ob man durch diese Entlastung Zeit gewinne, um sich zu sammeln und schließlich mit der Arbeit anzufangen, oder ob man durch das positive Gefühl der Entlastung beginne, immer wieder Dingen auszuweichen.

Auch mangelnde Motivation kann laut Rolf Wartenberg ein Grund sein. Generelle Demotivation und Desinteresse sieht er jedoch nicht als das Kernproblem an. Vielmehr sei es so, dass die meisten ein bestimmtes Motivationsmuster haben und sich für einen bestimmten Typ von Aufgaben besonders gut motivieren können: „Jemand, der sehr gern strukturiert arbeitet und schrittweise Erfolge braucht, kann nicht gut damit umgehen, wenn plötzlich der Überblick fehlt, z. B. weil das Thema sehr vage formuliert ist. Folglich tut er sich schwer, mit der Aufgabe zu beginnen.“

Manchmal liegen die Gründe jedoch tiefer. Verhaltensforscher fanden heraus, dass oft psychische Ursachen zu Aufschiebeverhalten führen. Starke Versagensängste, ein geringes Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl oder übertriebener Ehrgeiz können zu Prokrastination führen. Man zweifelt an sich selbst und hat das Gefühl, es sowieso nicht richtig machen zu können. So verliert man den Mut, überhaupt mit der Aufgabe zu beginnen. Auch wer sich schnell unter Druck gesetzt fühlt oder sogar an Depressionen leidet, neigt oft zum Aufschieben.

Doch wie kann man diesen Problemen begegnen? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass gelegentliche Unlust, eine unangenehme Aufgabe zu beginnen, noch lange kein Problem darstellt – sie ist bis zu einem gewissen Grad ganz natürlich. Wird aus gelegentlichem Unmut jedoch die Unfähigkeit, wichtige Aufgaben rechtzeitig zu beginnen und zieht dieses Verhalten negative Konsequenzen nach sich, zum Beispiel, dass man regelmäßig eine Woche vor den Klausuren in totale Panik verfällt, weil man wieder nicht rechtzeitig mit dem Lernen angefangen hat, sollte man etwas dagegen unternehmen.

Liegen bestimmte persönliche Schwachstellen vor, wie zum Beispiel Prüfungsangst oder Konzentrationsschwierigkeiten, so muss man diese Schwächen aufarbeiten, um Prokrastination in Zukunft zu vermeiden. Dies kann durch Selbsthilfebücher oder auch psychotherapeutische Beratung geschehen.
Mit den dortigen Mitarbeitern kann man eine Art „Trainingsprogramm“ absolvieren, um seine Schwächen zu überwinden.

„Meistens ist es so, dass sich viele nicht im Klaren sind, dass ihre Stärken gleichzeitig auch Schwächen sind. Jemand, der sehr begeisterungsfähig ist, lässt sich folglich auch leicht ablenken. Oder jemand, der sehr anspruchsvoll und diszipliniert ist, ist oft viel zu pingelig und verliert sich in Details. So etwas hat fast jeder schon einmal erlebt. Darüber muss man sich im Klaren sein, um sich dagegen wappnen zu können. Dabei können wir helfen“, erklärt Rolf Wartenberg.

Liegt die Ursache der Prokrastination jedoch in einer ernsten psychischen Störung oder Erkrankung, wie z. B. einer Depression, sollte man sich in therapeutische Behandlung begeben.

Christina Hülsmann