Mit scharfer Feder

3 weiterführende Überlegungen zur Lage der deutschen Presselandschaft

Die von Harald Welzer und Richard David Precht in ihrem neuen Buch Die vierte Gewalt – Wie Mehrheitsmeinungen gemacht werden skizzierte Theorie dürfte auch jenen, die das Buch nicht gelesen haben, aus Zeitungen und Talkshows hinlänglich bekannt sein. Ich verzichte daher auf eine Zusammenfassung, zumal eine erneute Eindampfung der Thesen auch weder dem Buch noch seinem Erkenntnisanspruch gerecht werden dürfte. Stattdessen soll hier versucht werden, eine kritische Würdigung des Textes mit drei weiterführenden Überlegungen zu verbinden. Diese möchte ich als weiterführende Gedanken verstanden wissen, die einer empirischen Überprüfung aber noch bedürfen.

Der deutsche Journalismus – diese Aussage des Buches kann als unbestritten angesehen werden – steckt in einer tiefen Vertrauenskrise: Unter dem Titel Journalismus und Demokratie wird regelmäßig eine Umfrage bei einer repräsentativen Stichprobe an deutschen Staatsbürgern (N=1.002) durchgeführt. Im März diesen Jahres, berichtete die TU München, dass 43% der Befragten der pauschalen Aussage zustimmten, dass der Journalismus in den vergangenen Jahren (also in der Pandemie) schlechter geworden sei. Außerdem gaben 62% an, im Journalismus werde zu sehr auf Übertreibung und Skandalisierung gesetzt, und 28% stimmten der Aussage zu, der Journalismus habe den Kontakt zu Menschen wie ihnen verloren (TU München, 2022). Es wurde also ein dramatischer Vertrauensverlust der Presse in der Öffentlichkeit festgestellt. Entsprechend wichtig ist das Thema, das das Buch anspricht.

Überlegung 1: Wettbewerbsstrategien

Beginnen wir mit einer ökonomischen Überlegung. Da Zeitungen in Deutschland von privatwirtschaftlich organisierten Verlagshäusern herausgegeben werden, unterliegt jede Zeitung natürlich auch dem Druck, ihre Kosten zu decken und Profit zu erwirtschaften, um langfristig bestehen zu können. So schreiben Welzer und Precht:

,,Die bürgerliche Öffentlichkeit basiert also sowohl auf demokratischen Idealen wie auf Geschäftsinteressen. Und so erzeugt die Interessenfusion Publizität/Geschäft zwar eine reale bürgerliche Öffentlichkeit, aber seit der Aufklärungszeit selten eine ideale.“ (Welzer & Precht, 2022; 45)

Das Buch zeichnet recht deutlich eine mögliche Entwicklung nach, die die Medienbranche aufgrund der Digitalisierung durchlaufen, die sie verändert und den finanziellen Druck erhöht hat. Der klassische Markt für Printmedien schrumpft und so müssen die großen Verlagshäuser zum einen sparen und zum anderen Gewinne über digitale Angebote erwirtschaften. Außerdem kommt es zu einer verstärkten Monopolisierungstendenz bei den Verlagshäusern. Diese Verlagerung des Journalismus in die digitalen Sphären modifiziert allerdings zugleich die Logik, der der Journalismus folgt. Besonders in digitalen Medien, so Welzer und Precht, wird vor allem nach der Logik anderer Direktmedien operiert. Das Polarisationspotential, das in der digitalen Welt mit einer erhöhten Zahl an Aufrufen einhergeht, steht dabei im Vordergrund (Precht & Welzer, 2022). Der Spardruck, der durch den Wandel des Pressemarktes auf den einzelnen Medienhäusern lastet, unterstreicht somit, dass das berühmte Zitat Joseph Pulitzers1 noch immer das Gebot der Stunde ist:

,,Das größte Problem des Journalismus liegt darin, einem Auflageninstinkt ohne Rücksicht auf Wahrheit und Gewissen zu widerstehen.” (Pulitzer; Ziziert gemäß: Hesse, 2019)

Die Frage, die hier gestellt werden soll, ist die, ob die Transformation des Geschäftsmodells, die viele Medien gewählt haben, ökonomisch sinnvoll ist. In den Betriebswissenschaften unterscheidet man klassischer Weise zwischen drei Strategien, die ein Unternehmen wählen kann, um wettbewerbsfähig zu bleiben: 1) Kostenführerschaft, 2) Qualitätsführerschaft und 3) Konzentration auf Schwerpunkte. Unter Kostenführerschaft versteht man, dass ein Unternehmen dadurch wettbewerbsfähig bleibt, dass es seine Waren billiger anbietet als seine Kontrahenten. Qualitätsführerschaft hingegen bedeutet, dass ein Unternehmen besonders hochwertige Waren anbietet, allerdings auch zu einem höheren Preis. Von der Wettbewerbsstrategie der Konzentration auf Schwerpunkte spricht man dann, wenn ein Unternehmen Produkte anbietet, die ideal auf eine bestimmte Kundengruppe und deren Bedürfnisse abgestimmt sind., wenn also eine Marktnische bedient wird (Porter, 1980).

Die zweite und dritte Wettbewerbsstrategie lassen sich analog auf die Medienbranche übertragen. Ein Medienunternehmen, dessen Wettbewerbsstrategie auf Qualitätsführerschaft setzt, tut sich dadurch hervor, dass es besonders hochwertige und gut recherchierte Berichte produziert. Die Strategie der Konzentration auf Schwerpunkte hingegen manifestiert sich in der Medienbranche in der Bereitstellung von Produkten, die nur für einen kleinen Kundenkreis von Interesse sind. Man denke in diesem Zusammenhang beispielsweise an Zeitschriften wie Fisch und Fang (für Angler) oder den National Geographic. Etwas schwieriger sieht es schon bei der Kostenführerschaft aus. Tageszeitungen unterscheiden sich meist kaum im Preis und die Inhalte des öffentlich rechtlichen Rundfunks sind für alle zugänglich. In der klassischen Güterproduktion stellen Kosten- und Qualitätsführerschaft gewöhnlich Gegensätze dar, weil sich hochwertige Ware nicht ohne weiteres billig produzieren lässt. Die Kunden wissen um diesen Umstand und machen Abstriche bezüglich der Qualitätserwartung, sofern das Gut zu einem Preis angeboten wird, den sie sich leisten können. In Analogie dazu könnte man die Kosten der Medienproduktion in dem dazu benötigten Zeitaufwand sehen. Einen qualitativ hochwertigen Bericht zu erstellen, bedarf eines hohen Rechercheaufwands, d.h. es braucht Zeit, während das Veröffentlichen einer Pressemeldung sich ohne großen Zeitaufwand bewerkstelligen lässt. Die Strategie der Kostenführerschaft fahren also in der Medienbranche vor allem solche Formate, die in Echtzeit Informationen liefern. Man denke da beispielsweise an den Fernsehsender N24.

Grundsätzlich zahlt es sich für Unternehmen aus, sich bei Angebot und Marketing für eine dieser drei Wettbewerbsstrategien zu entscheiden. Die Bedienung aller Kundensegmente ist fast nie möglich. So wird ein Unternehmen, das versucht, hochwertige Ware neben billiger anzubieten, mit hoher Wahrscheinlichkeit scheitern. Kunden, die Wert auf eine hohe Qualität legen, fühlen sich von den billigen Produkten im Sortiment abgeschreckt und Kunden, denen ein geringer Preis wichtig ist, von den hochwertigen aber teuren Produkten. Das Unternehmen droht dadurch nicht wettbewerbsfähig zu sein. Diese Gefahr bezeichnet Michael E. Porter als Stuck-in-the-Middle (Porter, 1980). Daraus lässt sich für den Journalismus eine simple Konsequenz ableiten: Echtzeitberichterstattung ist auf hohem Niveau gar nicht möglich. Gut recherchierte Berichte hingegen bedürfen eines hohen Aufgebots an Personal und Zeit. (Man könnte ja mal überlegen, ob man in diesem Zusammenhang nicht so mutig sein sollte und ruhig von mehreren Tagen sprechen sollte).

Des Weiteren kann die Frage gestellt werden, inwiefern es für eine Nachrichtensendung oder eine Tageszeitung überhaupt sinnvoll erscheint, mit schnellen Direktmedien konkurrieren zu wollen. Die Nachfrage nach Information in Echtzeit ist schließlich doch durch entsprechende Angebote in sozialen und digitalen Medien bereits gedeckt. Qualitativ hochwertige Berichte hingegen sind eben das, was dort nicht erstellt werden kann.

Überlegung 2: Politischer Tribalismus

In der Sendung Markus Lanz vom 29. September 2022 warf der Journalist Robin Alexander (Die Welt) den beiden Autoren vor, sie behaupteten, die Journalisten ,,plappern der Regierung nach“ (Lanz, 2022). Zunächst lässt sich objektiv festhalten, dass im Buch nichts vorkommt, was diesen Vorwurf rechtfertigt. In einem Land, das sich Pressefreiheit auf die Fahne geschrieben hat, würde eine solche Aussage natürlich auch zurecht abwegig anmuten. Doch lassen sich Klagen darüber, dass der Journalismus die Aussagen der Politik übernimmt, auch anders interpretieren, man muss die Begriffe nur ein wenig weiter fassen. Ein Gedankenexperiment soll diese Überlegung veranschaulichen.

Der amerikanische Politikwissenschaftler Jason F. Brennan (dessen Ansichten zur Epistokratie als beste Staatsform man durchaus kritisch sehen kann) stellte im Bezug auf die USA eine interessante Überlegung an, die wir hier einmal an die Bundesrepublik anpassen wollen: Stellen wir uns vor, wir würden eine Liste politischer Themen anfertigen. Es ließe sich beispielhaft folgende Liste polarisierender politischer Themen erstellen: 1) Waffenlieferung an die Ukraine, 2) Frauenquote, 3) Gendersprache, 4) Legalisierung von Cannabis, 5) Erhöhung der Erbschaftssteuer, 6) vollständige Legalisierung von Abreibung, 7) Ausweisung von straffällig gewordenen Asylsuchenden, 8) bedingungsloses Grundeinkommen, 9) Atomausstieg, 10) Energie- und Mobilitätswende

Ist die Haltung einer beliebigen Person zu einigen der oben genannten Themen bekannt, so lässt sich die Haltung gegenüber den Verbleibenden recht gut vorhersagen. Bei genauerer Überlegung ist dies ein recht sonderbares Phänomen, schließlich haben die einzelnen Themen eine recht geringe inhaltliche Überschneidung. Bei jedem der zehn Themen sind andere Faktoren für die Sinnhaftigkeit einer Position entscheidend. Die Argumente die sich für oder gegen eine der Forderungen anführen lassen, sind für die übrigen Themen irrelevant. Nun ließe sich einwenden, dass trotz fehlenden logischen Zusammenhangs zwischen den Themen eine Prognose auf die Einstellung in anderen Diskursen möglich ist, da die Vertreter der einen Position besser darin sind sich von Fakten leiten zu lassen. Anders ausgedrückt sind die Ansichten dadurch verbunden, dass sie die ,,richtigen“ sind und manche Menschen einfach besser darin sind, die ,,Wahrheit“ zu erkennen. In der Tat würde dies erklären, warum sich von der Einstellung zu einigen wenigen Themen logisch auf die Einstellung der übrigen schließen lässt. Das gilt allerdings nur in eine Richtung. Denn bei denjenigen, die die gegenteilige Ansicht vertreten, müssen wir davon ausgehen, dass sie besonders schlecht darin sind, die ,,Wahrheit“ zu erkennen. Das erklärt allerdings nicht, weshalb auch in ihrem Fall mit hoher Trefferquote auf die unbekannten Einstellung geschlossen werden kann. Würde sich besagte Gruppe leicht von Gefühlen, Sympathien oder Propaganda in die Irre führen lassen, so müsste man annehmen, dass deren Einstellungen mehr oder weniger zufällig verteilt sind. Die beste Erklärung für das skizzierte Phänomen in beide Richtungen bietet die Annahme, der Mensch verhielte sich tribalistisch. Weil sich bestimmte Parteien innerhalb ihrer politischen Ausrichtung für oder gegen bestimmte Themen positionieren, teilen Menschen auch zumeist deren Positionen gemäß ihrer eigenen politischen Verortung (Brennan, 2016).

In diesem Sinne lässt sich der Vorwurf, die Journalisten folgten den Narrativen der Politik, auch wie folgt interpretieren: Die Besetzung von Themen durch die Parteien setzt den Wahrnehmungsrahmen der diskutierten Themen. Dadurch, dass Parteien mit einem bestimmten politischen Profil sich zu einzelnen gesellschaftlichen Fragen positionieren, definieren sie, was die linke, die rechte oder die liberale Haltung bezüglich eines bestimmten Themas ist. Der Intergroup Bias sorgt nun dafür, dass Menschen sich gemäß ihrer eigenen politischen Identifikation an besagten Positionierungen orientieren. Da auch Journalisten eine klare Vorstellung von der eigenen politischen Identität haben, dürften besagte Effekte auch ihre Arbeit beeinflussen. Die Frage bleibt, wie der Einfluss des gruppendefinierten Mitte-Links-Rechts-Denkens auf die journalistische Arbeit zu minimieren ist…

Dazu muss man verstehen, worin sich dieser Einfluss manifestiert. In der Sozialpsychologie wird der Einfluss der Gruppenzuordnung auf das eigene Verhalten, den auch Welzer beschreibt, oft als Intergroup Bias bezeichnet. (Hewstone et al., 2002). Diverse Faktoren spielen dabei eine Rolle. Eine Interpretation des Phänomens besagt, dass der Mensch danach strebt subjektive Unsicherheit zu reduzieren. Dabei identifiziert er sich mit sozialen Gruppen, die klare normative Vorgaben machen (Hogg, 2000; Hogg & Abrams, 1993).

Der Einfluss von Konformitätsdruck auf das menschliche Verhalten konnte in diversen Studien anschaulich demonstriert werden. Einige der bekanntesten Studien sind in dem Buch beschrieben. Das Buch fasst noch eine besonders interessante Studien zusammen, die Anhaltspunkte dafür liefert, dass Konformitätsdruck nicht nur das Verhalten sondern bereits die Verarbeitungsmechanismen der Wahrnehmung beeinflusst. Die Teilnehmer der Studie (N=21) wurden zunächst mittels eines validierten Fragebogens in zwei Gruppen aufgeteilt; in Probanden mit einem hohen oder einem niedrigen Grad an Autonomie. Während des Experiments wurden sie vor einen Bildschirm gesetzt und sollten zunächst ein Kreuz in der Mitte fokussieren. Als Stimuli dienten Bilder mit unterschiedlichem Gehalt an schwarzen Punkten, deren Erscheinungsbild an einen QR-Code erinnerte. Die Stimuli variierten in ihrem Schwarzanteil bis zu 30%. Je zwei Stimuli wurden zeitgleich präsentiert. Die Probanden wurden gebeten, per Knopfdruck anzugeben, welches Bild mehr schwarze Punkte enthielt. Auf jeden Stimulus folgte erneut das Fixierungskreuz für eine Sekunde. Nach einer einstündigen Pause durchliefen die Teilnehmer nochmals den gleichen Versuchsaufbau. Diesmal allerdings waren sie dabei an einen Elektroenzephalographen (EEG) angeschlossen. Außerdem wurde ihnen vor der Präsentation des Fixierungskreuzes für etwas weniger als eine Sekunde eine fiktive Einschätzung anderer Teilnehmer angezeigt. Die Pseudoeinschätzungen waren in 45% der Fälle richtig und in 45% der Fälle falsch. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass Teilnehmer mit einem geringen Grad an Autonomie sich zu 43% einer angezeigten Fehleinschätzung der Gruppe anschlossen. Bei den autonomen Teilnehmern lag der Anteil bei 30%. Der Effekt des Konformitätsdrucks trat in dieser Studien auf, obwohl die Gruppenmeinung nicht von präsenten Personen ausging. Interessanter ist allerdings, dass das Anzeigen einer fiktiven Mehrheitsmeinung sich im Gehirn auf die visuellen Verarbeitungsprozesse auswirkt. Daraus ließe sich folgern, dass das Anzeigen einer Mehrheitsmeinung sich nicht so sehr auf eine bewusste Entscheidung sondern vielmehr auf frühe Verarbeitungsmechanismen der Wahrnehmung auswirkt (Trautmann-Lengsfeld & Herrmann, 2014).

Ein weiterer Einfluss der eigenen politischen Verortung auf die journalistische Arbeit, zeigt sich in dem, was oft als Bestätigungsfehler bezeichnet wird. Bei der automatischen Wahrnehmung der Welt, die nicht gezielter kognitiver Kontrolle unterworfen wird, wird die selektive Aufmerksamkeit auf Aspekte gelenkt, die moralische Prädispositionen eher bestätigen als widerlegen (Morewedge & Kahneman, 2010). Diese Fehlwahrnehmung könnte den Vorteil haben, dass er den Menschen hilft, seine Mitmenschen wie auch soziale Strukturen so zu beeinflussen, dass sie ihren Überzeugungen über sie entsprechen. Außerdem könnte es für die menschliche Spezies dadurch nützlich sein, dass sie dafür sorgt, dass man sich leichter in der sozialen Realität zurechtfindet und nicht epistemisch von ihr getrennt wird (Peters, 2022).

Fraglich ist, wie gravierend dieser Urteilsfehler sich auf die gezielte Suche nach Informationen im Rahmen einer Recherche auswirkt. In einer Studie aus dem Jahre 2016 wurden die Probanden (N=1.111) zunächst gemäß ihrer mathematischen Fähigkeiten eingestuft und über ihre politische Orientierung befragt. Anschließend sollten sie die Daten einer fiktiven, politisch neutralen Studie über Hautcreme interpretieren. Die Daten waren so gestaltet, dass deren Interpretation ein großes Maß an mathematischen Fähigkeiten verlangte. Wie erwartet kamen nur die mathematisch kompetenten Teilnehmer zu richtigen Lösungen. Es gab keine Unterschiede basierend auf ihrer politischen Überzeugung. Dasselbe mathematische Problem wurde schließlich in eine fiktive Studie über Waffenkontrolle und Kriminalität eingearbeitet. Die selben Probanden sollten nun auch die Ergebnisse dieser Studien interpretieren. Es war also zu erwarten, dass diejenigen, die bei der ersten Studie zum richtigen Ergebnis kamen, erneut eine korrekte Interpretation vorlegen würden. Allerdings kam die Mehrheit der Probanden zu dem Schluss, die Studie würde ihre bestehende Meinung über die Kontrolle von Waffenbesitz bestätigen. Besagter Effekt war etwa gleich stark für konservative wie für linke Teilnehmer. Außerdem fiel der Bestätigungsfehler stärker bei denjenigen aus, die ein gutes Ergebnis im Mathetest erzielt hatten (Kahan et al., 2017). Es sei allerdings angemerkt, dass eine Replikation der Studie durch andere Wissenschaftler keine signifikanten Effekte produzierte (Persson et al., 2021). Außerdem zeigten andere Studien auf, dass der Bestätigungsfehler bei der Suche nach Informationen durch ausreichend Zeit zur Vorbereitung der Suche reduziert werden kann (Rajsic et al., 2015). Dieser Faktor könnte für den Journalismus besonders wichtig sein.

Überlegung 3: Die Entstehung des Haltungsjournalismus

Precht und Welzer greifen weiterhin die These des Politikwissenschaftlers Thomas Meyer auf, das politische System sei der medialen Logik unterworfen worden (Meyer, 2001). Die Unterwerfung der Politiker unter die Logik medialer Berichterstattung ging einher mit einer neuen Form journalistischer Macht. Diese neue Macht äußert sich nicht nur in einer kritisierenden und überprüfenden Funktion, also darin, wie klassischerweise die Funktion der Presse charakterisiert wird, sondern sie gewährt den Journalisten nun auch eine treibende Funktion. Es kommt nun nicht nur zu einer Kritik der verabschiedeten Beschlüsse durch die Presse, sondern es erfolgt nun auch gleichsam ein Einmischen in die Politik, indem Forderungen gestellt werden (Precht & Welzer, 2022).

Folgt man Prechts und Welzers Annahme der Kolonisierung der Politik durch die Medien, so folgt daraus nicht nur eine neue Stellung des Journalisten in der demokratischen Staatsorganisation, sondern ebenfalls eine Veränderung der Berufsethik der Journalisten. Nur noch wenig scheint dieses neue Selbstverständnis mit dem oft paraphrasierten Credo Hanns Joachim Friedrichs‘ zu tun zu haben:

,,Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, nicht in öffentliche Betroffenheit versinken, im Umgang mit Katastrophen cool bleiben, ohne kalt zu sein. Nur so schaffst du es, daß die Zuschauer dir vertrauen, (…).“ (Leinemann & Schnibben, 1995)

Natürlich artikuliert Friedrichs hier einen Idealzustand, den es so vermutlich zu keiner Zeit gegeben hat. Einzelne Zeitungen oder Nachrichtenmagazine, so erklären auch Precht und Welzer, vertraten auch in den 60er Jahren oft ein klares politisches Profil: Sie berichteten aus einer konservativen oder sozialdemokratischen Perspektive (Precht & Welzer, 2022). Doch könnte man dennoch den Eindruck gewinnen, der Journalismus verstehe sich heute verstärkt als politisch gestaltende Kraft und weniger als kontrollierende. So hat beispielsweise die Zeitschrift Der Stern 2020 eine Ausgabe gemeinsam mit Umweltschutzaktivisten von Fridays for Future herausgebracht (Stern, 2020).

Ob nun ein solches Selbstverständnis der Journalisten in der Tat aktuell das dominierende in Deutschland ist, wird nur eine empirische Untersuchung zeigen können. Legt man diese Annahme dennoch zugrunde, so zeigt sich, dass das, was Robin Alexander als Paradoxon erschien, in der Tat logisch keineswegs widersprüchlich ist. Alexander äußerte, die Aussage, der Journalismus richte sich nach den Ansichten der Politik, sei logisch unvereinbar mit der Behauptung, der Journalismus ,,treibe“ die Politiker (Lanz, 2022). Wenn wir an die zweite Überlegung zurückdenken, so erkennen wir, dass zwischen beiden Sätzen nicht zwingend ein Widerspruch bestehen muss. Es ist durchaus vorstellbar, dass die Parteien durch ihre politische Selbstverortung den Rahmen abstecken, innerhalb dessen spezifische Themen und Forderungen als konservativ oder progressiv, liberal oder autoritär und notwendig oder nicht wahrgenommen werden. Dieses Schema politischen Denkens würde auch die Journalisten betreffen. Sich darauf stützend, können sie sehr wohl zu der Schlussfolgerung kommen, ein bestimmtes Gesetz greife zu kurz oder ginge zu weit. Dies könnte schließlich dazu führen, dass sie in Versuchung geraten, Druck auf die Regierung auszuüben, in eine bestimmte Richtung nachzubessern.

Kritische Würdigung

Insgesamt lässt sich über das Buch von Precht und Welzer festhalten, dass es eine Vielzahl von Faktoren, die für die derzeitige Situation des Journalismus maßgeblich sein könnten, zusammenträgt. Sie zeichnen nach, wie sich der Begriff der Öffentlichkeit, wie wir ihn heute in der westlichen Welt verstehen, entwickelt hat, welche ökonomischen Auswirkungen die Digitalisierung auf die Printbranche hat und auf welche Weise soziale Gruppen unsere Wahrnehmung und unsere Beschreibung der Welt beeinflussen. Besonders hervorzuheben ist dabei das Kapitel über Konformitätsverhalten, das gut strukturiert viele der wichtigsten Studien aus der Sozialpsychologie zu dem Thema erörtert. Leider trägt das Buch am Ende all diese Faktoren lediglich zusammen und schafft es nicht, ein präzises Modell zu entwerfen. So bleibt es schließlich dem Leser überlassen, sich Gedanken darüber zu machen, auf welche Weise all diese Faktoren zusammenspielen. Was sind hier die Haupteffekte? Was könnten Mediations- oder Moderationseffekte sein?

Das vielleicht größte Problem des Buches besteht im Schreibstil. Es gibt mitunter zwischen den einzelnen Absätzen und Kapiteln recht große Unterschiede im Stil. Manche Formulierungen wirken auch ein wenig deplatziert. Dadurch schleicht sich beim Leser ein ganz merkwürdiger Eindruck ein. Das Buch ist für ein Sachbuch passagenweise zu polemisch geschrieben, für eine Abrechnung mit der Medienlandschaft – was manche den Autoren vorwarfen – aber zu gut recherchiert und zu sachlich. Konkret gemeint sind damit Absätze wie der folgende:

,,Sie sind Seraphim, unbelangbar in ihrem Tun, erzengelgleiche Kontrolleure, Gabriel der himmlische Botschafter und Michael der Scharfrichter in einer Person.“(Welzer & Precht, 2022)

Da bereits durch die Themenwahl absehbar war, dass man das Buch kontrovers auffassen würde, hätten sich die Autoren vielleicht einen größeren Gefallen getan, hätten sie auf solche Formulierungen verzichtet. Außerdem hätte dies dem Plädoyer für eine objektive Berichterstattung und Debattenkultur mehr Nachdruck verliehen.


Das Essay wurde auf Grundlage von Richard David Precht und Harald Welzer: Die Vierte Gewalt – Wie Mehrheitsmeinungen gemacht werden, auch wenn sie keine sind geschrieben, welches als kostenloses Rezensionsexemplar vom S. Fischer Verlag zur Verfügung gestellt wurde.

Photo by Rishabh Sharma on Unsplash


1 Der renomierte Pulitzer-Preis ist nach dem amerikanisch-ungarischen Journalisten benannt.

Quellen:

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Hesse, N. (2019). Wirtschaftsthemen verständlich vermitteln – Wie Sie mit ökonomischen Texten in Wissenschaft, Verwaltung und Unternehmen überzeugen. Schäffer-Pöschel Verlag für Wirtschaft, Steuern und Recht GmbH, Stuttgart, 2019, 106.

Hewstone, M., Rubin, M., & Willis, H. (2002). Intergroup bias. Annual review of psychology, 53(1), 575-604.Hogg, M. A. (2000). Subjective uncertainty reduction through self-categorization: A motivational theory of social identity processes. European review of social psychology, 11(1), 223-255.

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Kahan, D. M., Peters, E., Dawson, E. C., & Slovic, P. (2017). Motivated numeracy and enlightened self-government. Behavioural public policy, 1(1), 54-86.Lanz, M. (2022). Markus Lanz – 29. September, 2022. Mhoch2 TV, ZDF. https://www.zdf.de/gesellschaft/markus-lanz/markus-lanz-vom-29-september-2022-100.html

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Stern (2020). Der STERN gestaltet gemeinsam mit Fridays for Future ein Klimaheft. Stern Online, 22.09.2020. https://www.stern.de/gesellschaft/stern-gestaltet-zum-weltklimatag-mit-fridays-for-future-ein-klimaheft-9424620.html

Trautmann-Lengsfeld, S. A., & Herrmann, C. S. (2014). Virtually simulated social pressure influences early visual processing more in low compared to high autonomous participants. Psychophysiology, 51(2), 124-135.

TU München (2022). Nach Corona-Berichterstattung: Glaubwürdigkeit des Journalismus hat abgenommen. http://www.journalismusstudie.fb15.tu-dortmund.de/studie-glaubwuerdigkeit-journalismus/

Johann Alexander Betker

Student der Kognitiven Neurowissenschaften. Seit 2022 ist er Mitglied der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung. Seine Texte haben nicht den Anspruch einer politische Positionierung zu dienen, ebensowenig wollen sie die Gesellschaft transformieren. Vielmehr dienen sie dazu, neue Perspektiven in bestehenden Debatten aufzutuen. Seine Artikel finden also in dem Rahme dessen statt, was Marx als rücksichtslose Kritik bezeichnet: ,,Ist die Konstruktion der Zukunft und das Fertigwerden für alle Zeiten nicht unsere Sache, so ist desto gewisser, was wir gegenwärtig zu vollbringen haben, ich meine die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden, rücksichtslos sowohl in dem Sinne, daß die Kritik sich nicht vor ihren Resultaten fürchtet und ebensowenig vor dem Konflikt mit den vorherrschenden Mächten.” (Marx, 1843, MEW 1).

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