Von der Zeit der Schweinepolitik und besorgten Medien. Ist Mexiko in den letzten Jahren medial vor allem mit dem Kampf gegen Drogenhändler und illegale US-Immigranten in Zusammenhang gebracht worden, stiftet seit April die Schweinegrippe neuen Anlass, dieses Land in den Nachrichten zu begutachten. Seit dem 23. April herrscht Ausnahmezustand, insbesondere in Mexiko-Stadt. Nachdem der Präsident um 23 Uhr das Publikum über einen möglichen Ausbruch einer Epidemie eines neuen und nicht zu kurierenden Virus informierte, ließ er einer Welle der Angst und des Schocks freien Lauf. Konsequenterweise wurde die Schließung öffentlicher Gebäude wie Schulen, Universitäten, Museen und Bibliotheken veranlasst, Versammlungen jeglicher Art untersagt ñ zunächst in Mexiko-Stadt und dem umliegenden Estado de Mexico, am 27. April, in der gesamten Republik. Neben Fußballstadien, Kinos, Restaurants und Parkanlagen blieben sogar Kirchen geschlossen, was in einem Land in dem 87 Prozent der Bevölkerung katholisch sind, ein nicht zu unterschätzendes Signal über den Ernst der Lage sendet.Die Innenstadt und reichere Viertel von Mexiko-Stadt scheinen leergefegt. Die Zurückgebliebenen tragen Masken und werden in der Metro beim kleinsten Husten der Krankheit verdächtigt. Statt der herzhaften Umarmung als Willkommensgruß wird sich symbolisch zugenickt und direkter Kontakt vermieden. Am Arbeitsplatz dürfen nicht mehr als vier Personen gleichzeitig in einem Raum sein. Viele Menschen vermeiden es, auf die
Straße zu gehen. Jedoch ist es nicht die Angst vor Ansteckung, sondern ein Gefühl von Unsicherheit, hervorgerufen durch fehlendes Faktenwissen und der durch die Medien verbreiteten Hiobsbotschaften, welches das Alltägliche ins Unmögliche verkehrt. Die Bevölkerung kann grob in drei Gruppen eingeteilt werden: Manipulierte (die von einer
Überdeckung der schweren politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme in Hinsicht auf die im Juli stattfindenden Wahlen des Senats und der Abgeordneten sprechen), Resignierte (die auf Grund der weltweit umspannenden Sicherheitsmaßnahmen und der hohen medialen Aufmerksamkeit von einer Katastrophe nie dagewesenen Ausmaßes sprechen) und Skeptiker (die den Vorkommnissen keine weitere Bedeutung zuweisen). In vielen anderen Gegenden der Erde wurden Vorkehrungen getroffen, die von Quarantäne mexikanischer Staatsbürger in China bis hin zu Massentötungen von Schweinen in Ägypten und der Quarantäne des einzigen Schweins in Afghanistan reichen. Ein BBC-Team durfte nach seiner Rückkehr aus Mexiko für eine Woche das BBC-Gelände nicht betreten. Dies ist interessanterweise nicht der Fall, wenn vielgereiste Reporter aus Regionen mit hoher Infektionsgefahr für Gelb-, Lassa-, Ebola- oder Marburgfieber zurückkehren.
Alles übertriebene Reaktion oder Grund zur Besorgnis, dass das Mexiko-Virus eine nicht zu stoppende weltweite Pandemie auslöst? Fakt ist, allein in Deutschland sterben jährlich zwischen 8.000 bis 11.000 Menschen während einer regulären Grippewelle, in
Extremfällen kann die Zahl auf bis zu 30.000 steigen, etwa bei der Grippewelle von 1995/1996. Im Gegensatz dazu kommt derzeit in Mexiko etwa ein Toter auf 3000 Infizierte. Das ist weniger als bei einer normalen Influenza. Es sei angemerkt, dass in beiden Fällen insbesondere ältere Menschen betroffen sind, welche bereits zu gesundheitsgefährdeten Gruppen gehören. Die Anzahl Schweinegrippe-Infizierter kann zumindest in Mexiko, aufgrund fehlender Informationen zum Zeitpunkt und Ort des Ausbruchs der Grippe und mangelhafter Methoden eine Infektion nachzuweisen, nicht klar angegeben werden. Je nachdem welche Informationsquellen genutzt werden, ist von 120 bis Tausenden Toten und Infizierten die Rede. Die Zahlen wurden insbesondere zwei Wochen nach dem Beginn des medialen Spotlights nach unten revidiert. Warum also all das Drama? Rechtzeitig entdeckt führt die Krankheit nicht zum Tod und eine blitzartige Mutation zum Killer-Virus ist äußerst
unwahrscheinlich. Hiermit möchte ich die Besorgnis vieler nationaler und internationaler Politiker nicht ins Lächerliche ziehen, jedoch sollte man bei so vielen apokalyptischen Nachrichten auch dem in Hintergrund verlorengegangenen politischen Veränderungen Aufmerksamkeit schenken, die eine längere Haltbarkeit aufweisen als die derzeitige Furore. Zum einen wurde am 28. April ein Gesetz zur Legalisierung bestimmter Mengen an Drogen, von Marihuana hin zu Kokain und Cristal Meth durch den Senat angenommen und befindet sich nun auf dem Weg zur letzten Instanz. Ein Gesetz, welches tiefgreifende Veränderungen in der ökonomischen und gesellschaftlichen Struktur bewirken würde. Es sei hier nur angemerkt, dass die Produktion und der Export von Drogen die drittwichtigste Einnahmequelle laut BIP darstellt, nach den Gewinnen aus Öl- und Gasverkäufen und den Geldern, welche im Ausland lebende Arbeiter nach Mexiko schicken. Des Weiteren wurde ein Gesetz über verschiedene Aspekte des Befugnisbereichs der föderalen Polizei erlassen. Diese haben nun, neben der Möglichkeit der Online-Datenüberwachung und Zugangsrechten zu persönlichen Informationen über Kunden von Privatunternehmen, unter anderem die Möglichkeit in Zivil zu ermitteln und Festnahmen vorzunehmen. Dies ist insbesondere auf Grund des starken Machtmissbrauchs der mexikanischen Polizei ein Beschluss, der sicherlich zu Protesten geführt hätte. Des Weiteren wurde am 18. April ein Kredit in Höhe von 47.000 Millionen Dollar durch den Internationalen Währungsfond gewährt. Zumindest weiß man hier, woher die Massen an Geldern, die eine Überwindung der Wirtschaftskrise ermöglichen sollen, kommen und genauso klar ist es, wohin sie verschwinden werden. Denn auch wenn Mexiko eine starke Protestkultur aufweist, wird dem Mann auf der Straße mit diesen Geldern letzten Endes nur sehr begrenzt geholfen.
Wo stehen wir jetzt? Zum einen haben wir eine immense Reaktion seitens der Medien. In Mexikos Tageszeitungen scheinen die Nachrichten zur Ausbreitung der Influenza alle Gedanken über ökonomische Sorgen und den Schutz der Privatsphäre zu überdecken. Sie produzieren eine beschränkte Art der Wahrnehmung und Panik, die sich nicht auf Fakten bezieht, sondern Bedenken und unmittelbare Ängste über die Konsequenzen der Ausbreitung einer hochtödlichen Krankheit schürt. Durch diese Kultur des Virus werden die wahren Probleme und Begebenheiten in Mexiko überdeckt. Ein schrecklicher Feind hat sich vom einen auf den anderen Tag erhoben, ein Feind, der der gesamten menschlichen Zivilisation an den Kragen möchte. Somit müssen wir wenn schon nicht all unsere Ressourcen, zumindest unsere Aufmerksamkeit auf dessen Bekämpfung richten. Zum anderen handelt es sich aber auch um eine Schaffung eines absolut kontrollierten Raumes, der seinen Höhepunkt
in der Schließung der Hauptverkehrsadern vom 30. April bis zum 4. Mai und die Untersagung jeglicher traditionsreicher Versammlungen zum Tag der Arbeit, fand. Geografisch außerhalb des kontrollierten Zentrums, kann man einen Raum dritter Art wahrnehmen, in welchem die Macht der Politik versagt, wo die Menschen trotz aller Meldungen ihrem alltäglichen Tun nachgehen und die Legitimation der politischen Akteure nicht nur anzweifeln, sondern resigniert ignorieren.
Hier liegt meiner Meinung nach die Zukunft Mexikos begraben. In der durch ständige Peitsche und Zuckerbrot gebändigten Zivilgesellschaft, welche sich über den schlechten Zustand des Landes bewusst ist, jedoch auf Grund der Abstumpfung immer wieder enttäuschter Hoffnungen und auch einer Tendenz zur Bequemlichkeit, keine Eigeninitiative zur Verbesserung ergreift. Vielleicht ist die Nutzung des Terminus Mexiko-Virus in diesem Zusammenhang angebrachter, als in Hinsicht auf das Influenza Virus H1N1. ¡Viva México!
Natalie Serfözö
(Die Autorin ist Studierende der Angew. Kulturwissenschaften und verbrachte das Jahr 2008 an der Universidad Nacional Autónoma de México)