Mensen mal anders – einen Tag auf der anderen Seite des Tresens

Es ist 6:30 Uhr, vor mir liegt meine heutige Arbeitskleidung. Stoffschürze, dunkelblaue Hose, weißes Jackett und ein Haarnetz. Der Beschreibung nach könnte man vermuten, dass ich als Praktikant in einen OP gehe. Tatsächlich lerne ich heute aber eine Perspektive kennen, die viele Studierende und Lehrende niemals zu Gesicht bekommen: Die andere Seite der Mensa-Ausgabe. Einen Tag lang darf ich die Mitarbeiter*innen dort begleiten, mit anpacken, und auch kochen. Ich bin neugierig.

Als erstes geht es für mich zu Ebi, einem Urgestein des Mensakosmos. Er kannte bereits die Bundeswehrmensa der Achtzigerjahre. Derzeit arbeitet er als Rentner zweimal wöchentlich hier. „Damit mir nicht langweilig wird“, sagt er. Sein Reich ist der Keller, wo Essenslieferungen entgegengenommen und gelagert werden. Die morgendliche Lieferung lässt mich erahnen, in welcher Größenordnung hier hantiert wird: 150 Kilogramm Kartoffeln.

Wie es zu dieser Menge kommt, hat mir zuvor der Mensaleiter Herr Röber erklärt. Mit einer Online-Datenbank des Studierendenwerkes werden vorhandene und benötigte Zutaten abgeglichen, die entweder montags oder mittwochs geliefert werden – und heute sind eben Kartoffeln dran. Da sich der Essensplan alle 6 Wochen wiederholt, sind die Mengen gut abschätzbar. Ein gewisser Stolz liegt in der Stimme, als mir berichtet wird, wie wenig Abfall bei der Produktion entsteht und das bei 1500 Mittagessen täglich! Und dieser kleine Rest landet in einer Biogasanlage.

Eine typische Kartoffel-Lieferung in der Lüneburger Mensa.

Plötzlich ertönt ein Zwischenruf – die Küche verlangt nach Salz. Ebi, der Verbindungsmann zwischen Küchen- und Lagerwelt, macht sich sofort auf den Weg. Vorbei an den begehbaren -20 °C Tiefkühlräumen, hin zu einem 25 Kilogramm schweren Salzsack, der mit einer solchen Leichtigkeit auf den Wagen gehievt wird, dass ein leichter Fitness-Minderwertigkeitskomplex in mir aufkommt.

In der warmen Küche schnippeln, lachen, pfeifen seit Schichtbeginn fünf Köch*innen – jetzt verstärkt durch den Salzsack und mich. Für manche hier sind die Handgriffe ein Jahrzehnte altes morgentliches Ritual. Das Schnippeln und Pfeifen fesseln mich besonders. Das Pfeifen, da hier ständig Weihnachtslieder gepfiffen werden. Das Schnippeln, weil alles in rekordverdächtiger Geschwindigkeit zerkleinert wird. Unter Anleitung der Köchin Paulina wage ich mich an den Koriander. Der Trick, um keinen Finger zu verlieren, ist die sogenannte „Kralle“: Alle Finger (auch den Daumen!) der linken Hand einklappen, den Koriander festhalten und langsam mit dem Messer schneiden. Es geht voran, wenn auch langsam. Ich bin eine Schildkröte umgeben von Meisen.

Wie viel frisch zubereitet wird, erahne ich langsam. In der zweiten, kalten Küche, wo die Salate zubereitet werden, erspähe ich in ein badewannen-ähnliches Behältnis mit geschnittenen Tomaten. Schneiden die Köch*innen etwa jede einzelne Tomate von Hand? Ja, jede einzelne. Gemüse, Dips, Dressings, und noch einiges mehr wird hier in fachmännischer Handarbeit zubereitet.

Eine Wanne voller Tomaten und Kräuter.

Während ich mich mit dem Koriander abmühe, wird hinter mir das heutige Essen zubereitet. Beim Schulterblick sehe ich einen der Köche, der gekonnt das Mittagsgericht zubereitet. Er erinnert an eine moderne Version des Druiden Miraculix beim Herstellen seines Zaubertrankes. Umgerührt wird mit einer Art Paddel mit Löchern. Und apropos große Mengen: Monatlich wird hier ein Container mit bis zu 600 l Öl wegfrittiert.

Ab 11 Uhr kommt weiteres Personal hinzu und die Ausgabe wird aufgebaut. Noch bevor die Türen öffnen, wird von jedem Essen, selbst von den Desserts, eine Probe genommen. Falls ein Krankheitsfall auftreten sollte, kann identifiziert werden, ob dieser vom Essen kommt und wenn ja, welcher Erreger. Bei der heutigen Ausgabe darf ich die Soßen austeilen. Es gibt Sauce Hollandaise oder Tomatensoße. Damit die Soßen für alle reichen, gibt es den sogenannten Kellenplan. Dieser gibt Auskunft darüber, wie viel Milliliter Soße jedem zustehen bei einer bestimmten Anzahl an Gerichten. Da es bei der Ausgabe sehr schnell gehen muss, gibt es diverse Kellen mit verschiedenen Milliliter-Angaben. Man muss also nur die Kelle mit der entsprechenden Angabe finden und eine volle Kelle auf das Essen geben.
Langsam tröpfeln die ersten Gäste ins Gebäude und behutsam versuche ich, die Soße möglichst elegant auf dem Gericht zu platzieren. Nach 20 Minuten ist das Tröpfeln zu einem Fluss geworden. Immer schneller und noch schneller muss es gehen. Als ich eine Bekannte bediene, erwarte ich einen „Du-hier?“-Kommentar, der jedoch ausbleibt. Nach der vierten „Ich-lächle-werde-aber-nicht-erkannt“-Begegnung fange ich an, mich zu wundern. Keine 50 Zentimeter trennen uns. Liegt es an dem Haarnetz oder vielleicht der Kleidung? Mir bleibt nichts anderes übrig, als den Strom weiter zu beobachten.

Das Entgegennehmen des gefüllten Tellers wird oft von einem Danke begleitet. Die Augen allerdings ruhen meist auf dem Essen oder sind schon Richtung Kasse gerichtet. Wird der Mensch hinter der Kelle überhaupt wahrgenommen? Ich merke, dass das Tempo der Ausgabe zunimmt, und enorme Reaktionsfähigkeit gefordert ist für Fälle wie „Äh-doch-keine-Soße“, auch wenn die Kelle sich schon neigt. Die Damen zu beiden meiner Seiten arbeiten gewandt und entspannt, und man merkt, dass sie ein eingespieltes Team sind.

Auch das Kassieren sitzt. Der stellvertretende Betriebsleiter Herr Meyer, der als Allrounder heute kassiert, erklärt mir: Ein Bezahlvorgang dauert sechs Sekunden. Zwei bis das Gerät reagiert. Vier bis der Gast bezahlt hat. Und als kleine Bitte fügt er noch hinzu, der Studierendenschaft mitzuteilen, dass man sich im Vorhinein entscheiden möge, welches Gericht man haben will und die Mensakarte bereithält. Das sei der Grund, warum aus einer Menschenmenge eine Schlange werde.

Die letzte Station für mich ist der Abwasch. „Laut!“ ist mein erster Eindruck. Dann sehe ich die zwei riesigen Spülanlagen in der Mitte des Raumes, die dort vor sich hin rattern. Sie werden von nur drei Personen bedient. Auch ohne (hörbares) Pfeifen ist die Atmosphäre locker, es wird gescherzt, gelacht. Die Abläufe sind auch hier routiniert.

Eine der beiden Spülmaschinen, die im Dauerakkord Teller spülen.

 Eine Person stellt die Teller und Schüsseln in die eine Maschine und lässt Tabletts mitsamt Besteck in die zweite weiterfahren. Falls man mal nicht schnell genug ist, kein Problem. Eine Lichtschranke erkennt, dass noch Teller darauf sind und stoppt. In der Zweiten wird mithilfe eines Magnets Besteck von Tablett entfernt und separat gewaschen. Eine Mitarbeiterin lacht und zeigt mir einen Löffel: Nicht magnetisches Alu. Es wird immer wieder eigenes Besteck mitgebracht, einen ganzen Eimer hatten sie davon. Unverständliches Kopfschütteln. Sie übergibt mir den Löffel. Mal um Mal wird das frischgewaschene Geschirr nach vorne gekarrt. Wie viele Menschen heute wohl noch von genau diesem Teller genüsslich speisen werden?

Im Umkleideraum entledige ich mich meiner Schürze, dem Haarnetz und der Arbeitskleidung. Mit meinem Notizblock im Rucksack, das Weihnachtspfeifen im Ohr, das Souvenir des nicht-magnetischen Löffels in der Hose und die Erinnerung daran, wie viel Aufwand in einem Mensa-Essen steckt, gehe ich in den wohlverdienten Feierabend.


Fotos: Leander Geneuss