Maruschka die MG-Schützin – eine Buchrezension

Cover Der Krieg hat kein weibliches Gesicht von Swetlana Alexijewitsch / (C) Carl Hanser Verlag
Cover Der Krieg hat kein weibliches Gesicht von Swetlana Alexijewitsch / (C) Carl Hanser Verlag

Eine Million. Das ist die Anzahl der sowjetischen Frauen, die in der Roten Armee kämpften. Sie waren MG-Schützinnen, Sanitäterinnen, Kraftfahrerinnen, Chirurginnen. Und sie waren jung – blutjung. In „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ gibt ihnen die weißrussische Autorin Swetlana Alexijewitsch erstmals ein Forum für ihre Erzählungen und erschafft damit ein völlig neues Genre: den Roman in Stimmen.

 

Der zweite Weltkrieg. Adolf Hitler – und mit ihm das Deutsche Reich – greift die Sowjetunion an. Millionen junge Männer werden für die Rote Armee rekrutiert. Mit ihnen melden sich auch einige Frauen, die meisten von ihnen fast noch Kinder. Es ist die sowjetische Erziehung, die sie dazu veranlasst: Erst kommt die Heimat, alles andere ist zweitrangig. Zunächst werden sie heimgeschickt, doch der Krieg zerrt schließlich an dem großen Land und schon bald fehlt es nicht mehr nur an Nahrung und Rohstoffen, sondern auch an jungen Männern, Nachwuchs für die Armee.

Die Mädchen, die nun Soldatinnen werden wollen, sind meist noch sehr jung – 16 oder 17 Jahre alt. Wenn sie sich zurück erinnern, beschreiben sich viele von ihnen als klein, zierlich. Und sie wollten an die Front, kämpfen – die Heimat verteidigen. Angst hatten sie keine, erzählen sie. Warum nicht? Das ist ihnen selbst bis heute unbegreiflich.

Diese Erzählungen sind nach all den Jahren immer noch gespickt mit so viel Gefühl, dass sie selbst den gleichgültigsten Leser faszinieren und zugleich schockieren. Wort für Wort wurden sie von der Autorin transkribiert und in einem Buch festgehalten. Dabei unterlag die erste Auflage einer Zensur. 2004 erscheint dann die, um viele Berichte erweiterte, unzensierte Ausgabe.

Die Autorin / (C) Svetlana Alexijewitsch
Die Autorin / (C) Swetlana Alexijewitsch

Es lässt sich an dieser Stelle kaum zusammenfassen, wovon die Berichte der Frauen handeln. Oft sind die Erzählungen sehr detailliert ausgeschmückt mit den eigenen Gefühlen und Ängsten, die die jungen Soldatinnen empfanden. Diese Empfindungen sind immer noch real, hatten die Soldatinnen doch kaum Möglichkeit sich mitzuteilen – das gehört sich für eine sowjetische Frau nicht. Einige Dinge scheinen sich zu wiederholen, bleiben aber in jedem einzelnen Bericht so individuell, dass man die Einzigartigkeit einer jeden Persönlichkeit zu verstehen glaubt. Die Berichte erzählen vom Blut, vom Sterben, vom Dreck. Davon, wie die jungen Frauen über das unter Beschuss stehende Schlachtfeld krochen, um Verwundete zu versorgen. Davon, wie sie sich fühlten, als sie das erste Mal einen Deutschen erschossen. Genauso wie von der Liebe, dem Mitgefühl und echter Trauer. So haben die Erzählungen der Frauen eines gemeinsam: Sie unterscheiden sich von den Berichten der männlichen Soldaten – den Berichten über den großen Siegeszug der Sowjetunion, vollgestopft mit heroischen Taten, ganz ohne Verluste. Es scheint, als erzählten die Frauen von einem anderen Krieg.

Das macht dieses Buch zu wirklich hartem Tobak – und äußerst lesenswertem Stoff. Die Ironie: Normalerweise zeichnet sich ein gutes Buch dadurch aus, dass man es nicht mehr aus der Hand legen möchte. Hier verhält es sich andersrum: Der Leser muss Pausen machen, das Gelesene verdauen, um nicht in Melancholie zu versinken.

Und dennoch: Kaum ein anderes mir bekanntes Werk beinhaltet so viele Botschaften, beschäftigt sich mit so vielen gesellschaftlichen Fragen. Würde ich hier alle nennen, es wäre, als verriete ich bei einem Krimi das Ende. Eines ist offensichtlich: Alexijewitschs Roman ist das Hauptargument eines jeden Pazifisten. Ganz sicher werde ich dem nächsten Menschen, der mir erklären möchte, dass manche Konflikte eben nur militärisch gelöst werden können, dieses Buch in die Hand drücken. Denn jeder wird spätestens dann erkennen, dass keine Ideologie, keine Macht und kein Geld dieser Welt das Leid aufwiegen kann, welches Menschen erfahren, die in einem Kriegszustand leben.

 

Mein Tipp: Dies ist keine Strand- und eigentlich auch keine Bettlektüre. Lest es zwischendurch, immer mal wieder ein paar Seiten. Es gibt keine Handlung, die vergessen werden könnte. Dies sind Erzählungen, von der jede Einzelne die volle Aufmerksamkeit des Lesers verdient hat. Dabei werdet ihr dieses Buch sicherlich nicht zu euren Lieblingswerken stellen – aber am Ende wird es einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Zusatz vom 22.10.2015: Swetlana Alexijewitsch erhielt im Oktober 2015 den Literatur-Nobelpreis – unter anderem für das hier vorgestellte Werk.

Autorin: Kim Torster

Kim Torster

Kim hat Kuwi studiert und war Chefredakteurin bei Univativ. Heute arbeitet sie nicht als Taxifahrerin, sondern als Journalistin. Glück gehabt.

Alle Beiträge ansehen von Kim Torster →