Acht Künstler:innen aus der Region haben am 10.04.2022 ihre Werke zum Thema (Un)Sichtbarkeiten präsentiert. Begleitet wurde die Ausstellung mit Techno-Beats, Chill-out Areas und einem Foodtruck. Die Vernissage ist die erste Veranstaltung des Teams rund um das lunatic Festivals für dieses Jahr.
Schon aus der Ferne sind die wummernden Bässe und die klangvolle Melodie der Vernissage zu hören. Vor der Kulturhalle passt sich dann das Bild an die Geräusche an – einige Menschen tanzen, andere sitzen auf den bequemen Sofas und unterhalten sich. Es ist ein Bild, welches an die Zeit vor der Pandemie erinnert. Zum Eintritt in das Ausstellungsgebäude heißt es jedoch wieder: FFP2-Maske auf. Denn obwohl die Corona-Regelungen von Bund und Länder gelockert wurden, setzt das diesjährige Team auf ein Hygienekonzept. Neben den Masken bat das Team dreifach-Geimpfte einen daheim durchgeführten Selbsttest zu machen. Alle anderen brauchten einen Test aus einem offiziellen Testzentrum. Kontrolliert wurde nur sporadisch – hier appelliert das Team an die Verantwortung aller.
Von 12 bis 22 Uhr konnten Besucher*innen die Kunstwerke anschauen und dabei Musik von vier Musikkünstler:innen genießen. Anders als letztes Jahr war der Besuch nicht zeitlich durch Slots terminiert. Auch einen digitalen Stream gab es nicht. Stattdessen füllte sich der Raum als auch der Außenbereich mit zahlreichen Besucher:innen. Der Trubel verstärkte das vertraute vorpandemische Gefühl des Events.
Die ganz großen Fragen
Die Kunstwerke sind in der beeindruckenden, mit Backstein und hohen Decken versehenen Industriehalle verteilt. Teilweise hängen Fotografien, Leinwände und Installationen an weißen Trennwände. Andere hängen an Fäden von oben hinab im Ausstellungsraum. Manche Werke scheinen ineinander überzugehen, sind dicht gereiht, andere lassen Raum – zum sich Treffen und zum Nachdenken.
Mit der Videoinstallation der Hamburgerin Louisa Rabea Kohlhoff werden die Besucher:innen schon nach dem Eintreten konfrontiert. Auf dem Boden, den an dieser Stelle jede:r betreten muss, ist ein Video projiziert – ein rotierendes, unerkennbares Objekt mit neonblauem Hintergrund. Dazu die Frage: Who even decides what we see?. In der Ecke geht die Installation weiter, über Kopfhörer ist auch Sound und Stimme Teil des Kunstwerkes. Immer geht es um die Frage, was ein Objekt ist und was es noch sein könnte. Damit beschäftigt sich die Künstlerin mit dem Status von Materialität, also der stofflichen Substanz, von nicht-menschlichen Akteuren.
Eine Wand weiter erwartet Besucher:innen die Fotografien von Omid Arabbay. Der Hamburger studiert seit 2021 Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. In den Fotografien, welche sich zwischen Dokumentation und Porträt verorten lassen, hält er in der jugendlichen Hamburger Musik- und Theaterszene „Momente zum Verweilen“ fest. Das erzeugt einen nostalgischen Charme.
Bunt – das ist der erste Eindruck von Arthur Siols Bilder. Der Lüneburger Künstler setzt bewusst auf farbintensive Werke und abstrakte gegenständliche Verzerrungen. Dies soll das Thema seiner Werke verstärken: vieldeutige Zeichen, Sprache und der Umgang mit Schmerz und Trauer. Neben seiner künstlerischen Arbeit ist er außerdem Student der Kulturwissenschaften an der Leuphana. Auch bei Arthur spielt Materialität eine Rolle, denn er benutzt verschiedene Materialien, um seine Leinwände zu gestalten. Dazu gehören unter anderem Acrylfarbe, Marker, Spray und Tinte. Seine genutzten Materialien sind also genauso vielfältig wie seine Themen.
Der (weibliche) Körper und Du
Auch an der hinteren, linken Seite des Raumes hängen bunte Gemälde aus Öl und Pigment. Weiche Grün-, Rot und Gelbtöne dominieren die Kunstwerke. Doch die Anordnung der Formen sind keine Zufälle, sondern zeigen den Zkylus der Künstlerin und Kunsttherapeutin Sophie. Damit stärkt die Künstlerin ihr eigenes Körpergefühl durch Farben und Form und trägt diese intensive Beschäftigung mit ihrem weiblichen Körper nach außen.
Daneben beschäftigen sich Renée und Jenny, welche beide Kostümdesign studieren, in ihrer Performance ebenso mit dem weiblichen Körper. Jedoch liegt ihr Fokus auf die sexualisierte Sicht auf weibliche Körper und Handlungen weiblich gelesener Personen. Die während der Performance laufende Videokunst zeigt beispielsweise eine weiblich gelesen Person, die eine Banane schält und isst; in roten, fetten Buchstaben wird an die beobachtenden Personen appeliert: What do you see?. Währenddessen betritt eine der Künstlerinnen die Fläche, stellt sich vor die Projektionen und knüpft den eigens angefertigten Anzug im Intimbereich auf. Darunter kommt eine gestickte, mit Pailletten verzierte Vulva zutage. Damit machen die beiden Künstlerinnen auf die feministische Praxis aufmerksam, Darstellungen der Vulva zu normalisieren und in der Kultur fest zu verankern – ähnlich wie Darstellungen des männlichen Genitals schon lange fester Teil der von Pop- und Subkulturen sind. Das Gesicht der Künstlerin ziert zudem eine pinke, selbstgestrickte Sturmhaube. Spätestens seit den weltweiten Anti-Trump-Protesten 2017 sind pinke Strickmützen (sogenannte „Pussy Hats“) ein Zeichen für Feminismus – die hier angewandte Kombination von pinker Wolle und einer Sturmhaube anstatt einer Mütze deutet auf einen feministischen Kampf hin, da die Vermummung trotz Verbot weiterhin ein beliebtes Mittel auf einigen Demonstrationen sind und auch die feministische Punkrock-Band Pussy Riot diese als Markenzeichen einsetzt.
Ganz zum Schluss der Performance steht die Künstlerin nur noch in Unterwäsche und mit ihrer glitzernden Vulva da – eine Entblößung bis auf das Geschlechtsteil, welches der einzige Grund für die ständige Sexualisierung und Gewalt ist, welche Frauen tagtäglich ausgesetzt sind. Inzwischen flimmern die Worte Underestimate me über den Bildschirm – ist das eine Kampfansage? Genug Stoff zum Nachdenken liefert die Performance, genauso wie auch die gesamte Ausstellung.
Mehr als eine Ausstellung
Zwar erfreuen sich die zahlreichen Kunstwerke einer regen Aufmerksamkeit, doch scheinen diese nicht im Mittelpunkt zu stehen. Viel mehr verlagert sich dieser nach draußen, auf den Vorplatz des Kunstsaals.
Neben einem abwechslungsreichen Line-Up an Musikkünstlerinnen und gemütlichen Sofas, können die Besucher:innen an der Bar ein köstliches Getränk zu sich nehmen oder verschiedene Gerichte am Food Truck ausprobieren. Das Außengelände ist neben den Sofas auch mit Traumfängern, CD-Mobiles, Teppichen sowie Kissen dekoriert. Damit will das Team einen Vorgeschmack auf das im Juni stattfindende lunatic Festival geben und füttert den Wunsch, wieder relativ restriktionsfreie Events zu besuchen.
Titelbild: (c) Ema Jerkovic