Spurensuche in der Bibliothek – Einblick in den Giftschrank An einer Universität soll das Lesen verboten sein? Wie bitte? Das passt ja nun gar nicht zusammen. Ich habe mich auf die Suche nach Literatur begeben, die für uns Studenten fast unerreichbar ist … Ein langer Korridor. Überall stehen Bücherkisten. Eine Glasscheibe trennt mich von der Zentralbibliothek. Dann betrete ich den Raum 18 – das „Geschlossene Kompaktusmagazin“. Zwischen bestellten und schützenswerten Büchern finde ich schließlich das Regal mit der Aufschrift SL – Sekretierte Literatur. Ein paar Knopfdrücke genügen und wie von Zauberhand weicht eine Regalwand zur Seite aus. Da stehe ich nun: vor dem Giftschrank der Leuphana Universität Lüneburg. Aber was ist eigentlich ein Giftschrank?
Hier befinden sich Bestände der Bibliothek, die aus moralischen oder politischen Gründen nicht der Öffentlichkeit zugänglich sind. Auf sechs Metern erstrecken sich hier 254 Bücher. Darunter vor allem Nazilektüre: „Mein Kampf“, „Der Sieg in Polen“, „Hitler Jugend“ und „Handbuch der Judenfrage“ sind nur ein paar wenige der Bücher, die in Regal SL 1 verstauben. Das „Bücherverlies“ trägt auch den Namen Remota, was so viel wie „Weggeschafftes“, „weit Entferntes“ oder auch „Unbekanntes“ bedeutet.
Jährlich gibt es etwa zehn Anfragen nach sekretierter Literatur, so der stellvertretende Direktor der Bibliothek, Dr. Joachim Fesefeldt. Darunter auch einige von Rechtsradikalen. Doch ohne den Nachweis des wissenschaftlichen Zwecks darf keines der Bücher verliehen werden.
Wagt man einen Blick in eine der großen Staatsbibliotheken, wie zum Beispiel der Bayerischen Staatsbibliothek, so findet man dort eine Unterteilung der Remota in fünf Fächer: Remota I und II wurden 1924 eingerichtet und umfassen vor allem erotische Literatur, die in der Tagesproduktion der Jahre 1920 bis 1970 entstanden ist. Remota III ist während des Dritten Reichs entstanden, inzwischen aber völlig anders geartet. In diesem Fach finden sich Bücher, die das Spektrum der gesamten deutschen Emigration widerspiegeln, und darüber hinaus in ganz Europa erschienene Bücher, die sich kritisch mit dem NS-Reich und seinen Führern auseinandersetzt. Berichte über Nazihaft sind ebenso zu finden wie Analysen des Prozesses um den 1933 in Brand gesteckten Reichstag. Remota IV umfasst alles, was im weitesten Sinne mit dem Thema Liebe zu tun hat. Und die in der Nachkriegszeit angelegte Remota V umfasst Drucke, die von vornherein nicht für die Augen der Öffentlichkeit gedacht waren. Dazu gehören neben einigen Theaterstücken auch Fahndungsbücher der Polizei.
Kritik an Giftschränken gibt es zur Genüge. Denn die Frage ist, ob in einer Demokratie solch eine Zensur zulässig ist. Der Inhalt der „weggesperrten“ Bücher könnte auf der einen Seite gefährlich werden, wenn er in die Hände von Rechtsradikalen gelangt, auf der anderen Seite wird somit jedem geschichtsinteressierten Menschen die Möglichkeit genommen, auf diese Literatur zurückzugreifen.
Die Giftschränke in den Bibliotheken werden ein wichtiges Indiz der Geschichte bleiben. Doch die große Zeit der Remota ist weitestgehend vorbei. Ursache dafür sind das immer liberaler werdende gesellschaftliche Klima als auch eine Änderung des Medienkonsums. Aber vorerst bleibt der Inhalt der Giftschränke wohl unerreichbar für die Studenten.
Katarina Trost