Lüneburg - (c) Hanno Hinrichs

Kritik abseits von Verschwörungsmythen

‚Querdenken‘ sorgt mit rechtsoffenen Demonstrationen bundesweit für Schlagzeilen. Im medialen Schatten der Verschwörungsgläubigen üben Lohnarbeitende und Kulturschaffende solidarische Kritik an den Corona-Maßnahmen.

Montag, sechs Uhr morgens am Bahnhof Lüneburg: Unter dem Motto ‚Fight the Virus – Fight Capitalism‘ versammeln sich Aktivist_innen am Bahnhofsvorplatz, um auf die Auswirkungen der Pandemie für Lohnarbeitende aufmerksam zu machen. Flyer werden verteilt, über ein Megafon laufen Redebeiträge. Besonders Berufspendler_innen sollen durch die Aktion angesprochen werden.

Die Demonstrierenden sehen in den Corona-Maßnahmen eine inkonsequente Gesundheitspolitik zulasten von Arbeitnehmer_innen. Auf dem Arbeitsplatz und besonders in öffentlichen Verkehrsmitteln könne der Infektionsschutz nicht ausreichend gewährleistet werden. In den vergangenen Monaten kam es an Standorten von Großunternehmen wie Amazon oder Tönnies vermehrt zu Masseninfektionen mit Covid-19. Vergangene Woche haben sich erneut über 170 Mitarbeitende im Schlachtbetrieb Tönnies in Weißenfels (Sachsen-Anhalt) infiziert. Besonders Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen, darunter auch Saisonarbeiter_innen aus Polen, Ungarn oder Rumänien, sind einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt.

Menschen, die ohnehin von struktureller Benachteiligung betroffen sind, werden dadurch überproportional gefährdet. Die Aktivist_innen beschreiben die Pandemie als Motor gesellschaftlicher Ungleichheiten, da „Leute die wenig haben, am stärksten ausgebeutet werden und die Leute, die am meisten haben sogar noch durch die Krise profitieren.“ Besonders Online-Riesen wie Amazon scheint die Pandemie sehr gelegen zu kommen. Während dem Einzelhandel die Einnahmen einbrechen, hat sich der Aktienkurs von Amazon seit Jahresbeginn um 70 Prozent erhöht. Die über eine Millionen Angestellten in den Lagerhallen und Logistikzentren profitieren jedoch kaum von dem Online-Boom. Im Gegenteil – neben der hohen Ansteckungsgefahr beklagen sich immer mehr Arbeitnehmer_innen über ungerechte Löhne und miserable Arbeitsbedingungen. Anstatt auf die Forderungen einzugehen, antwortet Amazon mit der Überwachung von Gewerkschaften.

Neue Bündnisse und vielfältige Proteste

Die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Pandemie sind hinlänglich bekannt – Arbeitnehmer_innen werden entlassen oder in Kurzarbeit geschickt, viele Solo-Selbstständige und Kulturschaffende haben bereits ihre Existenzgrundlagen verloren. Im Schatten der medialen Aufmerksamkeit sogenannter ‚Querdenken‘-Demonstrationen haben sich in den letzten Monaten neue Bewegungen geformt, welche sich differenzierter mit den Problemen auseinandersetzen wollen.

Die Initiativen ‚Alarmstufe Rot‘ und ‚Kulturgesichter‘ machen auf die existenzielle Bedrohung der Kulturbranche aufmerksam – unter anderem auch in Lüneburg. Mit bundesweiten Demonstrationen und Fotoprojekten zeigen sie die Lebensrealitäten Kulturschaffender in der Pandemie und fordern umfassende finanzielle Unterstützung. Auch wenn erhebliche Probleme noch im Raum stehen, konnte mit den November- und Dezemberhilfen der Bundesregierung zumindest ein erster Teilerfolg erzielt werden.
Um die finanziellen Mittel für eine soziale Krisenpolitik aufbringen zu können, fordert das Bündnis ‚Wer hat, der gibt‘ eine umfassendere Umverteilung, die durch die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, eine effektivere Erbschaftssteuer sowie einmalige Abgaben von Millionär_innen und Millardär_innen erfolgen soll. Im September fand die erste Demonstration durch das Hamburger Reichen-Viertel Harvestehude statt.

Aus der Chatgruppe „Lüneburg solidarisch durch die Coronakrise“, die im Frühjahr erste Nachbarschaftshilfen organisiert hatte, entwickelte sich am Montag nun auch vor Ort die erste Protestaktion. „Wir müssen eine progressive Antwort auf die Probleme finden, die uns gestellt werden. Das Problem bleibt ja leider aktuell“, so eine der Aktivist_innen.

Eindeutige Distanzierung von ‚Querdenken‘

Trotz der vielfältigen Proteste dominieren seit Monaten Demonstrationen gegen die Maskenpflicht und eine vermeintliche ‚Corona-Diktatur‘ die mediale Berichterstattung. Während die ‚Querdenken‘-Proteste anfangs noch schwer einzuordnen waren, ist mittlerweile ihre rechtsoffene, verschwörungsideologische und antisemitische Tendenz hinlänglich bekannt. Die Lüneburger Aktivist_innen, wie auch die anderen Bündnisse, distanzieren sich eindeutig von ‚Querdenken‘: „Wir sehen nicht, dass diese Krise von Einzelpersonen initiiert ist, um einen Komplott oder eine Verschwörung gegen die Menschheit auszuführen.“ Eine antifaschistische Positionierung und die Abgrenzung von antisemitischen Narrativen sei ihnen besonders wichtig.


Foto: Hanno Hinrichs, Lüneburg

Hanno Hinrichs

Schreibt über Politik, Gesellschaft und Protestkultur

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