Kommentar: Der zweite Schritt vor dem Ersten

Inmitten der dritten Welle soll die Lüneburger Innenstadt wieder geöffnet werden. Das niedersächsische Modellprojekt ist symptomatisch für eine planlose Pandemiepolitik, die wissenschaftlich begründete Forderungen ignoriert. Stattdessen brauchen wir einen umfassenden und solidarischen Shutdown, der nicht nur das Privatleben einschränkt.

Lüneburg und 13 weitere Städte dürfen ab dem 12. April ihre Innenstädte wieder vollständig öffnen. In einem vorerst dreiwöchigen Modellprojekt des Landes Niedersachsen sollen Handel, Gastronomie und Kultureinrichtungen im Stadtzentrum ihren Betrieb wieder aufnehmen können. Dazu werden sogenannte „sichere Zonen“ ausgewiesen, deren Geschäfte ausschließlich mit negativem Testergebnis betreten werden dürfen. Zur Kontaktverfolgung bei Corona-Fällen soll die Luca-App flächendeckend zum Einsatz kommen. Die Hansestadt hat ein umfassendes Strategiekonzept veröffentlicht – dennoch bleiben einige Fragen offen.

Die neuen Regeln gelten ausdrücklich nicht für Betriebe, die bereits vor dem Modellprojekt geöffnet waren. Diese werden zwar gebeten, sich den neuen Konzepten anzuschließen, doch eine rechtliche Bindung existiert nicht. Daher bleibt zu befürchten, dass Drogeriemärkte und andere Geschäfte maßlos überlaufen werden, ohne dass entsprechende Hygienekonzepte vorliegen. Insgesamt wird die Innenstadt deutlich voller sein, wodurch zumindest die Einhaltung von Abstandsregeln erschwert werden kann.
Das Deutsche Roten Kreuz (DRK) und der Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) haben für das Projekt ihre Testkapazitäten deutlich erweitert. Ob sie für eine vollständige Öffnung der Lüneburger Innenstadt ausreichen, ist jedoch schwer abzusehen. Dass die meisten Menschen auf dem Arbeitsplatz noch immer nicht ausreichend getestet werden, gibt hier besonders zu bedenken.

Ein umfangreicher Shutdown ist unerlässlich

Oberbürgermeister Ulrich Mädge (SPD) sieht das Modellprojekt als Möglichkeit, „mit dem Coronavirus zu leben.“ Mit dieser Phrase werden bundesweit Öffnungsbestreben legitimiert, inmitten der dritten Pandemie-Welle. Einschlägige Virolog_innen und Vetreter_innen der NoCovid-Strategie drängen jedoch seit Monaten auf einen konsequenten, aber kurzfristigen Shutdown, um das Virus wieder einzudämmen. Stattdessen ist politisch lediglich ein Inzidenzwert von unter 100 relevant – ein konstruierter Wert, der eine konsequente Rückverfolgung von Ausbrüchen unmöglich macht. Nach demselben Maßstab wurden auch die Modellkommunen in Niedersachsen ausgewählt. Lüneburg hatte bisher zwar noch keine höheren Inzidenzen, jedoch steigen auch hier die Zahlen rapide an.

Eine umfangreiche Teststrategie alleine kann daher keine Lösung für die hohen Fallzahlen sein. Die bekannten Fälle müssen durch die Gesundheitsämter auch lückenlos rekonstruiert werden können. Dafür ist ein umfassender Shutdown unerlässlich, der wie im Sommer Inzidenzwerte von unter 10 erreicht. Das niedersächsische Modellprojekt ist damit vorerst unvereinbar, egal wie ausgefeilt die lokalen Umsetzungsstrategien sind. Öffnungen ohne Niedriginzidenzen sind der zweite Schritt vor dem ersten. Das SCALA-Programmkino beispielsweise hat sich deshalb gegen die Beteiligung an dem Projekt entschieden.

Wir brauchen solidarische Maßnahmen

Die Strategie, „mit dem Coronavirus zu leben“, wirkt angesichts der fast 78.000 Todesopfer sowie der weit verbreiteten Langzeitfolgen von Covid-19 überaus zynisch. Aus Angst um die Wirtschaft wird vor dem Virus kapituliert – doch ist das Hin und Her zwischen Einschränkungen und Öffnungen der letzten Monate das eigentliche wirtschaftliche Verhängnis. Länder wie Australien oder Neuseeland zeigen, dass konsequente wirtschaftliche Einschränkungen langfristig deutlich weniger Schaden anrichten. Dass parallel zu den Öffnungsbestrebungen die weitreichenden Verbote im Privatbereich aufrechterhalten werden, verdeutlicht die politischen Prioritäten der Pandemiebewältigung. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Mädge zur Realisierung des Modellprojektes auch eine Ausgangssperre ins Spiel gebracht hatte. Während im Privatbereich alle kürzer treten müssen, bleibt Arbeiten und Einkaufen erlaubt, um das Wirtschaftssystem nicht komplett kollabieren zu lassen.

Was wir stattdessen brauchen, sind solidarische Maßnahmen. Selbstverständlich müssen Einzelhandel, Gastronomie und besonders Kultureinrichtungen unterstützt werden. Weitreichende staatliche Subventionen sind hierfür unerlässlich. Langfristige Perspektiven können jedoch nur durch eine allumfassende Bekämpfung des Virus geschaffen werden, die nicht nur zu Lasten des Privatlebens geht. Dafür ist jedoch gesellschaftlicher Druck notwendig, der den Protest nicht allein den sogenannten Querdenker_innen überlässt.

 


Foto: Nykonchuk Oleksii, (c) Shutterstock

Hanno Hinrichs

Schreibt über Politik, Gesellschaft und Protestkultur

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