Körper ohne Stimmen

Unter dem Motto „Kein Schlussstrich!“ haben sich in den fünfzehn Städten, in denen der rechtsterroristische Nationalsozialistische Untergrund (NSU) aktiv war, Theater und Institutionen zusammengeschlossen, um vom 21. Oktober bis zum 7. November 2021 die Taten und Hintergründe des NSU künstlerisch zu thematisieren.

Die Selbstenttarnung der rechten Terrorgruppe jährt sich zum zehnten Mal. Die Grünen und die CDU stimmen gegen die Freigabe der NSU-Akten und die Helfer*innen der Terrorgruppe bleiben unidentifiziert. Regelmäßig werden rechte Netzwerke in deutschen Behörden enttarnt, die Anschläge in Hanau und Halle haben sich ins kollektive Gedächtnis gebrannt und trotzdem hat die rassistische Partei AfD bei der Bundestagswahl über 10% der Stimmen für sich gewonnen. In den fünfzehn Städten, in denen der NSU agierte, fand zeitgleich das Theaterprojekt „Kein Schlussstrich!“ statt. In Hamburg kam auf Kampnagel eine Version dieses Projekts auf die Bühne, das sich auch mit der Lebensrealität von Menschen mit Migrationshintergrund auseinandersetzte, die in einem Land leben, das sich gegen eine Aufbereitung seines nationalsozialistischen Erbes wehrt. Dabei wurden unterschiedlichste Darstellungsformen – Trauerfeiern, Performances, Leserunden und Kunstinstallationen – unter einem Dach versammelt. Im Folgenden werden zwei Events genauer betrachtet.

Als Teil des Symposiums WHY WE FIGHT fand am 22.10 ein Panel unter dem Titel „Kunst als widerständige Praxis“ statt, das von sich behauptete, Personen aus migrantischen Hintergründen über ihre Arbeit im Umfeld der Kunst ins Gespräch zu bringen. Doch statt Diskussionen über migrantischen Widerstand in den Künsten anzuregen, drehten sich die Fragen der Moderatorin um Herkunft und klapperten biographische Details ab. Empowerment und Repräsentation sind zweifelsfrei Teil emanzipatorischer Bewegungen, aber reicht diese Art der Repräsentation? Ich kann mich nur hemmungsvoll einer Kritik nähern, die einer Initiative wie „Kein Schlussstrich!“ fehlgeleitete Repräsentationsversuche vorwirft. Besonders wenn man zum 60-jährigen Jubiläum des Anwerbeabkommens zwischen der BRD und der Türkei einen Blick in die braunen Kommentarspalten sozialer Medien wirft und ohne große Überraschung bestätigt bekommt, dass Personen des öffentlichen Lebens, die an diesem Tag ihren Eltern und Großeltern Dank aussprechen, aufs Gröbste rassistisch beleidigt werden, steht es leider außer Frage, dass Menschen mit Migrationshintergrund gezwungen sind, den Platz in der Mitte der Gesellschaft, den sie seit Generationen besetzen, tagtäglich zu verteidigen.

Es ist wichtig, dass Mensch mit Migrationshintergrund Plätze auf öffentlichen Bühnen an sich reißen und nicht mehr loslassen. Aber reicht es, sich auf der Besetzung öffentlicher Räume auszuruhen. Wie notwendig ist es, Professor*innen, Künstler*innen und Aktivist*innen dabei zu beobachten, wie sie sich über ihre Eltern ausfragen und gegenseitig auf die Schultern klopfen? Ich bin mir unsicher, ob es reicht, den Körpern einen repräsentativen Platz auf der Bühne zu bieten oder ob viel mehr deren Stimmen Raum geboten werden sollte? Reduziert diese Nabelschau die Protagonist*innen des Symposiums nicht auf etwas, das wir natürlich mitdenken, nicht aber ausschließlich in den Vordergrund rücken sollten? Es steht außer Frage, dass Kampnagel notwendige Arbeit leistet, wenn es diesen Menschen auf die Bühne hilft. Es steht aber auch außer Frage, dass die Frauen, die dort auf der Bühne versammelt wurden, Nützliches über die Spezifika künstlerischen Widerstands hätten berichten können.

Mit Problemen der Repräsentation hat auch der Film „Der Kuaför aus der Keupstraße“ von Andreas Maus zu kämpfen, der im Rahmen einer Trauerfeier für Attila Özer, einem Todesopfer des NSU, gezeigt wurde. Der Film hat durchaus Stärken, wenn er eine dokumentarische, kommentarlose Perspektive einnimmt. Wichtiger ist die Tatsache, dass der Regisseur Andreas Maus diese Stärken mit seinen künstlerischen Bestrebungen bis in die Bedeutungslosigkeit untergräbt. Besonders wirkungsvoll ist eine Szene, die den ehemaligen Bundespräsidenten Gauck zeigt, wie er im Rahmen des Straßenfests „Birlikte – Zusammenstehen“ die Brüder besucht, deren Friseurgeschäft vom Nagelbombenattentat des NSU unmittelbar betroffen war. Durch eine Dolmetscherin vermittelt, von Securities umzingelt und für die Kameras lügt Gauck den Geschwistern ins Gesicht, er wolle nächstes Mal ganz privat und ohne Übersetzerin vorbeischauen. Unmöglich, ein unangenehmeres Gespräch zu inszenieren.

Im Anschluss an das Festival finden sich die Opfer im Salon wieder und diskutieren über den Stellenwert des Events. Während Abdullah Özkan sich zu Recht darüber beschwert, wie eine Requisite auf Gaucks Bühne der Selbstdarstellung genutzt worden zu sein, betont Salonbesitzer Özcan Yildirim die Bedeutung der Stellungnahme von Stadt und Staat gegen rechten Terror und Diffamierung durch die Polizei, ganz egal wie überfällig und trotz der 12-jährigen Verspätung. In dem so entfachten Streitgespräch finden endlich die relevanten und kontrovers zu diskutierenden Fragen – solche, die mich auch beim Panel auf Kampnagel umhertrieben und deren Antworten keineswegs eindeutig sind – auf die Leinwand. Doch anstatt den Männern Raum für ihre Positionen zu bieten, zieht sich die Kamera langsam vom Gespräch zurück, während die Tonspur ausklingt. Diese Entscheidung wird mir bis in alle Ewigkeit unerklärlich bleiben. Es ist unverständlich, wie man einen Film produzieren kann, der Gauck in einem Moment implizit vorwirft, den Opfern des NSU nur symbolisch und dadurch wirkungslos Gehör zu schenken und ihnen direkt im Anschluss wortwörtlich die Stimme zu nehmen. Hier haben wir dasselbe Problem, wie beim Symposium auf der Kampnagel Bühne. Die Menschen haben es endlich geschafft, sich öffentlichkeitswirksam zu positionieren, was sie zu sagen haben, wird unhörbar gemacht.

Parallel zum dokumentarischen Strang reinszeniert der Film die teilweise achtstündigen Polizeiverhöre, die die Opfer des Attentats über sich ergehen lassen mussten und während welcher sie sich mit Vorwürfen des Versicherungsbetrugs und der Mittäterschaft konfrontiert sahen. Ästhetische Inszenierung per se ist so problematisch wie sie unvermeidbar ist. Das Gefährliche ist viel mehr, dass der Film sich als Korrektiv der Ungerechtigkeit aufspielt und dabei versucht die Niedertracht der verhörenden Beamt*innen zu präsentieren. Die rehäugigen Schauspieler*innen reagieren ängstlich und ratlos, wenn ihnen von den Verhörenden vorgeworfen wird, den Anschlag aus Gründen des Versicherungsbetrugs geplant und durchgeführt zu haben, während die Polizist*innen aus dem Off mit heimtückischem Ton Mittäterschaft unterstellen. Ebenso problematisch ist die Darstellung des leitenden Beamten, der sich nach der Enttarnung des NSU vor einem Untersuchungsausschuss wiederfindet und in Erklärungsnot gerät, wenn er gefragt wird, wie es denn sein kann, dass die Opfer, auch nachdem sie selbst die Vermutung äußerten, der Anschlag könnte rassistisch motiviert sein, als Hauptverdächtige gehandelt wurden. Stammelnd, trottelig, den Fragen ausweichend.

Durch den fehlgeleiteten Versuch ästhetischer Stellungnahme und Solidarisierung verschleiert Maus hier den strukturellen Rassismus, der unsere staatlichen Institutionen durchzieht und mit dem sich nicht nur die Opfer des NSU regelmäßig konfrontiert sehen. Das Problem sind nicht einige wenige erbärmliche Beamt*innen, die im Unglücksfall über migrantische Opferlämmer herfallen, sondern der grundlegende Hang der Mehrheitsgesellschaft zur Assoziation von migrantischen Minderheiten mit Kriminalität. Nur so konnte es passieren, dass die Täter der NSU Attentate über mehr als ein Jahrzehnt hinweg in der „türkischen Türsteherszene“ (was auch immer das sein soll) gesucht wurden und den Opfern der Anschläge eine fiktive kriminelle Verbindung ins Rotlichtmilieu unterstellt wurde, die dann aus der Sicht der Polizei zu Racheaktionen innerhalb der türkischen Gemeinschaft führte. Die erniedrigende Stigmatisierung wird in kurzen Momenten nachvollziehbar gemacht, wenn Atilla Özer erzählt, wie er von der eignen Familie schief angeschaut wurde, als den Opfern rechten Terrors im Anschluss an das Attentat durch Nachrichtenmagazine Verbindungen zu kriminellen Organisationen angelastet wurde. Aber die Aussagen der Opfer werden konsequent durch die Perspektive des Regisseurs verfremdet und an den Rand der Wahrnehmbarkeit getrieben. Andreas Maus nimmt den Opfern also nicht nur wortwörtlich ihre Stimme, sondern verstärkt diese Entmündigung dadurch, dass er ihnen seine eignen Worte in den Mund legt.

Obwohl das für den Film von Andreas Maus zutrifft, darf hier nicht der Eindruck entstehen, das gesamte Theaterprojekt „Kein Schlussstrich!“ sei gescheitert. Weder das gesamte Projekt noch dessen Version auf Kampnagel kann hier abschließend beurteilt werden. Aber in einer Welt, in der Politiker*innen Jahr für Jahr aufs Neue am 4. November die Namen der NSU Opfer auf Twitter teilen, muss uns klar sein, mit welcher Art der Repräsentation wir es zu tun haben. Immer wieder versuchen Würdenträger*innen sich mit der bloßen Nennung von Namen zu profilieren. Die Benennung und Beschäftigung mit institutionalisiertem, strukturellem Rassismus bleiben aus. Beiträge, die auf 280 Zeichen beschränkt sind, eignen sich sowieso nicht, um Diskussionen anzuregen. Eine fortlaufende Auseinandersetzung mit den Schicksalen von Menschen mit Migrationshintergrund wird so nur vorgegaukelt, produktivem Diskurs wird aber ein Schlussstrich gesetzt.


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