Am Nachmittag des 24. Januar 2022 eröffnet ein 18-jähriger Student in einem Hörsaal der Universität Heidelberg das Feuer. Er verletzt vier Menschen und tötet sich dann selbst. Eine 23-jährige Studentin erliegt noch am selben Tag ihren schweren Verletzungen. Ein Femizid?
TW: Gewalt, Mord
Jedes Jahr werden etwa 140 Frauen von ihren Partnern oder Ex-Partnern getötet, so eine Studie aus dem Jahr 2021 der Opferschutzorganisation Weißer Ring. Zu den in einer Partnerschaft oder Ex-Partnerschaft umgebrachten Männer gibt es keine verlässlichen Zahlen. Jedoch machten laut dem Bundeskriminalamt weibliche Opfer häuslicher Partnerschaftsgewalt im Jahr 2020 in Deutschland 80,5% aus, die des männlichen Geschlechts 19,5 %. Demnach sind beide Geschlechter von Gewalt in der Partnerschaft betroffen, jedoch Frauen prozentual deutlich stärker. Im Dezember 2021 äußert sich der Bundesvorsitzende der Hilfsorganisation, Jörg Ziecke, gegenüber der Deutschen Presse-Agentur (dpa) wie folgt:
„Mehr als jeden dritten Tag wird im Durchschnitt in Deutschland eine Frau in einer Partnerschaft getötet“.
Doch war der Heidelberger Student nicht mit einem seiner Opfer in einer Beziehung. Wieso werden nun Stimmen laut, die den Amoklauf als Femizid bezeichnen? Ausschlaggebend dafür sind die Verbindungen des 18-Jährigen zur rechten Szene und der rechten Kleinpartei Dritter Weg. Als Jugendlicher soll der Täter aktiv in der Partei involviert gewesen sein und sich auf einer Parteiliste befinden. Zudem wird auch seine kurz vor der Tat verschickte Nachricht an seinen Vater als Indiz für einen Femizid gelesen. Dabei schreibt er, dass „Leute bestraft werden müssen“. Diese Nachricht lässt viel Spielraum für Spekulationen. Jedoch ist die Rhetorik der Bestrafung charakteristisch für die Incel-Bewegung.
Diese Subinternetkultur ist kennzeichnend durch heterosexuelle cis-Männer, welche partnerlos sind und keine sexuellen Beziehungen haben. Der Begriff incel steht für involuntary celibate, also unfreiwillig zolibatär. Grund dafür, so die Eigenannahme, seien feministische Aktivist*innen, welche die Grundordnung der Geschlechter stören. Incels sind dabei der Meinung, ein Recht auf sexuelle Aktivitäten mit Frauen zu haben. Die Frauenfeindlichkeit wird durch Gewaltfantasien gegen Frauen und Männern, die den Incels laut eigener Aussage die Frauen zu Unrecht wegnehmen, zum Ausdruck gebracht. Einige Szenarien werden dann aus der Fantasie in die Tat umgesetzt. Berühmtestes Beispiel ist der Anschlag in Toronto vom 23. April 2018, bei dem zehn Menschen getötet und dreizehn weitere verletzt wurden. Das Tatmotiv des Täters von Toronto ist dabei klar der Frauenhass, auf Facebook verkündigt er kurz vor der Tat den Beginn der „Incel-Rebellion“. Doch wieso wird so häufig darüber spekultiert, ob eine Tat ein Femizid ist?
Anders als die Tat in Toronto oder Heidelberg erhalten viele klar als Femizide identifzierbare Taten nur wenig mediale Aufmerksamkeit. Zusätzlich verharmlosen Bezeichnungen wie Beziehungstat, Familien- und Ehedrama oder Eifersuchtstragödie die Femizide. Der Verein Gender Equality Media e.V. führte dazu 2020 ein Mediascreening durch. Über 250 Medien und 767 Artikel wurden untersucht und festgestellt, dass 93 Prozent der angeschauten Artikel Gewalt gegen Frauen durch die Begrifflichkeiten als auch die Art der Berichterstattung verharmlosen. Die Eifersucht des Täters wird oft in den Mittelpunkt der Berichterstattung gestellt. Das deklariert Taten zu irrationalen Einzeltaten, obwohl diese einem strukturellen Problem mit großem Ausmaß zugrunde liegen. Die Wiener Agentur Ecker & Partner hat 2021 österreichische Journalist*innen zum Umgang mit Berichterstattungen zu Gewalt an Frauen befragt. Männliche als auch weibliche Journalist*innen geben dabei mit etwa 70% an, dass Gewaltverbrechen an Frauen in den letzten zwei Jahren zugenommen haben. Jedoch sind rund 88% der weiblichen Journalistinnen dafür, mit dem Thema sensibilisierter umzugehen. Dagegen stimmten lediglich 59% der männlichen Journalisten für eine Sensibilisierung. Die Studie zeigt auch, weshalb: Nur 28% der befragten Journalistinnen, aber 46% der Journalisten verneinen die Frage danach, ob sie schon einmal belästigt, diskriminiert oder Opfer eines Gewaltverbrechens geworden sind. Weibliche Journalistinnen verstehen demnach durch die eigene Lebensrealität Gewaltverbrechen an Frauen anders als ihre männlichen Kollegen. Der Gender Gap reicht demnach bis in die Berichterstattung hinein.
Außerdem gaben nur 30% der befragten Journalist*innen an, dass Sensibilisierungsmaßnahmen in ihrer Institution angeboten oder geplant sind, obwohl diese durch die steigenden Zahlen an Gewalttaten an Frauen dringend nötig sind. Eine Einordnung eines klar zu indentifzierenden Femizides wird somit oftmals von der Berichterstattung vernachlässigt. Fälle, in denen die Sachlage unklar ist, sind dadurch noch erschwerter einzuordnen. Außerdem konnten sich diverse Journalist*innen in der Studie nicht äußern oder mussten sich zu einem der beiden Geschlechter (weiblich/männlich) zuordnen.
Doch auch diese sind von Gewalt vermehrt betroffen. Das zeigt das Autor*innenkollektiv Fe.In, welche auch Morde an Männern als Femizide ansieht, welche aufgrund ihres weiblich gelesenen Auftretens getötet werden. Vor allem Incels zielen darauf ab, Gewalt an allen Geschlechtern zu verüben. Das Tatmotiv ist somit nicht geschlechtsneutral, sondern eine vorsätzliche Tötung einer Frau, einer als weiblich gelesenen Person oder eines als männlich gelesenen Mitstreiters und zwar, so schreibt das Kollektiv:
„aufgrund eines angeblichen Verstoßes aus Traditionen und sozialen Normen ergebenden Rollenbildes von Männer und Frauen“.
Den Tätern sprechen wir dabei Kontrollverhalten, Besitzdenken, Dominanz und Machtausübung zu, ordnen diese einer bestimmten Schicht und Nationalität zu. Der junge Student, der gerade am Anfang seiner akademischen Ausbildung stand, passt da nicht in die allgemeine Vorstellung.
Schicht oder Nationalität sind nicht ausschlaggebend für Femizide, so zeigt die Studie der Opferschutzorganisation Weißer Ring. So haben 74 % der Täter eine deutsche Nationalität. Entscheidend, so die Hilfsorganisation, sind viel mehr Wertvorstellungen und Erziehung. Nicht nur die Berichterstattung ist wenig sensibilisiert für die strukturelle Problematik hinter Femiziden, auch juristisch gibt es Unterschiede. 2008 hat das Bundesgerichtshof ein Urteil verfasst, welches eine Strafminderung vorsieht, wenn „die Trennung von dem Tatopfer ausgeht und der Angeklagte durch die Tat sich dessen beraubt, was er eigentlich nicht verlieren will“. Das Urteil geht von einer patriarchalen Besitzkonstruktion aus, denn wie kann ein Mensch je besessen werden? Andersherum berichtet die Strafverteidigerin Christina Clemm davon, dass Frauen, die Männer töten, zumeist mit Mord belastet werden, auch bei vorherigem Missbrauch durch den Getöteten. Aktivist*innen benutzen bei diesem Phänomen den Begriff Testimonal Injustice von Kate Manne. Die Bezeichnung beschreibt den Mechanismus, strukturell bestimmten marginalisierten Gruppen Kompetenz, Wissen und Erfahrungen vor Gericht abzusprechen und ihre Glaubwürdigkeit in Frage zu stellen. Paradoxerweise gehen auch Incels davon aus, den Anspruch auf Frauen zu besitzen und sehen genau darin die Legitimation ihrer Gewaltfantasien und -taten. Anders als bei zahlreich klassischerweise als Femizid angesehenen Delikten sind Taten durch Incels nicht an einen Beziehungsstatus gebunden.
Auch der Heidelberger Student kannte sein Opfer vermutlich nicht oder nur sehr flüchtig – durch eine Aufteilung des Jahrgangs in Kohorten hatten die beiden keine bekannten Begegungspunkte an der Universität. Seine Tat erreichte durch den gewählten Tatort, ein Vorlesungssaal der Universität, die Öffentlichkeit. Viele Femizide passieren jedoch verborgen von der Öffentlichkeit. Ein Studie von Oxfam verzeichnet außerdem ein Anstieg der Gewalt gegen Frauen während der Corona-Pandemie, welche uns regelmäßig zwingt, Kontakte einzuschränken und in den eigenen vier Wänden zu bleiben. Eine sorgfältigere und sensibilisierte Berichterstattung wirft dabei den öffentlichen Blick auf die Thematik und kann zukünftigen Opfern helfen. Die Opferschutzorganisation Weißer Ring weist außerdem darauf hin, dass Behörden bessere Konzepte und Hilfsangebote für Frauen schaffen müssen. Außerdem ist auch die Forschung gefragt: Es gibt kaum Untersuchungen dazu, wann ein Gefährdungspotenzial eines möglichen Täters zu erkennen ist und wie damit behördlich umgegangen werden soll.
Doch ist der Amoklauf an der Universität Heidelberg nun ein Femizid? Beantwortbar ist diese Frage nicht eindeutig. Die Verbindungen zur rechten Szene und die auffällige Rhetorik der Nachricht lassen ein Anfangsverdacht zu. Doch bevor weitere und umfassendere Beweise zu Tage kommen und Zeug*innen berichten, kann kein abschließendes Urteil gefällt werden. Die Diskussion darüber, ob und inwieweit die Tat ein Femizid ist, zeigt jedoch eins: Attentate sind nur die Spitze des Eisberges. Darunter liegt ein vielschichtiges Netz an Gewalttaten, welche vor allem sowieso schon marginalisierte Gruppen, beispielsweise Frauen oder Trans*personen, betrifft. Sensibilisierung, auch in der Berichterstattung, hilft, zu informieren und schützt zukünftige Opfer. Egal auf welcher Stufe des Eisberges.
Weitere Quellen:
AK Fe.In (2019): Frauen*rechte und Frauen*hass. Antifeminismus und die Ethnisierung von Gewalt. Berlin, Verbrecher Verlag.
Bundeskriminalamt (2021): Partnerschaftsgewalt. Kriminalstatistische Auswertung – Berichtsjahr 2020. Wiesbaden.
Clemm, Christina (2020): Akten. Einsicht. Geschichten von Frauen und Gewalt. München, Verlag Antje Kunstmann.
Kracher, Veronika (2020): Incels. Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults. Mainz, Ventil Verlag. Manne, Kate: (2019): Down Girl. The Logic of Misogyny. London, Penguin Books.
Opferschutz Weißer Ring (2021): 139 Frauen im Jahr starben im Jahr 2020 durch die Hand ihres (Ex-)Partners, in Forum Opferhilfe, 44(4), S. 4 – 5.
Oxfam (2021): The Ignored Pandemic. The Dual Crisis of Gender-Based Violence and Covid19. Oxford, Oxfam GB.
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