Die Karikatur eines muslimischen Mannes mit langem Bart und einer Bombe auf dessen Turban wird in einer Zeitung abgedruckt. Reaktionen darauf sind Massenproteste, das Ausbrechen eines Streits zwischen den Völkern, bzw. den Religionen. Die Muslime fühlen sich missverstanden, die Nicht-Muslime beharren auf ihrem Recht, ihre Meinungsfreiheit äußern zu dürfen.
„Über Geschmack kann man nicht streiten, über die Grenzen desselben anscheinend schon.“, schreibt die Berliner Zeitung am 05.02.2006. Aber ist das überhaupt wahr? Wie kann Geschmack an seine Grenzen gelangen, ist er doch nichts weiter als ein willkürliches Urteilen unserer Sinne darüber, was uns tagtäglich begegnet. Kann man dem Geschmack überhaupt eine Grenze setzen? Oder würde man damit nicht einfach den durchschnittlichen Geschmack einer Bevölkerung repräsentieren? Selbst unter dieser Prämisse wäre doch nicht der Geschmack der Deutschen zum Beispiel repräsentiert, sondern das Klischee dessen, wie der Geschmack der Deutschen aus der Perspektive eines anderen Volkes aussehen könnte.
Der Karikaturenstreit 2006 hat heftige Diskussionen ausgelöst, darüber hinaus zeigt er uns aber nach der Sinnlosigkeit des Irak-Krieges, zwischen Diskussionen um Sterbehilfe und menschliches Klonen, Nachhaltigkeitsdebatten und der Frage danach, wie wichtig Bildung nun eigentlich ist, wie zwingend notwendig es ist, zu Urteilen und die dafür notwendigen Maßstäbe zu setzen. Diese scheinen uns schon lange verloren gegangen zu sein, denn das traurige Gerüst, auf dem wir mit demonstrativen Flaggen sitzen um unser Recht zu verteidigen besteht aus nichts weiter als einem Haufen abgewrackter Traditionen, Gewohnheiten, die wir schon jahrzehntelang mit uns herumtragen, stets darauf bedacht, unsere Basis nicht zu zerstören. Verdrängt wird die Tatsache der Hilflosigkeit, unbeachtet, dass die traurigen Ruinen längst ausgedienter Regeln schon lange nicht mehr in ihrer Gültigkeit existieren.
Bei den Urteilen, die wir heute fällen, wenn wir uns mit dem uns Unbekannten oder Unangenehmen anderer Kulturen beschäftigen (zum Beispiel den Ernährungsgewohnheiten oder Erziehungsmethoden), wenden wir eigentlich nur die Regeln unserer Besonderheiten und Gewohnheiten auf die anderer Kulturen an. Und diese Regeln beruhen häufig auf unserem Geschmack: „Das ist so eklig, was die essen!“; „Guck dir mal deren Umgang mit Geld an, das ist wirklich geschmacklos!“. Doch sind dies wirklich Geschmacksurteile? Könnte man dann nicht fast behaupten, der Geschmack wäre eine Urteilsinstanz an sich? Denn wenn unser Geschmack von Natur aus mit sich bringt, dass wir ein Urteil fällen müssen, hätten wir gar keinen bewussten Einfluss darauf. Sind wir also gezwungen, zu urteilen? Und ist jedes Urteil durch unseren Geschmack geprägt?
Fragen über Fragen. Und über dieser ganzen Fragerei habe ich mich gefragt, wieso ich mich eigentlich mit diesem Thema beschäftige. Ist das auch eine reine Geschmackssache? Oder nicht viel eher Interesse? Vielleicht ist unsere Sprachlichkeit aber auch so verworren, dass sich diese Begrifflichkeiten – vermischt mit unserem alltäglichen Gebrauch dessen – nicht mehr klar trennen lassen.
Zurück zum Ausgangspunkt. Die Situation totalitärer Systeme fand Hannah Arendt, jüdische Publizistin und für ihre politische Philosophie bekannte Gelehrte, schon vor, lange bevor es den Karikaturenstreit gab. Für sie von größter Bedeutung ist die Existenz eines pluralistischen Wertesystems, welches sie keineswegs als zu lösendes Problem, sondern als Grundvoraussetzung demokratischer Gesellschaften sieht. Nicht die Tatsache, einen Konsens zu finden, ist vordergründig, sondern die Bereitschaft, Argumente anderer verstehen zu wollen ohne der gleichen Auffassung zu sein.
Allgemeine Urteilsbegriffe in der Gesellschaft
Im Grunde bin ich mir ziemlich sicher, dass unsere gesellschaftliche Definition eines Geschmacksurteils keine solche Urteilsfindung beinhaltet, die eine Legitimation allein durch den Geschmack rechtfertigt. Denn bisher waren Geschmacksurteile in meinem Denken willkürlich, aber auch der Natur, dass ich behaupten würde, Geschmack wäre anerziehbar. Dass ich es zum Beispiel merkwürdig finde, dass Afrikaner lebendige Würmer essen, hat sicherlich sehr viel mit unserer Kultur zu tun und dementsprechend auch mit einer gewissen Form von Erziehung. Dass die Frage des Geschmacks aber keine der Erziehung sein darf, um diesen für die Urteilsfindung zu legitimieren, ist klar, wenn man ein solches Urteil als allgemein gültig erklären will. Andererseits ließe sich auf diese These die Frage erstellen: Können Urteile allgemein gültig sein? Oder ist nicht jedes Urteil durch unseren Geschmack geprägt, der wiederum subjektiven Ursprungs ist und somit niemals für alle spricht.
Im Alltagsgebrauch urteilen wir auf verschiedene Art und Weise. Eine Form des Urteilens ist das Verurteilen, also Etwas oder Jemanden als negativ zu beschreiben oder diesem etwas Negatives zuzuschreiben. Charakteristisch ist die negative Haltung, mit der wir etwas begegnen. Die Begriffe „Verurteilen“ oder „Verurteilter“ haben wir aus dem juristischen Wortschatz übernommen, bei denen hiermit stets eine Person bezeichnet wird, die in irgendeiner Form bestraft wird.
Meistens verbinden wir mit dem Verurteilen auch das Vorurteil, dass uns zwar in gewissen Situationen schützt (wenn wir zum Beispiel nachts einer Gruppe glatzköpfiger Jugendlicher begegnen, werden wir diese wohl kaum nach dem Weg fragen, weil sie mit dem Klischee behaftet sind, leicht Schlägereien anzufangen und ausländerfeindlich zu sein. Die uns bekannten Klischees treffen zwar nie auf alle Repräsentanten einer Gruppe zu, aber wir treffen diese Entscheidung, bzw. fällen dieses Vorurteil um einer potentiellen Gefahr zu entgehen), aber auch verhindert, unseren Blick zu öffnen und diesem Vorurteil mit eigenen Erfahrungen oder ganz ohne Erfahrung entgegenzutreten.
Das Vorurteil definiere ich an dieser Stelle als ein durch die Gesellschaft vorgeprägtes Urteil, ein Klischee, welches uns umso wahrer erscheint, desto häufiger es uns bestätigt wird.
Ein Beispiel: Ich lese morgens in der Zeitung, dass das Eintrittsalter einer Schwangerschaft Jugendlicher in Hamburg bei 12 Jahren liegt. Zum Einen bin ich empört darüber (ohne mir vielleicht sofort bewusst zu machen, dass es im letzten und vorletzten Jahrhundert zum Teil normal war, in diesem Alter ein Kind zu bekommen), zum Anderen denke ich mir, dass diese Jugendliche wahrscheinlich keine richtige Kindheit haben wird (wobei das Wort „richtig“ hierfür zunächst definiert werden müsste) und mir das leid tut. Nun laufe ich die Mönckebergstraße entlang und sehe ein sehr junges Mädchen einen Kinderwagen herumschieben. „Die Arme“, denke ich, „so jung und schon mit den Plagen des Mutterdaseins belastet“. Aber weiß ich, dass hier eine Mutter vor mir steht? Weiß ich, ob es dem Mädchen – unter der Annahme, sie sei Mutter – schlecht geht?
Vorurteile repräsentieren zwar in gewissem Maße die Vorstellungen einer Gesellschaft, tragen aber ungemein dazu bei, ungerecht zu urteilen und falsch über andere zu denken. Wir wenden sie oft an, ohne uns darüber im Klaren zu sein, denn wie mein Beispiel hoffentlich deutlich gemacht hat, nehmen wir solch ein Vorurteil leicht vorschnell in unser Repertoire auf, wenn wir es bestätigt sehen. Und wenn wir dann in eine völlig neue, unbekannte Situation kommen, versuchen wir meist, unsere alten Kategorien darauf anzuwenden. Auf der einen Seite sind wir es nicht anders gewohnt, andererseits sind wir uns aber auch zu bequem oder haben Angst, unser bestehendes Wertungssystem zerbröckeln zu sehen. Hannah Arendt sagt auch, dass ein Vorurteil uns zwar die Orientierung erleichtert, aber der Erkenntnis von Neuem im Weg stehe.
Jetzt sind wir verschiedenen Arten des Urteils begegnet, allerdings ist das Geschmacksurteil noch etwas untergegangen. Das könnte daran liegen, dass der Geschmack rational nicht so leicht zu fassen ist… Im Prinzip ähnelt er einer Art Emotion. Wir haben innerhalb der Gesellschaft sprachliche Kriterien gefunden, die unser Empfinden zum Ausdruck bringen und kommunizieren auch bezüglich dessen. Aber wir können uns niemals sicher sein, dass unser Gegenüber weiß, was wir genau empfinden. Wir können uns innerhalb des sprachlichen Raumes unserer Möglichkeiten artikulieren, aber dass wir damit alles greifen können ist ein fast utopischer Ansatz.
Auf der anderen Seite könnte man meinen, unser Geschmack bestünde aus verschiedenen vorgefertigten Kategorien, die wir während unseres Lebens erfahren und auch innerhalb dieses begrenzten Rahmens agieren und argumentieren.
Während der Suche nach passendem Material bin ich auf das jedem Bekannte Zitat „Über Geschmack lässt sich nicht disputieren.“ von Immanuel Kant gestoßen. Nach einiger Überlegung ist mir klar geworden, dass diese Aussage jeden Sinngehalt verliert, denn gerade über Geschmack lässt sich ja streiten, weil hier Behauptungen über die Allgemeingültigkeit gemacht werden. Anders ist es zum Beispiel beim Angenehmen, das im Prinzip für jeden anders aussehen kann. An dieser Stelle habe ich auch gar nicht den Anspruch, ein Urteil für andere mit zu fällen, denn die Hauptsache ist ja, dass es für mich angenehm ist. Zwar kann ich auch über das Geschmacksurteil nicht urteilen, sondern es nur in Frage stellen, aber bestreiten lässt es sich allemal.
Kann oder vielmehr darf der Geschmack nun das Urteil legitimieren?
Begonnen habe ich mit einem Beispiel für annähernd totalitäre Situationen der Gegenwart, die Notwendigkeit ästhetischer oder politischer Urteile aufzeigen. Das Urteil soll der Orientierung dienen, die innerhalb unserer Zeit von größter Bedeutung ist.
Die Frage ist jetzt, ob ich durch ein Geschmacksurteil wirklich der fehlenden Orientierung abhelfen kann. Jedes Urteil, dass ich fälle, ist in irgendeiner Weise immer durch eine Erfahrung geprägt. Denn genauso wie ich mich selbst nur durch die Reflexion anderer entwickeln und erkennen kann, fließen in mein Handeln – wenn auch unbewusst – immer auch die Züge anderer mit ein. Ein vollkommen losgelöstes Urteilen kann ich mir einfach – trotz vorhandener Einbildungskraft – zwar in der Theorie, nicht aber real vorstellen. Trotzdem sehe ich das Geschmacksurteil als das – wenn auch als utopisch betrachtet – Unverfälschteste aller Urteile an, und dessen Legitimation durch den Geschmack durchaus als gegeben.
„Derjenige Geschmack ist gut, der mit den Regeln übereinstimmt, die von der Vernunft festgesetzt worden sind.“ Johann Christoph Gottsched
Franziska Pohlmann