Jean-Pierre Abrahams „Das weiße Archipel“ erscheint auf Deutsch. Warum ein poetisches und weltabgewandtes Buch über die atlantische Küste und seine Bewohner bestens in diese Zeit passt …
Wer am Meer lebt, entwickelt sein ganz eigenes Vokabular. Vor beinahe zehn Jahren hat der französische Journalist und Schriftsteller Jean-Pierre Abraham über die karge Wüstheit der atlantischen Küste Frankreichs geschrieben. Geboren 1936 in Nantes und 2003 in der Bretagne gestorben, lebte er für einige Zeit als Leuchtturmwärter auf der kleinen bretonischen Insel Ar Men. Dort schrieb er über das Verhalten der Vögel und der Wellen, über Seegang und die handwerkliche Arbeit an der Maschinerie des Leuchtfeuers. Nun erscheint sein zweites Buch „Das weiße Archipel“ in deutscher Übersetzung. Ingeborg Waldinger hat das 96 Seiten starke Journal übersetzt.
Fort Cigogne ist eine der Inseln dieses Archipels, eine ehemalige Festungsinsel aus dem 19. Jahrhundert. Abraham ist dort gewesen und hat seinen Blick über die Insel schweifen lassen und ein literarisches Panorama voller Naturbeschreibungen entworfen. Warum ist so ein Buch wichtig? Abraham schreibt über die Stille, über Gelassenheit und Achtsamkeit. Er skizziert das einfache Leben der einfachen Menschen, deren stille Tage von der Fischerei und dem Wetter bestimmt werden. Fernab von Karrierewillen, Selbstoptimierung und Erfolgsdruck leben diese Menschen im Einklang mit dem Meer, kümmern sich um ihre Boote, ihre Angelausrüstung, ihre Flaggen und Gärten. Und Abraham schreibt über diese Menschen, die ihre Heimat gefunden haben, die in sich selbst ruhen und im Jetzt leben. Manch einer mag ihm schriftstellerische Handlungsarmut vorwerfen. Aber hier geht es um Beobachtungen, um das Zeigen und das Beschreiben. Und eigentlich sind es nicht die Menschen, die im Fokus stehen. Beinahe stehen sie im Abseits. Im Abseits des lärmenden und unübersichtlichen Lebens. Der poetische Fokus liegt auf der Natur und ihren konkreten Ausformungen. Eindringlich und bildmächtig verfasst Abraham sein Journal und versucht sich dabei an der schreibenden Bezwingung ozeanischer Naturkräfte. Sein Blick geht den Dingen auf den Grund, er schaut genau hin. Der Schattenwurf in den Maserungen des feuchten Holzes, die korrekten Namen der Pflanzen und Vögel der Küste, das Leuchtfeuer, wie es sich über das Geschirr eines Tisches legt. Damit gelingt ihm etwas, was heute immer mehr verloren geht: Eine wertschätzende Kartographie des Alltäglichen, der Ruhe des Immergleichen und der Heimat.
Jean-Pierre Abraham – Das weiße Archipel. Übersetzt von Ingeborg Waldinger. 2012, Jung und Jung. 96 Seiten, 15,90 €.
Autor: Matthias Jessen