Filmrolle - (c) Pixabay

Filmkritik: Warum ich Euch nicht in die Augen sehen kann

Erschreckend, faszinierend und berührend – der Dokumentarfilm nimmt uns mit in die Welt von fünf autistischen Jugendlichen.

Einblicke in eine andere Welt

„Beurteilt nicht nur was ich mache, sondern hört Euch an, was ich zu sagen habe“. Der Dokumentarfilm „Warum ich Euch nicht in die Augen sehen kann“ erzählt von fünf jungen Menschen aus verschieden Teilen der Welt und gibt diesen eine Stimme. Alle fünf Protagonist_innen sind Autist_innen und können kaum oder gar nicht sprechen. Sie drücken ihre Gefühle und Erlebnisse auf andere Art und Weise aus, beispielsweise mit Zeichnungen oder einer Alphabettafel. Das Gerüst für den Film liefert das Buch mit dem englischsprachigen Titel „The reason I jump“ von Naoki Higashida, selbst nonverbaler Autist. Higashida hat das Buch mit 13 Jahren verfasst, um auszudrücken, was in seinem Inneren vorgeht.

Auch wenn Naoki Higashida selbst nicht vorkommt, so führt uns ein kleiner Junge, wahrscheinlich Higashida jüngeres Ich, durch den Film. Aus dem Off schildert dazu ein Erzähler die Gedanken, Wahrnehmungen und Gefühlen des jungen Higashida in Form von oft poetischen Zitaten aus dessen Buch. So erklärt er beispielsweise: „Wenn ich springe, kann ich die Fesseln abwerfen, die meinen Körper zu Boden ziehen“. Nicht nur die Zitate machen deutlich, wie anders Autist_innen die Welt wahrnehmen. Hauptaugenmerk des Filmes liegt auf den fünf Protagonist_innen und Einblicken in deren Alltag. In den Filmszenen wird gezeigt, wie sich die Jugendlichen verhalten und auch ohne Wort kommunizieren können. Dabei wird deutlich: das Leben als und mit einem Autist_innen ist nicht einfach. Die Eltern berichten, wie sie zu Anfang nicht wussten wie sie mit ihren autistischen Kindern umgehen sollten oder aber, wie sie in der Öffentlichkeit komisch angeschaut oder auch ausgeschlossen wurden, weil ihr Kind einen emotionalen Ausbruch hatte. Immer wieder zeigt uns die Kameraführung eindrucksvolle Details, die wir in unserem Alltag kaum wahrnehmen, autistische Menschen aber besonders. Auch intensive oder gedämpfte Geräusche werden im Film immer wieder gezielt eingesetzt, um zu verdeutlichen, in welcher Schärfe Autist_innen beispielsweise Sinneserfahrungen wie Regen wahrnehmen.

 

Erschreckend, faszinierend und berührend

Viele würden sicherlich jetzt sagen: „Diese Doku möchte ich mir nicht anschauen. Lieber gehe ich in einen lustigen Film und nicht einen, der so ein ernstes Thema behandelt und zeigt, wie absonderlich sich Menschen mit Autismus verhalten“. Tatsächlich ist der Film nicht gerade eine leichte Kost, vor allem eine Szene in der Joss ein Wutausbruch hat und auf seinen Vater einschlägt, kann Angst machen. Während des Filmes beginnen die Zuschauer_innen jedoch ansatzweise zu verstehen, warum sich die Jugendlichen so verhalten, wie sie sich verhalten. So wird erklärt wie beispielsweise schon einer plötzlich auftauchenden Erinnerung oder ein kleiner Fehler dafür sorgen können, dass die Emotionen in den Jugendlichen hochkochen. Außerdem lerrnen die Zuschauenden, dass die Wiederholung von ein und derselben Tätigkeit Menschen mit Autismus Sicherheit geben kann und die Ungewissheit vor der Zukunft verdrängt.

Doch es werden nicht nur schwierige Situationen gezeigt, sondern auch die schönen Momente eingefangen, welche die Zuschauer_innen emotional berühren und faszinieren. So führen Ben und Emma schon seit Jahren eine innige Freundschaft, ohne auch nur ein Wort miteinander zu sprechen, Amrit drückt ihre Erlebnisse in Form von Gemälden aus und stellt diese sogar in einer Galerie aus, Joss kann sich an kleinste Einzelheiten aus seiner frühesten Kindheit erinnern und Jestinas Eltern errichten in Sierra Leone eine Schule für Kinder mit Autismus, um diesen Bildung zu ermöglichen und der Ablehnung und dem Hass gegenüber Menschen mit Autismus etwas entgegenzusetzen. All das lässt staunen und zeigt auch die schönen Seiten auf, die es mit sich bringt, wenn autistische und nicht-autistische Menschen zusammenkommen. So zitiert die Stimme aus dem Off: „Vielleicht könnte Autismus uns daran erinnern, was wirklich zählt.“

 

Ein erster Schritt

Der Film hilft zu verstehen, was im Inneren von Menschen mit Autismus vorgeht. Das ist hilfreich für alle Menschen, die mit nonverbalen Autisten zusammenleben – insbesondere für die Eltern, erklärt der Übersetzer des Buches von Higashida und selbst Vater eines autistischen Sohns im Film. Aber auch für alle anderen kann der Film ein Augenöffner sein, sich einmal mit einer ganz anderen Sichtweise auf die Welt zu befassen und zumindest die Welt des Autismus ein klein wenig zu verstehen. Der Film bringt näher, dass für Menschen mit Autismus die Normalität ganz anders aussieht. Higashida erklärt: „Wenn ich mich entscheiden könnte, würde ich mich für den Autismus entscheiden. Das ist für mich normal. Eure Normalität kann ich gar nicht verstehen.“

Am Ende des Filmes steht die klare Botschaft, dass nonverbale Autisten Teil der normalen Gesellschaft sein möchten und mitreden wollen. Denn sie haben etwas zu sagen. Dieser ungewöhnliche und lehrreiche Dokumentarfilm könnte ein erster Schritt in diese Richtung sein. Wer also einmal einen anderen Blick auf die Welt erleben möchte und sich schon öfter gefragt hat, was es mit Autismus eigentlich genau auf sich hat, dem kann ich diesen Film nur empfehlen. Ihr solltet allerdings nicht erwarten, nach dem Film Expert_in zu sein – das wird sicherlich nur funktionieren, wenn ihr selbst Menschen mit Autismus trefft und von und mit ihnen lernt.

Tickets und Spielzeiten im Scala und den Trailer findet ihr hier.

 

Titel: Warum ich Euch nicht in die Augen schauen kann

Originaltitel: The reason I jump

Produktion: 2020, USA

Kinostart: 31.03.2022

Genre: Dokumentarfilm

Regie: Jerry Rothwell

Dauer: 92 Minuten


Titelbild: © Pixabay